Skeptiker "I can't breathe!"
Anmeldungsdatum: 14.01.2005 Beiträge: 16834
Wohnort: 129 Goosebumpsville
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(#1352236) Verfasst am: 31.08.2009, 11:44 Titel: OT aus "Modernes Strafrecht" |
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step hat folgendes geschrieben: | Ich habe diesen thread eröffnet, um der Frage nachzugehen, wie das Schuldkonzept im modernen Strafrecht aussieht, angeregt durch einen link, den AP in einem der Determinismus-threads postete. Sorry, das es etwas länger wird, ich hoffe, es interessiert den einen oder anderen.
Ich fasse mal den Hauptgedankengang zusammen und kommentiere:
Burkhardt zeigt zuerst, daß mehr und mehr moderne Strafrechtler von der indeterministischen Deutung der persönlichen Schuld (also der Wählbarkeit von Alternativen) abrücken.
Zitat: | ... bei Hans-Heinrich Jescheck (1998, 65 f.) heißt es, „daß in unserer [Strafrechts-]Wissenschaft wenig Bereitschaft besteht, die Entscheidungsfreiheit des Täters in der Tatsituation als real vorhanden anzunehmen und zur Grundlage des strafrechtlichen Schuldvorwurfs zu machen“. |
- 2001 (!) wurde die Formulierung im Hauptkommentar zum Strafrecht gestrichen, "das geltende Strafrecht könne nur indeterministisch verstanden werden".
Wenn seit 2001 die kompatibilistische Haltung unter deutschen Verfassungs- und Strafrechtstheoretikern vorherrscht, würde mich interesieren, ob das bei Richtern und Staatsanwälten ebenso ist.
Burkhardt kritisiert des weiteren noch, es gebe keine experimentellen Belege für die Behauptung (einiger Hirnforscher usw.), der Begriff der Willensfreiheit im Sinne des „Unter-denselben-physiologischen-Bedingungen-willentlich-andershandeln-Könnens“ herrsche auch alltagspsychologisch vor (dazu später). Andererseits schreibt er selbst wenige Zeilen später: Zitat: | Tatsache ist: Menschen müssen entscheiden, und sie müssen so entscheiden, als ob sie in einem indeterministischen Sinne frei wären. |
Bleibt die Frage, selbst wenn dies tatsächlich die mehrheitliche Meinung unter modernen Strafrechtlern ist, was denn stattdessen seit 2001 die Grundlage des strafrechtlichen Schuldvorwurfs sei. Oder, wie Burkhardt schreibt:
Zitat: | Es bleibt [die] drängende Frage, ob sich die Zufügung eines Strafübels legitimieren läßt, wenn der Täter nicht anders handeln konnte, als er gehandelt hat. Alle kompatibilistischen Schuldkonzepte müssen sich dieser Frage stellen, und sie haben damit erhebliche Schwierigkeiten |
Burkhard schließt sich hier folgendem modernen Schuldkonzept an (Hervorhebung von mir):
Zitat: | Die im Strafrecht vorherrschende Meinung hat den Verzicht auf den Begriff der persönlichen Schuld, den einige Hirnforscher fordern, längst erklärt. Sie hat das persönliche Dafürkönnen (die individuelle Vorwerfbarkeit) durch ein Konzept ersetzt, das als „sozialer (sozialvergleichender, pragmatisch-sozialer, generalisierend-normativer) Schuldbegriff“ bezeichnet wird. Strafrechtliche Schuld bedeutet danach „keineswegs wirkliche Schuld“ (Stratenwerth/Kuhlen 2004, 6), und der strafrechtliche Schuldvorwurf ist dementsprechend kein individualethischer, sondern „nur ein sozialer Tadel wegen
des Zurückbleibens hinter Verhaltensanforderungen, die der freiheitlich verfaßte und daher menschliche Freiheit anerkennende Staat an seine Bürger [...] stellen muß“ (...). Voraussetzung für einen solchen sozialen Tadel sei nicht individuelles Andershandelnkönnen, nicht persönliches Dafür-
Können, sondern „nur die normale Motivierbarkeit durch soziale Normen“ (...). |
Das entspricht ja ziemlich genau dem Zuweisungskonzept ohne persönliche Schuld, das ich hier schon öfter vorgeschlagen habe. Und auch die folgende Formulierung stimmt, wenn sie auch viel ungenauer ist als meine, tendenziell mit meiner hier geäußerten Ansicht überein, die Illusion des Anders-Handeln-Könnens entstehe aus der Erfahrung, daß Andere in ähnlichen Situationen zuweilen anders handeln:
Zitat: | der Täter hätte, in der Situation, in der er sich befand, in dem Sinne anders handeln können, als nach unserer Erfahrung mit gleichliegenden Fällen ein anderer an seiner Stelle bei Anspannung der Willenskraft, die dem Täter möglicherweise gefehlt hat [sic!], unter den konkreten Umständen anders gehandelt hätte“ |
Bleibt allerdings die Frage, wieweit ein solcher nichtpersönlicher "sozialer Tadel" in Strafübelzufügung ausarten darf. Burkhardt selbst erkennt, zitierend:
Zitat: | [Die Befürworter eines sozialen Schuldkonzepts] geh[en] augenscheinlich davon aus, daß sich das geltende Strafrecht auch dann rechtfertigen läßt, wenn es keine persönliche Schuld gibt. Was als Rechtfertigung angeboten wird, ist freilich defizitär. Der soziale Schuldbegriff ist für sich genommen nicht
geeignet, die Legitimationslücke zu schließen, die bei einem Verzicht auf den Begriff der persönlichen Schuld entsteht: Die „normale Motivierbarkeit durch soziale Normen“ ist kein ausreichender Grund für die Zufügung eines Strafübels bzw. für einen wie auch immer ausgedünnten Schuldvorwurf, wenn gleichzeitig zugestanden wird, daß der Täter (möglicherweise) nicht anders handeln konnte, als er gehandelt hat. Und ein Schuldstrafrecht, das die subjektive (!) Zurechnung darauf gründet, daß ein durchschnittlicher Anderer in der Situation des Täters die Tat nicht begangen hätte, verdient seinen Namen nicht (...). |
Dies ist einer der Glanzpunkte des Papiers!
Kommen wir jedoch zur Auflösung des Dilemmas aus Burkhardts Sicht (Hervorhebung von mir):
Zitat: | Strafrechtliche (persönliche) Schuld setzt voraus, daß der Täter seine rechtswidrige Tat im Bewußtsein des Anderskönnens vollzogen hat. Anders ... formuliert: Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, daß er sich nicht rechtmäßig verhalten, daß er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl es ihm aus seiner Sicht möglich war, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden. Der innere Grund des Schuldvorwurfs ist darin zu sehen, daß der Mensch darauf angelegt ist, im Bewußtsein der Freiheit zu handeln und sich als Urheber seiner Entscheidungen zu begreifen. |
Nach dem ersten Lesen bedeutet das für mich, daß Voraussetzung für die Schuldfähigkeit sein soll, daß der Täter nicht wußte, daß er sich die Möglichkeiten nur vorstellte, daß der Täter also dümmer ist als der (moderne) Strafrechtler und der Hirnforscher. Und wenn Burkhardts o.g. Zweifel zutreffen, daß nämlich alltagspsychologisch gar nicht die Meinung vorherrsche, man hätte auch anders handeln können, dann gibt es nur sehr wenige Täter, die dumm genug sind.
Burkhardt verteidigt mit dem Argument, alltagspsychologisch herrsche eben doch die Meinung vor, auch anders gehandelt haben zu können, nur eben nicht auf mikroskopisch-physiologischer Ebene, was also wieder nichts anderes als die kompatibilistische Behauptung ist, die er doch tatsächlich zu 4 (ich würde sagen so gut wie identischen) Punkten aufbläst:
Zitat: | Das Bewußtsein des Anderskönnens hat im wesentlichen vier Aspekte, nämlich: (1) das Erleben von Handlungsfreiheit, (2) das Erleben doxastischer Offenheit (3) das Erleben psychologischer (!) Unterdeterminiertheit und (4) das Gefühl der Autorschaft. Es hat unter keinem dieser Aspekte einen indeterministischen Gehalt. Es kann unter allen diesen Aspekten mit der Wirklichkeit übereinstimmen ... |
Burkhardt plädiert also mit anderen Worten dafür, daß der Täter Kompatibilist zu sein hat, damit man ihn verurteilen kann, und begründet das letztlich damit, daß der normale Mensch sich nun mal frei fühlt, oder wie Burkhardt schreibt, daß
Zitat: | ... bei der Schuldfrage die Innenperspektive des handelnden Subjekts der maßgebliche Beurteilungsgegenstand ist. |
Und wie begründet nun Burkhardt das Strafmaß, das über die Spezialprävention hinausgeht? Die einzige indirekte Einlassung dazu findet sich hier:
Zitat: | Das Schuldprinzip hat die Aufgabe, die staatlichen Strafen so zu begrenzen, daß sie der Täter persönlich als richtig und gerecht empfinden kann (Pawlowski 1999, 280) |
... Und das tut er ja genau dann, wenn er glaubt, daß er selber schuld ist und anders hätte handeln können. Na also!
Alles in allem hat mich einerseits überrascht, wie viele Strafrechtler offensichtlich inzwischen nicht mehr an die Willensfreiheit glauben und Deterministen sind. Es würde mich interesieren, ob das in Frankreich, Rußland oder USA auch so ist. Andererseits enttäuscht mich, daß Burkhardt als Begründung für die Unbeeindrucktheit des Strafrechts letztlich nur wieder die kompatibilistische These anführt, also auf das (bei mikroskopischer Betrachtung als Illusion entlarvte) makroskopische Freiheitsgefühl verweist. |
Letzten Endes sind alle Fachidioten, ob aus der Naturwissenschaft oder aus der Juristerei inkompetent, über dieses Thema zu sprechen.
Skeptiker
Dieser Thread wurde nicht von Skeptiker erstellt, sondern hier abgretrennt, Heizöl.
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