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Kurze Zusammenfassung der Kontroverse über die Ebenen der Selektion

 
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smallie
resistent!?



Anmeldungsdatum: 02.04.2010
Beiträge: 3658

Beitrag(#1803712) Verfasst am: 24.12.2012, 16:08    Titel: Kurze Zusammenfassung der Kontroverse über die Ebenen der Selektion Antworten mit Zitat

TEACH THE CONTROVERSY

Ich sollte sagen, was ich vorhabe. Im Thread, ob Biologen Formeln scheuen, hatte ich angekündigt, etwas über Selektionsmathematik zu schreiben. Damit es nicht zu langweilig wird, werde ich das anhand eines umstrittenen Themas tun: die Evolutionsbiologen sind sich uneinig über die wirksamen Ebenen der Selektion. Diese Kontroverse möchte ich kurz darstellen. Und ein paar Rechenbeispiele geben.

Der Streit dauert an, seit G. C. Williams in den Sechzigern die genzentrische Sicht der Evolution begründete. Prominentester Kritiker der Gruppenselektion war und ist Dawkins. Selbst namhafte Befürworter wie Edward O. Wilson und Stephen J. Gould konnten nichts an der allgemeinen Ablehnung der Gruppenselektion ändern.

Mittlerweile hat Gruppenselektion eine kleine Renaissance erlebt. Manche Autoren kamen zu diesem Schluß:
Zitat:
It has since been shown that kin selection and new group selection are just different ways of conceptualizing the same evolutionary process. They are mathematically identical, and hence are both valid.

West, Griffin, Gardner - Social semantics: altruism, cooperation, mutualism, strong reciprocity and group selection


Diesem Konsens mochten sich aber nicht alle anschließen. 2010 verursachte ein Aufsatz in Nature einigen Wirbel in der einschlägigen Blogosphäre. Die Autoren hatten behauptet: Inclusive fitness theory is a particular mathematical approach that has many limitations. Das war für viele eine ziemliche Häresie - und hat den Autoren einen Vergleich mit unbelehrbaren Kreationisten eingebracht.


Das Thema taugt also auch als Beispiel für die Wege und Umwege, die die wissenschaftliche Methode nimmt.


Es wird ein paar Posts dauern, das Wesentliche darzustellen. Alles in einen Monsterbeitrag zu stellen, erscheint mir wenig unterhaltsam. Deshalb ein Mehrteiler. Ganz am Ende des Threads darf ein Beitrag zur außergewöhnlichen Biographie von George Price nicht fehlen.

Genug der Vorrede. Hier ein Anwendungsfall von Gruppenselektion.



GRUPPENSELEKTIERTE KÄFIGHENNEN

Hacken, Picken, Federnausreißen und Kannibalismus - das ist der Alltag hochgezüchteter Käfighennen.

William M. Muir wandte Gruppenselektion auf Käfighennen an. Das übliche Vorgehen, die produktivsten Hennen zur Fortpflanzung zu wählen, hatte zu hoch aggressiven Züchtungen geführt. Muir wählte käfigweise alle Hennen aus den produktivsten Käfigen zur Fortpflanzung aus. Nach wenigen Generationen verschwand das aggressive Verhalten und die Zahl der gelegten Eier stieg.


Zitat:
Group selection for adaptation to multiple-hen cages: selection program and direct responses.

A selection experiment was initiated with a synthetic line of White Leghorns in 1982 to improve adaptability and well-being of layers in large multiple-bird cages by use of a selection procedure termed "group selection". With this procedure, each sire family was housed as a group in a multiple-bird cage and selected or rejected as a group. An unselected control, with approximately the same number of breeders as the selected line, was maintained for comparison and housed in one-third cages.

Annual percentage mortality of the selected line in multiple-bird cages decreased from 68% in Generation G2 to 8.8% in G6. Percentage mortality in G6 of the selected line in multiple-bird cages was similar to that of the unselected control in one-bird cages (9.1%). Annual days survival improved from 169 to 348 d, eggs per hen per day (EHD) from 52 to 68%, eggs per hen housed from 91 to 237 eggs, and egg mass (EM) from 5.1 to 13.4 kg, whereas annual egg weight remained unchanged.

The dramatic improvement in livability demonstrates that adaptability and well-being of these birds were improved by group selection. The similar survival of the selected line in multiple-bird cages and the control in one-bird cages suggests that break-trimming of the selected line would not further reduce mortalities, which implies that group selection may have eliminated the need to beak-trim. Corresponding improvements in EHD and EM demonstrate that such changes can also be profitable.

The most surprising finding was the rate of which such improvement took place, with the majority of change in survival occurring by the third generation. However, EHD continued to improve at the rate of 4% per generation.

http://www.citeulike.org/group/2740/article/2670146
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smallie
resistent!?



Anmeldungsdatum: 02.04.2010
Beiträge: 3658

Beitrag(#1803716) Verfasst am: 24.12.2012, 16:29    Titel: Antworten mit Zitat

WORUM GEHT ES? WO LIEGT DAS PROBLEM?

Drei Themen tauchen immer wieder auf: staatenbildende Insekten, biologischer Altruismus und Geschlechterverhältnisse. Bereits hat Darwin darüber nachgedacht.


1. Staatenbildende Insekten. Wenn es in der Evolution auf Reproduktion ankommt, warum gibt es Arbeiterameisen, Bienen, etc., die auf ihre Fortpflanzung verzichten?

Zitat:
Origin of Species
Chapter VIII. Instinct - Objections to the theory of natural selection as applied to instincts: neuter and sterile insects

(I) will confine myself to one special difficulty, which at first appeared to me insuperable, and actually fatal to the whole theory. I allude to the neuters or sterile females in insect communities: for these neuters often differ widely in instinct and in structure from both the males and fertile females, and yet, from being sterile, they cannot propagate their kind.

The subject well deserves to be discussed at great length, but I will here take only a single case, that of working or sterile ants. [...] The great difficulty lies in the working ants differing widely from both the males and the fertile females in structure, as in the shape of the thorax, and in being destitute of wings and sometimes of eyes, and in instinct.[...]

This difficulty, though appearing insuperable, is lessened, or, as I believe, disappears, when it is remembered that selection may be applied to the family, as well as to the individual, and may thus gain the desired end.[...]

http://www.classicreader.com/book/107/59/


Darwin spricht von Familie und nimmt damit die Verwandtenselektion vorweg, die 100 Jahre später formuliert wurde.



2. Altruismus und Gruppenselektion

Warum warnt ein Tier seine Herdengenossen, sobald es einen Räuber entdeckt? Durch die Warnung macht es den Räuber auf sich aufmerksam und gefährdet sich selbst. Dies als Beispiel aus der Biologie. Darwin stellt die Frage in einen kulturellen Zusammenhang.

Zitat:
The Descent of Man
Chapter V. On the Development of the Intellectual and Moral Faculties during Primeval and Civilised Times.

[...]

It must not be forgotten that although a high standard of morality gives but a slight or no advantage to each individual man and his children over the other men of the same tribe, yet that an advancement in the standard of morality and in increase in the number of well-endowed men will certainly give an immense advantage to one tribe over another.

There can be no doubt that a tribe including many members who, from possessing in a high degree the spirit of patriotism, fidelity, obedience, courage, and sympathy, were always ready to give aid to each other and to sacrifice themselves for the common good, would be victorious over other tribes; and this would be natural selection.

Aus heutiger Sicht erscheint das etwas bläugig. Aus einer faktischen Überlegenheit über einen anderen "Stamm" läßt sich keine moralische Überlegenheit ableiten. Dann wären die Sieger immer die "Guten".

Sehr schön ist der letzte Satz: "and this would be natural selection."


Egal. Für diesen Thread bedeutend ist: Darwin sieht neben obiger Verwandtenselektion auch die Möglichkeit zur Gruppenselektion, wenn es Fitnessunterschiede zwischen Gruppen gibt. Auch trennt er klar zwischen den Auswirkungen einer Eigenschaft auf die Gruppe und auf das Trägerindividuum.



3. Geschlechterverhältnisse

Zitat:
The Descent of Man
The Proportion of the Sexes in Relation to Natural Selection

I formerly thought that when a tendency to produce the two sexes in equal numbers was advantageous to the species, it would follow from natural selection, but I now see that the whole problem is so intricate that it is safer to leave its solution for the future.


Ich bin immer wieder erstaunt, wie gründlich Darwin über Evolution nachgedacht hat. Offenbar wußte er auch, wann er besser nichts sagt.
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smallie
resistent!?



Anmeldungsdatum: 02.04.2010
Beiträge: 3658

Beitrag(#1803772) Verfasst am: 25.12.2012, 12:15    Titel: Antworten mit Zitat

Der vorzeitige akademische Tod der Gruppenselektion

In den sechziger Jahren fiel Gruppenselektion in Ungnade. "Zum Wohl der Gruppe" war zu einer Standardantwort geworden, die auch in unpassenden Fällen gegeben wurde. Vergleichbar etwa mit der genau so falschen These der "Arterhaltung" von Konrad Lorenz.

George C. Williams Kommentar dazu: If this was evolutionary biology, I wanted to do something else - like car insurance. 1966 schrieb er ein einflußreiches Buch, Adaptation and Natural Selection, das mit dem Unsinn aufräumen sollte.

George Williams entwarf einen Test, um zu sehen, ob Gruppenselektion in der Natur wirklich auftritt. Sollten gruppenselektive "Kräfte" am Werk sein, so sähe man Geschlechterverhältnisse weit jenseits von 1:1.

Die Rechnung dazu geht so:


Code:
GESCHLECHTERVERHÄLTNIS BEI INDIVIDUALSELEKTION


Nehmen wir zwei Mütter A und B. Jede soll 10 Kinder haben.

A gebärt männliche und weibliche Kinder im Verhältnis 1:1
B gebärt männliche und weibliche Kinder im Verhältnis 1:9

A gebiert also 5 Töchter und 5 Söhne.
B gebiert 9 Töchter und 1 Sohn.

Macht 14 Töchter und 6 Söhne insgesamt.
 
In der nächsten Generation soll jede Tochter wieder 10 Kinder haben, macht 140 Kinder insgesamt. Damit hätte ein Sohn im Schnitt 140/6 = 23 Kinder.

Großmutter A hätte 5 * 10 + 5 * 23 = 165 Enkel.
Großmutter B hätte 9 * 10 + 1 * 23 = 113 Enkel.


Großmutter A gewinnt.

Bei Individualselektion pendelt sich das Geschlechterverhältnis bei grob 1:1 ein. R. A. Fisher hat das in den dreißiger Jahren erkannt. Störfaktoren wie geschlechtsabhängige Sterblichkeitsrate können das Verhältnis um wenige Prozente verschieben.


Code:
GESCHLECHTERVERHÄLTNIS BEI GRUPPENSELEKTION


Angenommen, Selektion greift zwischen Gruppen von Müttern. Als Beispiel: ein weiblicher Parasit infiziert einen Wirt und lebt für ein paar Generationen im Wirt, bis die Nachkommenschaft den Wirt auf der Suche nach einem neuen Opfer verläßt.

Weibchen A. 1:1 Geschlechterverhältnis über 3 Generationen:

 1) 5:5 = 10
 2) 25:25 = 50
 3) 125:125 = 250

Weibchen B. 9:1 weiblich/männlich über 3 Generationen:

 1) 9:1 = 10
 2) 81:9 = 90
 3) 729:81 = 810

Großmutter B gewinnt. Weibchen überwiegen im Geschlechterverhältnis.

Williams durchforstete die existierende Literatur, fand nichts das Fall 2 belegt hätte und kam zum Schluß: Gruppenselektion findet nicht statt.

Zitat:
George Williams - Adaptation and Natural Selection 1966

In all well-studied animals of obligate sexuality, such as man, the fruit fly, and farm animals, a sex ratio close to one is apparent at most stages of development in most populations. Close conformity with theory is certainly the rule, and there is no convincing evidence that sex ratios ever behave as biotic adaptations.


Damit war Gruppenselektion als Idee tot. Mehr als tot, sie war anrüchig: There are three ideas that you do not invoke in biology - Lamarckism, the Phlogiston theory, and group selection.


Etwa ein Jahr später veröffentliche William Hamilton einen Aufsatz zu Extraodinary Sex Ratios. Er nutzte seine Idee von inclusive fitness und kin selection - Verwandtenselektion, um Daten wie diese zu erklären:



Tabelle stark gekürzt. Aus: Hamilton - Extraordinary Sex Ratios [PDF]

Zu dem Zeitpunkt verband niemand mehr Hamiltons Fund mit dem Test von Williams. Inclusive fitness erschien als ausreichende Erklärung.




PS:

Hier ein Beispiel für die biologischen Umstände, die zu diesen ungewöhnlichen Geschlechterverhältnissen führen können:

Zitat:
Zitat:
W. D. Hamilton - Extraordinary Sex Ratios

The males . . . usually complete their life cycle, and die, before they are born.


Hamilton’s males are mites—small spiderlike organisms. In Acarophenax tribolii, mothers carry eggs in their bodies until the eggs hatch and the offspring develop. Sons emerge within the mother’s body, mate with sisters, and die. The sisters are then released.

Steven Frank - Foundations of Social Evolution
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Lamarck
Radikaler Konstruktivist



Anmeldungsdatum: 28.03.2004
Beiträge: 2142
Wohnort: Frankfurt am Main

Beitrag(#1803888) Verfasst am: 26.12.2012, 01:51    Titel: Re: Kurze Zusammenfassung der Kontroverse über die Ebenen der Selektion Antworten mit Zitat

Hi smallie!

smallie hat folgendes geschrieben:

Im Thread, ob Biologen Formeln scheuen, hatte ich angekündigt, etwas über Selektionsmathematik zu schreiben.


Echte Biologen scheuen keine Formeln! zwinkern

'Selektionsmathematik' klingt allerdings arg seltsam ... .




smallie hat folgendes geschrieben:

Damit es nicht zu langweilig wird, werde ich das anhand eines umstrittenen Themas tun: die Evolutionsbiologen sind sich uneinig über die wirksamen Ebenen der Selektion.


Schon richtig, aber eigentlich berührt dieser Streit nur ein Scheinproblem.


Es geht hier um das Genom und dessen Schicksal in der Keimbahn und das kleinste Element in diesem Vorgang ist hier das individuelle Genom. Wenn Du diesen Punkt hast, kannst Du dann nach Belieben internale und externale Effekte unterscheiden. Ein Genom ist hier vor dem Hintergrund der Selektion isoliert sowieso nichts, es bedarf eines zugehörigen Individuums, eines Sexualpartners, einer Population, eines Ökosystems, Gaia, ... .

Der Anknüpfungspunkt der Selektion ist jedenfalls ein Abstraktum - aus Gründen formaler Eleganz ist es geboten, die einfachste Form zu wählen. So ist aus Genomsicht nur Externalität zu berücksichtigen. Externalität wiederum lässt sich leicht spieltheoretisch über das Genom behandeln. Als Heranführung an Externalität bietet sich die Frage an, wie ein Genom es schaffen kann, Altruismus zu realisieren. Dies sollte nun für ein wenig Mathematik reichen ... .




smallie hat folgendes geschrieben:

Der Streit dauert an, seit G. C. Williams in den Sechzigern die genzentrische Sicht der Evolution begründete. Prominentester Kritiker der Gruppenselektion war und ist Dawkins. Selbst namhafte Befürworter wie Edward O. Wilson und Stephen J. Gould konnten nichts an der allgemeinen Ablehnung der Gruppenselektion ändern.


Beide Pole sind unzureichend; es ist im Prinzip gleich, ob der Blick auf dem Genom oder der Population liegt. In dem einen Fall ist es dann halt Genomselektion, im anderen Fall Populationsselektion - das Ergebnis ist auf beiden Ebenen gleich. Vermutlich lässt sich dieses Problem der Sichtweise mit dem Systemgedanken lösen.




smallie hat folgendes geschrieben:


Genug der Vorrede. Hier ein Anwendungsfall von Gruppenselektion.



GRUPPENSELEKTIERTE KÄFIGHENNEN

Hacken, Picken, Federnausreißen und Kannibalismus - das ist der Alltag hochgezüchteter Käfighennen.

William M. Muir wandte Gruppenselektion auf Käfighennen an. Das übliche Vorgehen, die produktivsten Hennen zur Fortpflanzung zu wählen, hatte zu hoch aggressiven Züchtungen geführt. Muir wählte käfigweise alle Hennen aus den produktivsten Käfigen zur Fortpflanzung aus. Nach wenigen Generationen verschwand das aggressive Verhalten und die Zahl der gelegten Eier stieg.


Nun die Preisfrage: Warum soll der geschilderte Fall Gruppenselektion sein?

Dies hier ist Neolamprologus brichardi, ein Buntbarsch aus dem Tanganjikasee:









Diese Cichliden beziehen zur Brutpflege ein Revier, in dem die Elterntiere von ihren älteren Jungfischen unterstützt werden. Unter den gegebenen ökologischen Bedingungen bildet also die Strategie 'Sozialverband' Vorteile, die der Gruppe zugute kommen. Bei vielen anderen Cichliden wird der Nachwuchs aus dem Revier verjagt, um nicht nur die eigenen Ressourcen zu schützen, sondern vor allem zu verhindern, dass die nachfolgende Brut der vorhergehenden zum Opfer fällt. Die jüngeren Geschwister nicht zu futtern ist offensichtlich auch eine Form von Altruismus.




Cheers,

Lamarck
_________________
„Nothing in Biology makes sense, except in the light of evolution.” (Theodosius Dobzhansky)

„If you can’t stand algebra, keep out of evolutionary biology.” (John Maynard Smith)

„Computers are to biology what mathematics is to physics.” (Harold Morowitz)
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smallie
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Anmeldungsdatum: 02.04.2010
Beiträge: 3658

Beitrag(#1803928) Verfasst am: 26.12.2012, 15:42    Titel: Re: Kurze Zusammenfassung der Kontroverse über die Ebenen der Selektion Antworten mit Zitat

Lamarck hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Im Thread, ob Biologen Formeln scheuen, hatte ich angekündigt, etwas über Selektionsmathematik zu schreiben.


Echte Biologen scheuen keine Formeln! zwinkern

Zumindest die oben verlinkten Aufsätze sind voll Formeln.

Siehe auch das Zitat von John Maynard Smith in deiner Sig.


Lamarck hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Damit es nicht zu langweilig wird, werde ich das anhand eines umstrittenen Themas tun: die Evolutionsbiologen sind sich uneinig über die wirksamen Ebenen der Selektion.


Schon richtig, aber eigentlich berührt dieser Streit nur ein Scheinproblem.


Es geht hier um das Genom und dessen Schicksal in der Keimbahn und das kleinste Element in diesem Vorgang ist hier das individuelle Genom. Wenn Du diesen Punkt hast, kannst Du dann nach Belieben internale und externale Effekte unterscheiden.

Dazu gleich mehr im nächsten Post.

Lamarck hat folgendes geschrieben:
Ein Genom ist hier vor dem Hintergrund der Selektion isoliert sowieso nichts, es bedarf eines zugehörigen Individuums, eines Sexualpartners, einer Population, eines Ökosystems, Gaia, ... .

Das sehe ich auch so, deshalb wundert mich die alte Ansicht der Genzentriker, das Gen sei die einzig gültige Ebene der Selektion.


Lamarck hat folgendes geschrieben:
Der Anknüpfungspunkt der Selektion ist jedenfalls ein Abstraktum - aus Gründen formaler Eleganz ist es geboten, die einfachste Form zu wählen. So ist aus Genomsicht nur Externalität zu berücksichtigen. Externalität wiederum lässt sich leicht spieltheoretisch über das Genom behandeln. Als Heranführung an Externalität bietet sich die Frage an, wie ein Genom es schaffen kann, Altruismus zu realisieren. Dies sollte nun für ein wenig Mathematik reichen ... .

Das kommt auch noch in Form der Gleichung von Price und wie man damit Hamiltons Regel ableitet.


Lamarck hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Der Streit dauert an, seit G. C. Williams in den Sechzigern die genzentrische Sicht der Evolution begründete. Prominentester Kritiker der Gruppenselektion war und ist Dawkins. Selbst namhafte Befürworter wie Edward O. Wilson und Stephen J. Gould konnten nichts an der allgemeinen Ablehnung der Gruppenselektion ändern.


Beide Pole sind unzureichend; es ist im Prinzip gleich, ob der Blick auf dem Genom oder der Population liegt. In dem einen Fall ist es dann halt Genomselektion, im anderen Fall Populationsselektion - das Ergebnis ist auf beiden Ebenen gleich. Vermutlich lässt sich dieses Problem der Sichtweise mit dem Systemgedanken lösen.

Das Ergebnis mag gleich sein, aber auf welchem Wege läßt sie sich einfacher finden? Je nach Problem mag die eine Sicht günstiger sein oder die andere.

Allerdings ist diese "Synthese" noch nicht akzeptierter Stand. Gerade die Dawkins-Fraktion wehrt sich noch mit Händen und Füßen.


Lamarck hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:


Genug der Vorrede. Hier ein Anwendungsfall von Gruppenselektion.



GRUPPENSELEKTIERTE KÄFIGHENNEN

Hacken, Picken, Federnausreißen und Kannibalismus - das ist der Alltag hochgezüchteter Käfighennen.

William M. Muir wandte Gruppenselektion auf Käfighennen an. Das übliche Vorgehen, die produktivsten Hennen zur Fortpflanzung zu wählen, hatte zu hoch aggressiven Züchtungen geführt. Muir wählte käfigweise alle Hennen aus den produktivsten Käfigen zur Fortpflanzung aus. Nach wenigen Generationen verschwand das aggressive Verhalten und die Zahl der gelegten Eier stieg.


Nun die Preisfrage: Warum soll der geschilderte Fall Gruppenselektion sein?

Nun, mit Individualselektion sind solche Ergebnisse nicht zu erzielen. Hamiltons Regel scheint auch nicht zu greifen, es fehlen die Kosten für das Verhalten der Hennen im Käfig. Kooperation innerhalb des Käfigs ist direkt adaptiv, ohne Umweg über Altruismus.


Lamarck hat folgendes geschrieben:
Dies hier ist Neolamprologus brichardi, ein Buntbarsch aus dem Tanganjikasee:





Diese Cichliden beziehen zur Brutpflege ein Revier, in dem die Elterntiere von ihren älteren Jungfischen unterstützt werden. Unter den gegebenen ökologischen Bedingungen bildet also die Strategie 'Sozialverband' Vorteile, die der Gruppe zugute kommen. Bei vielen anderen Cichliden wird der Nachwuchs aus dem Revier verjagt, um nicht nur die eigenen Ressourcen zu schützen, sondern vor allem zu verhindern, dass die nachfolgende Brut der vorhergehenden zum Opfer fällt. Die jüngeren Geschwister nicht zu futtern ist offensichtlich auch eine Form von Altruismus.

Ein schönes Beispiel für inclusive fitness und kin selection.
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smallie
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Anmeldungsdatum: 02.04.2010
Beiträge: 3658

Beitrag(#1804490) Verfasst am: 29.12.2012, 03:18    Titel: Antworten mit Zitat

Einige erklärungsbedürftige Beispiele für biologischen Altruismus wurden bereits erwähnt. Warnverhalten im Schwarm. Elternhilfeverhalten bei Jungtieren, ebenso die Freßhemmung gegenüber Geschwistern.


Ein weiteres Beispiel:

Eine Amöbe, Dictyostelium discoideum, hat einen interessanten Lebenszyklus. Wenn die Resourcen im bewohnten Gebiet versiegen, dann formt ein Teil der Kolonie einen Stengel, andere werden zu Sporen. Die Zellen im Stengel werden sich nicht reproduzieren.





Verwandtenselektion und inclusive fitness

Warum spielen die Amöben im Stengel da mit? William Hamiltons Antwort war inclusive fitness. Nahe Verwandte tragen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit die selben Gene, wie ich. Helfe ich ihnen, so helfe ich indirekt auch meinen Genen, abhängig vom Grad der Verwandtschaft.

Haldane hatte das in Worten einige Jahre vor Hamilton so beschrieben:

Zitat:
J. B. S. Haldane - Population genetics 1955

What is more interesting, it is only in such small populations that natural selection would favour the spread of genes making for certain kinds of altruistic behaviour.

Let us suppose that you carry a rare gene which affects your behaviour so that you jump into a river and save a child, but you have one chance in ten of being drowned, while I do not possess the gene, and stand on the bank and watch the child drown. If the child is your own child or your brother or sister, there is an even chance that the child will also have the gene, so five such genes will be saved in children for one lost in an adult. If you save a grandchild or nephew the advantage is only two and a half to one. If you only save a first cousin, the effect is very slight. If you try to save your first cousin once removed the population is more likely to lose this valuable gene than to gain it.


Hamilton fand eine mathematische Form dafür. Die Hamiltonsche Regel sagt:

Code:
rB > C

r = genetische Verwandschaft
B = Nutzen (benefit)
C = Kosten (cost)


"Altruistisches" Verhalten kann entstehen, wenn der Fitness-Verlust des Gebers geringerer ist als der Fitness-Gewinn seiner nächsten Verwandten, im Verhältnis zum Grad der Verwandschaft.

Soweit sind sich alle einig. Aber ob und wie sich inclusive fitness auf unverwandte ausdehnen läßt, scheint der Kern der Kontroverse zu sein.


Sehr passend dazu ein Teil von Haldanes Zitat, den ich oben unterschlagen habe. Haldane fährt so fort. Fett von mir:

Zitat:
But on the two occasions when I have pulled possibly drowning people out of the water (at an infinitesimal risk to myself) I had no time to make such calculations. Paleolithic men did not make them.

It is clear that genes making for conduct of this kind would only have a chance of spreading in rather small populations where most of the children were fairly near relatives of the man who risked his life. It is not easy to see how, except in small populations, such genes could have been established. Of course the conditions are even betterin a community such as a beehive or an ants' nest, whose members are all literally brothers and sisters."

http://evolution.gs.washington.edu/cool/haldane1955.html


Nur sein Einschub at an infinitesimal risk to myself bewahrt Haldane davor, sich selbst zu widersprechen. Haldane hat es nicht ausgesprochen, aber zwischen den Zeilen gelesen, scheint er zu sagen: "Ich zog die Leute aus dem Wasser, weil das in meinen Urzeitinstinkten lag, die durch lange Zeiten des Lebens in kleinen Gruppen geprägt wurden."

Hoppla. Jetzt bin ich bei menschlichem Verhalten gelandet. Das wollte ich vorerst vermeiden.



Eine Erklärung für Hilfe zwischen Unverwandten stammt von Trivers.

Trivers "reciprocal altruism"

1971 kam Trivers auf eine Regel, die analog zur Hamiltonschen Regel, "Altruismus" zwischen nicht verwandten Individuem beschreibt.

Code:
wB > C

w = Wahrscheinlichkeit, mit der zwei Individuen wiederholt aufeinander treffen
B = Nutzen (benefit)
C = Kosten (cost)




Gruppenselektion, neuerdings multi level selection

1969 hat George Price eine Formel gefunden, die natürliche Selektion und Variation beschreibt. Er kontaktierte Hamilton und manchte ihn auf ein paar Fehler in Hamiltons Herleitung der kin selection aufmerksam. Hamilton erkannte, daß sich kin selection und inclusive fitnessaus der Gleichung von Price ableiten läßt. Darauf berufen sich die Anhänger der modernen Gruppenselektion. Kin Selection ist als Spezialfall in der Gleichung von Price enthalten.


Im Bild der multi level selection gibt es mehrere Ebenen, an denen die Selektion ansetzen kann:

- Selektion zwischen Genen in einem Individuum.
- Selektion zwischen Individuuen in einer Gruppe.
- Selektion zwischen Gruppen in einer Population.

Zum ersten Punkt: Meiose ist im Regelfall ein "gerechter" Vorgang, bei dem jedes Allel die gleiche Chance auf Übernahme in die Keimzelle hat.

Die Ausnahme fand Sergey Gershenson bereits 1925: ein Beispiel für ein ultraegoistisches Gen, das andere Varianten unterdrückt, um sich zu vermehren, zum Schaden des Trägers. Siehe: Intragenomic Conflict/Meiotic Drive

Die Kooperation einzelner Gene bei der Meiose ist mit Verwandtenselektion im engen Sinne kaum zu erklären, da Gene nicht miteinander verwandt sind. Aus Sicht der Gruppenselektion fällt die Erklärung leicht, denn bereits ein Individum ist eine Gruppe von Genen, die zusammenarbeiten.

Diese Perspektive läßt sich leicht auf die Frage anwenden, warum unverwandte Individuen zusammenarbeiten. Oder gar verschiedene Arten.
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smallie
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Anmeldungsdatum: 02.04.2010
Beiträge: 3658

Beitrag(#1804804) Verfasst am: 30.12.2012, 20:58    Titel: Antworten mit Zitat

Streit unter Altruisten - warum Dawkins anderer Meinung ist

Dawkins ist ein erklärter Gegner der Gruppenselektion. In seinen Worten:


Zitat:
The Selfish Gene 1976

But first I must deal with a particular erroneous explanation for altruism, because it is widely known, and even widely taught in schools.

This explanation is based on the misconception that I have already mentioned, that living creatures evolve to do things 'for the good of the species' or 'for the good of the group'.

[...] a group, such as a species or a population within a species, whose individual members are prepared to sacrifice themselves for the welfare of the group, may be less likely to go extinct than a rival group whose individual members place their own selfish interests first. Therefore the world becomes populated mainly by groups consisting of self-sacrificing individuals.

This is the theory of 'group selection', long assumed to be true by biologists not familiar with the details of evolutionary theory.

Man beachte den charmanten Nebensatz. Mit den Augen rollen Kann man sich eine beiläufigere, boshaftere Ehrenkränkungen vorstellen? zynisches Grinsen

Er fährt fort:

Zitat:
The quick answer of the 'individual selectionist' to the argument just put might go something like this. Even in the group of altruists, there will almost certainly be a dissenting minority who refuse to maky any sacrifice. If there is just one selfish rebel, prepared to exploit the altruism of the rest, then he, by definition, is more likely than they are to survive and have children.

Each of these children will tend to inherit his selfish traits. After several generations of this natural selection, the 'altruistic group' will be over-run by selfish individuals, and will be indistinguishable from the selfish group.


Warum sind die Genome aller zweigeschlechtlichen Lebewesen dann nicht schon längst von ultra-egoistischen Genen überrant worden? Die Antwort ist einfach: Individuen, deren Gene gut zusammenarbeiten, überleben häufiger und vermehren sich öfter.

Und warum ist Dictyostelium discoideum, der oben erwähnte Schleimpilz, nicht schon längst ausgestorben? Warum wurden die altruistischen, den Stiel bauenden Zellen nicht schon längst von ihren egoistischeren Verwandten überrannt? Auch klar: Eine Kolonie, die von "Egoisten" überlaufen wurde und keinen Stiel mehr ausbildet, wird sich nicht recht weit verbreiten.



Vehicles

Dawkins hat das Problem auch erkannt. Er spricht von Vehikeln, mittels derer sich Gene fortpflanzen.

Zitat:
Dawkins - Extended Phenotype

The point here is that we must be clear about the difference between those two distinct kinds of conceptual units, replicators and vehicles... The majority of models ordinarily called 'group selection'... are implicitly treating groups as vehicles.

The end result of the selection discussed is a change in gene frequencies, for example, an increase of 'altruistic genes' at the expense of 'selfish genes'. It is still genes that are regarded as the replicators which actually survive (or fail to survive) as a consequence of the (vehicle) selection process.


So ganz passt das nicht zum alten Credo von Dawkins:


Zitat:
The Selfish Gene

I shall argue that the fundamental unit of selection, and therefore of self-interest, is not the species, nor the group, nor even, strictly, the individual. It is the gene, the unit of heredity.




Kurzer Ausflug in die Klatschspalten der Wissenschaftsgeschichte.

Wilson & Wilson behaupteten in einem Artikel, daß
Zitat:
Both Williams and Dawkins eventually acknowledged their error, but it is still common to find the "gene's-eye view" of evolution presented as a drop-dead argument against group selection.

Evolution - Survival of the selfless [pdf]


Worauf Dawkins antwortet:

Zitat:
Group delusion

David Sloan Wilson's lifelong quest to redefine "group selection" in such a way as to sow maximum confusion - and even to confuse the normally wise and sensible Edward O. Wilson into joining him - is of no more scientific interest than semantic doubletalk ever is.

What goes beyond semantics, however, is his statement (it is safe to assume that E. O. Wilson is blameless) that "Both Williams and Dawkins eventually acknowledged their error..."

[...] as far as I am concerned, the statement is false: not a semantic confusion; not an exaggeration of a half-truth; not a distortion of a quarter-truth; but a total, unmitigated, barefaced lie. Like many scientists, I am delighted to acknowledge occasions when I have changed my mind, but this is not one of them.

D. S. Wilson should apologise. E. O. Wilson, being the gentleman he is, probably will.

http://old.richarddawkins.net/articles/2121



Wilson & Wilson verweisen in ihrer Antwort auf einen weiteren Fehler von Dawkins:

Zitat:
Another error is to suppose that within-group selection poses an insuperable problem for between-group selection. Dawkins has yet to acknowledge this error and we apologise if our article seemed to imply otherwise.


Duell Hihihi
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smallie
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Beitrag(#1806116) Verfasst am: 06.01.2013, 18:11    Titel: Antworten mit Zitat

Jenseits der Verwandtschaft

Der Begriff kin selection stammt von Maynard Smith, gedacht als Gegensatz zu group selection.

Pikanter Weise war Maynard Smith zu der Zeit Gutachter für einen Aufsatz von Hamilton. Wegen Änderungswünschen verzögerte sich das Erscheinen des Aufsatzes um etliche Monate. In der Zwischenzeit erschien ein Brief von Maynard Smith in Nature, in dem er kin selection erstmals erwähnte. Hamilton war wegen der Sache ziemlich angefressen.

Weiter oben habe ich kin selection und inclusive fitness synonym verwendet. Ganz richtig war das nicht.

Hamilton selbst sah das so:

Zitat:
Hamilton - innate social aptitudes of man

Because of the way it was first explained, the approach using inclusive fitness has often been identified with 'kin selection' and presented strictly as an alternative to 'group selection' as a way of establishing altruistic social behaviour by natural selection. But the foregoing discussions shows, that kinship should be considered just one way of getting positiv regression of genotype in the recipient, and that it is this positive regression that is vitally necessary for altruism. Thus the inclusive-fitness concept is more general than 'kin selection'"

www.majorityrights.com/docs/Hamilton75.pdf



Ungewollt hat Maynard Smith mit seinem Begriff kin selection die Diskussion auf eine falsche Fährte gelockt. "Biologische Verwandschaft" ist ein viel zu enger Begriff. Damit kann man die ersten dieser Hierarchien nicht erklären:




Siehe: John Maynard Smith and Eörs Szathmáry - The major evolutionary transitions



Verwandtenselektion im wörtlichen Sinn hat noch einen anderen Haken.

Haldane sagte im obigen Zitat: I didn't have the time to make the calculations. Welch Understatement. In der Praxis wird niemand solche Rechnungen aufstellen, bevor er handelt - im Tierreich naturgemäß erst recht nicht. Stattdessen dürfte für "Berechnung des Verwandschaftsgrades" bei vielen Tierarten eine Heuristik ausreichend sein: Nähe - "die mit mir im Nest sitzen, sind meine Geschwister." Ähnlichkeiten - "wer aussieht wie ich, gehört zu meinem Stamm", Prägung, etc. Das Thema kin recognition wäre einen eigenen Post wert - leider weiß ich nichts darüber.

Steven Frank formuliert diese Bedenken über kinship so:

Zitat:
Genealogy provides an appealing notion of kinship and value. However, Hamilton (1970) showed that kin selection properly values social partners according to statistical measures of genetic similarity that do not necessarily depend on genealogical kinship. This must be so because future consequences are determined only by present similarity, not by the past complexities of genealogy. The current theory of kin selection uses coefficients based on Hamilton’s statistical measure of similarity.

Once one accepts statistical similarity as the proper measure of value, other puzzles arise, which have not been widely discussed. For example, interactions between different species are governed by the same form of statistical association as are interactions within species (Frank 1994a). But it does not make sense to speak of kinship or genetic similarity for interactions between species. Thus the simple notion of a genetic exchange rate in kin selection appears to be part of a wider phenomenon of correlated interaction.

Steven Frank - Foundations of Social Evolution


Ich vermute, Frank dachte an derartiges:


Zitat:
Goodnight - Evolution in metacommunities

Examples of this include lichens that have isidia or soridia, small packets of fungal hyphae and algal cells that are wind dispersed [6], Atta ant queens that carry packets of symbiotic fungi that they use to found their new colony [7], and burying beetles that carry with them phoretic mites

http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3081572/



Charles Goodnights Käfer - Selektion von Artengemeinschaften

Goodnight brachte zwei Arten von Reismehlkäfern, Tribolium castaneum and T. confusum zu Artengemeinschaften zusammen und ließ sie sich vermehren. Schließlich selektierte er aus den Gemeinschaften nach gewissen Kriterien, die nur eine Art betrafen. Diese Auswahl war die Grundlage für die nächste Generation. Nach einer Weile reagierte die selektierte Art auf die Selektionsbedingung. Aber das war nicht alles: auch die andere Art hatte sich verändert. Ersetzte er die koevolvierte Art durch Exemplare aus der Ausgangspopulation, so entfiel auch der selektierte Vorteil der anderen Art.


Zitat:
Experimental Studies of Community Evolution I: The Response to Selection at the Community Level
Charles J. Goodnight


Coevolution generally refers to the process of two or more organisms adapting to each other as a result of individual selection.

Another possibility, however, is that coevolution may result from selection acting directly at the community level. Certain types of multispecies associations, such as lichens, which are a symbiotic association between an alga and a fungus, are examples of simple two species communities that may be units of selection.

The study presented here uses two species communities of Tribolium castaneum and T. confusum in an investigation of selection acting at the community level. Selection at the community level is performed on one trait measured in one species and correlated responses in other traits measured both within species and among species are monitored.

I demonstrate that community selection, defined as the differential survival and or reproduction of communities, can result in significant changes in the phenotype of a community. [...]

Between species correlated responses to selection are of particular interest because they cannot be mediated by pathways of gene action that are internal to an individual, rather they can be mediated only through ecological pathways. In other words, between-species correlated responses to selection suggest that genetically based interactions among individuals are contributing to the response to community selection. These among species ecological pathways of gene action cannot contribute to a response to selection at a lower level; thus community selection may be able to bring about a response to selection that is qualitatively different from the response selection that would occur as a result of selection acting at a lower level.

http://www.jstor.org/discover/10.2307/2409341?uid=3737864&uid=2129&uid=2&uid=70&uid=4&sid=21101468931283
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Katatonia
...the quiet cold of late november



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Beitrag(#1806755) Verfasst am: 09.01.2013, 07:49    Titel: Antworten mit Zitat

@smallie:
Könntest du noch mal das Käfighennenbeispiel erläutern sowie inwiefern das für Gruppenselektion und gegen Individualselektion spricht? Irgendwie bin ich da noch nicht so richtig durchgestiegen...

Und wie antworten Gruppenselektionsbefürworter eigentlich auf das erwähnte (rein?) hypothetische Beispiel, dass sich ein egoistisches Wesen in einer Gruppe voller Selbstaufopferer durchsetzen und seine entsprechenden Gene verbreiten würde?
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smallie
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Beitrag(#1806973) Verfasst am: 10.01.2013, 00:53    Titel: Antworten mit Zitat

Katatonia hat folgendes geschrieben:
Könntest du noch mal das Käfighennenbeispiel erläutern sowie inwiefern das für Gruppenselektion und gegen Individualselektion spricht? Irgendwie bin ich da noch nicht so richtig durchgestiegen...

Muir hatte diesen Versuchsaufbau:


Individualselektion - wähle aus allen Hennen diejenigen mit der höchsten Legeleistung aus. Die ausgewählten Hennen pflanzen sich fort, aus den Nachkommen wird die nächste Generation. Und so weiter...

Gruppenselektion - wähle die Käfige mit der höchsten Legeleistung aus, nimm die Hennen daraus, laß' sie sich fortpflanzen. Aus den Nachkommen wird die nächste Generation, und so weiter.

Wenn sich bei solch einem Versuch unterschiedliche Ergebnisse einstellen, hat die Ebene der Selektion einen Einfluss.


Hmm, sorry, das war jetzt eine schlechte Erklärung, ähnliches habe ich oben schon gesagt. Vielleicht wird's mit folgendem klarer.



Katatonia hat folgendes geschrieben:
Und wie antworten Gruppenselektionsbefürworter eigentlich auf das erwähnte (rein?) hypothetische Beispiel, dass sich ein egoistisches Wesen in einer Gruppe voller Selbstaufopferer durchsetzen und seine entsprechenden Gene verbreiten würde?


Wilson & Wilson haben das so zusammengefasst:

Zitat:
Selfishness beats altruism within groups. Altruistic groups beat selfish groups. Everything else is commentary.

Rethinking the Theoretical Foundation of Sociobiology 2007



Vorraussetzung dafür ist, daß der Nutzen aus "altruistischen" Akten auf die eigene Gruppe bezogen bleibt, sonst erhöht Altruismus nur die Fitness aller auf Kosten der eigenen Fitness.

In Hamiltons Worten:

Zitat:
[...] compared to a non-altruist, the altruist is putting into the next gene pool fewer of his own genes plus a random handful from the poll of the last generation. Obviously his trait is not enriching the population with genes that cause the trait.

[Das ist die herkömmliche Sicht. Es folgt eine algebra-lastige Argumentation, warum es auch anders sein kann.]

Now the model can be made to work. [...] The easiest way to see the basis of generality is to notice that the benfits of altruism do not now fall on a random section of the population and therefore do not simply enlarge the existing gene pool; instead they fall on individuals more likely to be altruists than are random members of the population.

www.majorityrights.com/docs/Hamilton75.pdf


Oder als Graphik dargestellt:



Aus Wilson/Sober, Unto Others



Gegenfrage zur Frage von Katatonia:

Katatonia hat folgendes geschrieben:
Und wie antworten Gruppenselektionsbefürworter eigentlich auf das erwähnte (rein?) hypothetische Beispiel, dass sich ein egoistisches Wesen in einer Gruppe voller Selbstaufopferer durchsetzen und seine entsprechenden Gene verbreiten würde?


Wie antwortet die Dawkins-Fraktion auf die These, daß man per kin selection locker mal sieben Cousins umbringen kann, wenn man nur ein Kind mehr durchbringt? Warum setzen sich keine Varianten durch, die neun Cousins verspeisen, um zwei Kinder mehr durchzubringen?

Tatsächlich zeigt sich in Laborversuchen diese Tendenz zu Kannibalismus, wenn nach geringer Gruppengröße selektiert wird. Den Beleg bleibe ich für heute schuldig.
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Katatonia
...the quiet cold of late november



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Beitrag(#1806995) Verfasst am: 10.01.2013, 06:32    Titel: Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:
Katatonia hat folgendes geschrieben:
Könntest du noch mal das Käfighennenbeispiel erläutern sowie inwiefern das für Gruppenselektion und gegen Individualselektion spricht? Irgendwie bin ich da noch nicht so richtig durchgestiegen...

Muir hatte diesen Versuchsaufbau:


Individualselektion - wähle aus allen Hennen diejenigen mit der höchsten Legeleistung aus. Die ausgewählten Hennen pflanzen sich fort, aus den Nachkommen wird die nächste Generation. Und so weiter...

Gruppenselektion - wähle die Käfige mit der höchsten Legeleistung aus, nimm die Hennen daraus, laß' sie sich fortpflanzen. Aus den Nachkommen wird die nächste Generation, und so weiter.

Wenn sich bei solch einem Versuch unterschiedliche Ergebnisse einstellen, hat die Ebene der Selektion einen Einfluss.


Hmm, sorry, das war jetzt eine schlechte Erklärung, ähnliches habe ich oben schon gesagt. Vielleicht wird's mit folgendem klarer.



Katatonia hat folgendes geschrieben:
Und wie antworten Gruppenselektionsbefürworter eigentlich auf das erwähnte (rein?) hypothetische Beispiel, dass sich ein egoistisches Wesen in einer Gruppe voller Selbstaufopferer durchsetzen und seine entsprechenden Gene verbreiten würde?


Wilson & Wilson haben das so zusammengefasst:

Zitat:
Selfishness beats altruism within groups. Altruistic groups beat selfish groups. Everything else is commentary.

Rethinking the Theoretical Foundation of Sociobiology 2007


Könnte man das nicht so auffassen, dass altruistische Gruppen ein Mittel zum Zweck für (die in diesem Rahmen dann deswegen selbst altruistischen) Individuen darstellen?
Und die Verwandtschaft zu Mitgliedern der eigenen Gruppe ist wohl gewöhnlich höher als die zu Mitgliedern anderer Gruppen.


Zitat:
Gegenfrage zur Frage von Katatonia:

Katatonia hat folgendes geschrieben:
Und wie antworten Gruppenselektionsbefürworter eigentlich auf das erwähnte (rein?) hypothetische Beispiel, dass sich ein egoistisches Wesen in einer Gruppe voller Selbstaufopferer durchsetzen und seine entsprechenden Gene verbreiten würde?


Wie antwortet die Dawkins-Fraktion auf die These, daß man per kin selection locker mal sieben Cousins umbringen kann, wenn man nur ein Kind mehr durchbringt? Warum setzen sich keine Varianten durch, die neun Cousins verspeisen, um zwei Kinder mehr durchzubringen?


Weiß nicht. Smilie

Aber mal spontane Überlegungen:
Zum einen richtet sich das Verhalten eines Individuums in diesen Zusammenhängen auch nach dem eigenen Marktwert. Wenn dieser gering ist, ist es zur Verbreitung eigener Gene möglicherweise sinnvoll, den Nachwuchs von Verwandten zu fördern, anstatt selbst Anstrengungen in Richtung direkter Fortpflanzung zu unternehmen. Ist er hoch, liegt die Investition in eigene Nachkommen nahe.
Zum anderen kommt es unter normalen Bedingungen wohl nicht sonderlich gut bei den Eltern der Cousins an, wenn diese vom betreffenden Individuum allesamt umgebracht würden. Die Eltern werden ihren Nachwuchs natürlich mit Zähnen und Klauen verteidigen, was aus ihrer "genegoistischen" Perspektive völlig plausibel ist. Denn was wären mehrere direkte Nachkommen im Vergleich zu einem entfernt Verwandten? Hier läge dann ein Konflikt vor, und die Frage ist, ob sich eine solche Auseinandersetzung, ein solches Himmelfahrtskommando für das besagte Individuum überhaupt lohnen würde.
Zudem wäre eine derartige Aktion nur sinnvoll, wenn man durch die Cousins Kosten hätte und stark an ihrer Aufzucht beteiligt wäre; oder wenn man in den Genuss von Investitionen anderer in den eigenen Nachwuchs käme, die es bei Vorhandensein der Cousins sonst nicht gäbe. Doch dies beides ist wohl eher selten der Fall.
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smallie
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Beitrag(#1807551) Verfasst am: 13.01.2013, 00:37    Titel: Antworten mit Zitat

Katatonia hat folgendes geschrieben:
Könnte man das nicht so auffassen, dass altruistische Gruppen ein Mittel zum Zweck für (die in diesem Rahmen dann deswegen selbst altruistischen) Individuen darstellen?

Das kann man genau so auffassen.

Auf die Gefahr hin, daß der eine oder andere sagt: "Maximierung des Gesamtnutzens" sei etwas völlig anderes als Altruismus im landläufigen Sinn.


Katatonia hat folgendes geschrieben:
Und die Verwandtschaft zu Mitgliedern der eigenen Gruppe ist wohl gewöhnlich höher als die zu Mitgliedern anderer Gruppen.

Wolfsrudel fallen mir als Beispiel ein, für eine Gruppe hoher Verwandschaft, die aus dem Elternpaar und Jahrgängen von Nachkommen bestehen.

Ein Gegenbeispiel ist der Gemeine Vampir, aka, the Vampire Bat. Diese Fledermausart lebt in Gruppen geringer Verwandtschaft. Trotzdem hat sich kooperatives Verhalten entwickelt.


Zitat:
Gemeiner Vampir - Sozialverhalten

Gemeine Vampire haben ein hoch entwickeltes Sozialverhalten. Dazu gehört die gegenseitige Fellpflege, ein unter Fledermäusen eher unübliches Verhalten, außerdem teilen sie sich mit ihren hungrigen Artgenossen häufig ihre Nahrung, indem sie sie hochwürgen und die anderen damit füttern.

Ein Gemeiner Vampir stirbt, wenn er in zwei oder drei aufeinanderfolgenden Nächten keine Nahrung zu sich nimmt. Zwischen 7 und 30 % der Tiere einer Gruppe scheitern jedoch in einer Nacht bei ihrer Nahrungssuche, sei es wegen Krankheit, Verletzung, Geburt oder simpler Erfolglosigkeit. Aufgrund des dringenden Blutbedarfes und der Schwierigkeiten, Opfer zu finden, spielt das Heraufwürgen und Teilen der Nahrung eine wichtige Rolle im Leben der Gemeinen Vampire. [...] Das Blutteilen der Gemeinen Vampire ist ein Beispiel dafür. Schätzungen zufolge gewinnt ein hungriges Tier durch eine Nahrungsspende 18 Stunden bis zum Hungertod, während der Spender nur rund 6 Stunden verliert. In Summe profitiert also jedes Tier von diesem Verhalten.

http://de.wikipedia.org/wiki/Gemeiner_Vampir



Gerald Wilkinson hat Verwandtschaftsgrad, Häufigkeit gegenseitiger Fellpflege und Spendeverhalten vor 30 Jahren zum ersten Mal untersucht. Damals gab er eine Verwandtschaft von 0,11 an. Weiter behauptet er, daß die Häufigkeit der Fellpflege etwa genau so stark wirke auf das Spendeverhalten wie Verwandtschaft. Wilkinson - Reciprocal food sharing in the vampire bat 1984 (PDF)


Jüngst hat Wilkinson neue Zahlen vorgelegt. Das Ergebnis fiel etwas anders aus: je mehr Nahrung eine Fledermaus gespendet bekam, desto mehr Nahrung wird sie spenden, unabhängig vom Grad der Verwandtschaft.

Zitat:
Carter & Wilkinson - Food sharing in vampire bats: reciprocal help predicts donations more than relatedness or harassment 2013

Over a 2 year period, we individually fasted 20 vampire bats (Desmodus rotundus) and induced food sharing on 48 days. Surprisingly, donors initiated food sharing more often than recipients, which is inconsistent with harassment. Food received was the best predictor of food given across dyads, and 8.5 times more important than relatedness. Sixty-four per cent of sharing dyads were unrelated, approaching the 67 per cent expected if nepotism was absent. Consistent with social bonding, the food-sharing network was consistent and correlated with mutual allogrooming.



Together with past work, these findings support the hypothesis that food sharing in vampire bats provides mutual direct fitness benefits, and is not explained solely by kin selection or harassment.


http://www.life.umd.edu/faculty/wilkinson/Carter&Wilk_PRSB13.pdf




Katatonia hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Gegenfrage zur Frage von Katatonia:

Wie antwortet die Dawkins-Fraktion auf die These, daß man per kin selection locker mal sieben Cousins umbringen kann, wenn man nur ein Kind mehr durchbringt? Warum setzen sich keine Varianten durch, die neun Cousins verspeisen, um zwei Kinder mehr durchzubringen?


Weiß nicht. Smilie

Aber mal spontane Überlegungen:



Katatonia hat folgendes geschrieben:
Zum einen richtet sich das Verhalten eines Individuums in diesen Zusammenhängen auch nach dem eigenen Marktwert. Wenn dieser gering ist, ist es zur Verbreitung eigener Gene möglicherweise sinnvoll, den Nachwuchs von Verwandten zu fördern, anstatt selbst Anstrengungen in Richtung direkter Fortpflanzung zu unternehmen. Ist er hoch, liegt die Investition in eigene Nachkommen nahe.

Das trifft es ganz gut.

Katatonia hat folgendes geschrieben:
Zum anderen kommt es unter normalen Bedingungen wohl nicht sonderlich gut bei den Eltern der Cousins an, wenn diese vom betreffenden Individuum allesamt umgebracht würden. Die Eltern werden ihren Nachwuchs natürlich mit Zähnen und Klauen verteidigen, was aus ihrer "genegoistischen" Perspektive völlig plausibel ist.

Aus unserer Säugetierperspektive mag das richtig sein. Ein Frosch hingegen würde eher sagen: "Warum soll ich meinen Nachwuchs mit Zähnen und Klauen verteidigen? Mehr Eier legen ist die bessere Strategie."

Wie gehen eigentlich Löwenmütter damit um, wenn der neue Pascha ihre Kinder tötet? Ich vermute, der Neue macht das heimlich, um nicht die von Katatonia erwähnten Zähne und Klauen zu spüren zu bekommen. Gibt es dazu Beobachtungen?


Katatonia hat folgendes geschrieben:
Zudem wäre eine derartige Aktion nur sinnvoll, wenn man durch die Cousins Kosten hätte und stark an ihrer Aufzucht beteiligt wäre; oder wenn man in den Genuss von Investitionen anderer in den eigenen Nachwuchs käme, die es bei Vorhandensein der Cousins sonst nicht gäbe. Doch dies beides ist wohl eher selten der Fall.

Stichwort: queen worker conflict und worker policing: Bei Ameisen und Bienen werden die Nachkommen von Arbeitern meist von anderen Arbeitern aufgefressen oder getötet.

Meh. Es gibt noch nicht mal deutsche Wiki-Einträge für diese Stichworte.
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Katatonia
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Beiträge: 826

Beitrag(#1807560) Verfasst am: 13.01.2013, 06:23    Titel: Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:
Katatonia hat folgendes geschrieben:
Könnte man das nicht so auffassen, dass altruistische Gruppen ein Mittel zum Zweck für (die in diesem Rahmen dann deswegen selbst altruistischen) Individuen darstellen?

Das kann man genau so auffassen.


Was die Individualselektion wiederum schwer oder gar unwiderlegbar machen würde?


smallie hat folgendes geschrieben:
Katatonia hat folgendes geschrieben:
Und die Verwandtschaft zu Mitgliedern der eigenen Gruppe ist wohl gewöhnlich höher als die zu Mitgliedern anderer Gruppen.

Wolfsrudel fallen mir als Beispiel ein, für eine Gruppe hoher Verwandschaft, die aus dem Elternpaar und Jahrgängen von Nachkommen bestehen.

Ein Gegenbeispiel ist der Gemeine Vampir, aka, the Vampire Bat. Diese Fledermausart lebt in Gruppen geringer Verwandtschaft. Trotzdem hat sich kooperatives Verhalten entwickelt.


Was sich als reziproker Altruismus ebenfalls wieder mit Individualselektion in Einklang bringen ließe.
(Ich hatte vor einiger Zeit mal aufgeschnappt, die Ergebnisse seien veraltet und Verwandtenselektion in Wirklichkeit die beste Erklärung für das Verhalten jener Fledermäuse - aber der von dir angeführte Artikel ist ja sehr aktuell.)


smallie hat folgendes geschrieben:
Katatonia hat folgendes geschrieben:
Zum anderen kommt es unter normalen Bedingungen wohl nicht sonderlich gut bei den Eltern der Cousins an, wenn diese vom betreffenden Individuum allesamt umgebracht würden. Die Eltern werden ihren Nachwuchs natürlich mit Zähnen und Klauen verteidigen, was aus ihrer "genegoistischen" Perspektive völlig plausibel ist.

Aus unserer Säugetierperspektive mag das richtig sein. Ein Frosch hingegen würde eher sagen: "Warum soll ich meinen Nachwuchs mit Zähnen und Klauen verteidigen? Mehr Eier legen ist die bessere Strategie."


Ja, aber bei Lebewesen, bei denen es eher um die Quantität der Nachkommen geht, stellt sich der "Cousin-Konfliktfall" so nicht. Dort gibt es weder ausgiebige Investitionen in den eigenen Nachwuchs noch in den von Verwandten.

smallie hat folgendes geschrieben:
Wie gehen eigentlich Löwenmütter damit um, wenn der neue Pascha ihre Kinder tötet? Ich vermute, der Neue macht das heimlich, um nicht die von Katatonia erwähnten Zähne und Klauen zu spüren zu bekommen. Gibt es dazu Beobachtungen?


Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine, das geschieht tatsächlich nicht zwingend heimlich. Der Widerstand der Mütter ist wohl eher gering und folgende "Kalkulation" steckt vermutlich dahinter: Das Männchen wird sich in dieser Angelegenheit ohnehin durchsetzen und zudem das Rudel von nun an übernehmen; in diesem Zusammenhang ist neuer Nachwuchs zu erwarten - und dies ist besser als keiner.
Aber wie gesagt, da bin ich mir keinesfalls sicher.
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El Schwalmo
Atheistischer Agnostiker



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Beitrag(#1807669) Verfasst am: 13.01.2013, 21:34    Titel: Antworten mit Zitat

Katatonia hat folgendes geschrieben:
Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine, das geschieht tatsächlich nicht zwingend heimlich. Der Widerstand der Mütter ist wohl eher gering

yepp. Es ist einfacher, wieder schwanger zu werden, als das Junge ständig zu verteidigen.

Katatonia hat folgendes geschrieben:
und folgende "Kalkulation" steckt vermutlich dahinter: Das Männchen wird sich in dieser Angelegenheit ohnehin durchsetzen und zudem das Rudel von nun an übernehmen; in diesem Zusammenhang ist neuer Nachwuchs zu erwarten - und dies ist besser als keiner.

Genau. Auch im nächsten Kind stecken wieder 50 Prozent der eigenen Gene. Klar, eine Schwangerschaft etc. war umsonst, aber das kleinere Übel.

Es geht noch einen Tick weiter. Löwenrudel werden oft von mehreren Männchen übernommen. Wenn die Weibchen (deren Zyklus sich oft synchronisiert), 'heiß' werden, ist Rudelbumsen angesagt. Die Männchen machen dann oft geduldig eine Reihe auf und warten, bis sie dran kommen. Pro Zeugung müssen viele Kopulationen erfolgen, eine einzelne hat daher keinen hohen Wert, warum deshalb drängeln? Dass die Weibchen mit allen Männchen Verkehr haben, ist sinnvoll: kein Männchen weiß dann, wer der Vater ist. Es macht daher keinen Sinn, die nächsten Neugeborenen zu töten, es könnten ja eigene Kinder sein.
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Ein seliges und unvergängliches Wesen (die Gottheit) trägt weder selbst Mühsal, noch belädt es ein anderes Wesen damit. Darum kennt es weder Zorn noch Wohlwollen. Dergleichen gibt es nur bei einem schwachen Wesen. (Epikur)

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smallie
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Beiträge: 3658

Beitrag(#1808102) Verfasst am: 16.01.2013, 08:40    Titel: Antworten mit Zitat

Katatonia hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Katatonia hat folgendes geschrieben:
Könnte man das nicht so auffassen, dass altruistische Gruppen ein Mittel zum Zweck für (die in diesem Rahmen dann deswegen selbst altruistischen) Individuen darstellen?

Das kann man genau so auffassen.


Was die Individualselektion wiederum schwer oder gar unwiderlegbar machen würde?

Kommt drauf an, wie weit du Individualselektion fassen willst. Unwiderlegbar wäre eine Individualselektion, die soweit gefasst ist, daß auch Fitnessanteile enthalten sind, die etwa aus der kin group stammen oder aus verschiedenen reziprok-altruistischen Gruppen, denen ein Individuum angehört. Etc. pp.

Das ist natürlich absichtlich so formuliert, daß Gruppe = Korrelation zwischen Individuen durch die Hintertür wieder hereinkommt. Pfeifen


Katatonia hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Katatonia hat folgendes geschrieben:
Und die Verwandtschaft zu Mitgliedern der eigenen Gruppe ist wohl gewöhnlich höher als die zu Mitgliedern anderer Gruppen.

Wolfsrudel fallen mir als Beispiel ein, für eine Gruppe hoher Verwandschaft, die aus dem Elternpaar und Jahrgängen von Nachkommen bestehen.

Ein Gegenbeispiel ist der Gemeine Vampir, aka, the Vampire Bat. Diese Fledermausart lebt in Gruppen geringer Verwandtschaft. Trotzdem hat sich kooperatives Verhalten entwickelt.


Was sich als reziproker Altruismus ebenfalls wieder mit Individualselektion in Einklang bringen ließe.

Richtig. Manche Autoren versuchen, reziproken Altruismus als Fall von direkter Kooperation darzustellen. Ganz unten ein ausführliches Zitat dazu.

Allerdings unterschlägt diese Formulierung, daß sich die jeweilige Population in "Gruppen" von kooperierenden und nicht kooperierenden Individuen aufteilen läßt.


Katatonia hat folgendes geschrieben:
(Ich hatte vor einiger Zeit mal aufgeschnappt, die Ergebnisse seien veraltet und Verwandtenselektion in Wirklichkeit die beste Erklärung für das Verhalten jener Fledermäuse - aber der von dir angeführte Artikel ist ja sehr aktuell.)

Tja, das ist die Kontroverse, von der im Threadtitel die Rede ist. zwinkern

Diese Tabelle von West, Mouden und Gardner stellt Erklärungen, die auf Gruppenselektion basieren und Gegenerklärungen, die auf kin selection basieren gegeneinander und illustriert damit die Kontroverse sehr schön:
Zitat:



http://www.zoo.ox.ac.uk/group/west/pdf/WestElMoudenGardner_11.pdf



Katatonia hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Katatonia hat folgendes geschrieben:
Zum anderen kommt es unter normalen Bedingungen wohl nicht sonderlich gut bei den Eltern der Cousins an, wenn diese vom betreffenden Individuum allesamt umgebracht würden. Die Eltern werden ihren Nachwuchs natürlich mit Zähnen und Klauen verteidigen, was aus ihrer "genegoistischen" Perspektive völlig plausibel ist.

Aus unserer Säugetierperspektive mag das richtig sein. Ein Frosch hingegen würde eher sagen: "Warum soll ich meinen Nachwuchs mit Zähnen und Klauen verteidigen? Mehr Eier legen ist die bessere Strategie."


Ja, aber bei Lebewesen, bei denen es eher um die Quantität der Nachkommen geht, stellt sich der "Cousin-Konfliktfall" so nicht. Dort gibt es weder ausgiebige Investitionen in den eigenen Nachwuchs noch in den von Verwandten.

Stimmt erst mal. Falls sich die zahlreichen Nachkommen ausreichend weit verbreiten, um nicht gegeneinander konkurrieren zu müssen.

Bleiben aber alle Nachkommen im selben Nest oder im selben Revier sitzen, dann gäbe es früher oder später auch "Cousin-Konfliktfälle".



Hier die angekündigte Gegenmeinung zum reziproken Altruismus. Die Autoren behaupten, daß reziproker Altruismus nur bei Menschen ein Rolle spielt; im Tierreich ließe sich das besser durch By-product benefits und durch Enforcement erklären. Hab' meine Kommentare farbig markiert.

Zitat:
Sixteen common misconceptions about the evolution of cooperation in humans
Stuart A. West, Claire El Mouden, Andy Gardner 2011

5.2. Direct fitness benefits

The evolution of cooperation does not only depend upon kin selection and indirect fitness benefits—cooperation can also provide a direct fitness benefit to the cooperating individual (Trivers, 1971). In this case, cooperation is mutually beneficial, not altruistic, and hence would be favoured by “self interested” or “selfish” agents.


Soweit in Ordnung für mich. Eine einzelne "Transaktion" in einem sozialen Austausch mag altruistisch sein, wenn jemand in Vorleistung geht - der "Spieler" könnte auf einen cheater treffen. Wiederholte "Transaktionen" mit oft gleichen Partnern, gut, kann man kooperativ nennen. Die Frage ist, woher man weiß, ob die Partner ihr kooperatives Verhalten auch in Zukunft fortsetzen.


By-product benefits

A more complicated example, where the benefits can be in the future, rather than immediate, is if cooperation leads to an increase in group size, which increases the fitness of everyone in the group, including the individual who performs the cooperative behaviour. This process, termed group augmentation, has been argued to be important in many cooperatively breeding vertebrates, such as meerkats, where a larger group size can provide a benefit to all the members of the group through an increase in survival, foraging success and the likelihood of winning conflicts with other groups.


Wow. An anderer Stelle im selben Artikel äußern sich die Autoren kritisch zur Gruppenselektion. Zitat: "The reason that most evolutionary biologists, both theoretical and empirical, do not use the group selection approach is simply that it is less useful, and if they express negative views, it is because it has generated more confusion than insight." Gleichzeitig sprechen sie von group augmentation. So schafft man Verwirrung.


Even classic text book examples such as blood sharing in vampire bates (Wilkinson, 1984) can be explained more simply without the need for reciprocity by mechanisms such as by-product benefit (Clutton-Brock, 2009). Overall, after 40 years of enthusiasm, there is a lack of a clear example of reciprocity in a non-human species, and so, it is clearly not a major force outside of humans.

Reciprocity? Das war doch ein Schlüsselbegriff bei Axelrod. Axelrod hat das Gefangenen-Dilemma per Computersimulation nachvollzogen. Die erfolgreichen Strategien waren "reziprok": auf Kooperation des Mitspielers antworteten sie ebenfalls mit Kooperation. Was in einer Simulation funktioniert ist offensichtlich eine major force outside of humans


Enforcement

In contrast, there is increasing empirical support for a range of other mechanisms that enforce cooperation (see supplementary material). These other possibilities have been termed punishment, policing, sanctions, partner switching and partner choice. Empirical examples include dominant female meerkats evicting subordinates that try to breed, Superb Fairy Wrens punishing subordinates that don't help, cleaner fish clients punishing and avoid cleaners who take a bite of their tissue, soybeans cutting off the supply of oxygen to rhizobia bacteria that fail to supply them with Nitrogen, a range of pollinator mutualisms where the plants abort overexploited flowers, and the policing of worker laid eggs in the social insects.

Das sind interessante Beispiele, egal welchen theoretischen Hintergrund man anlegt.

http://www.zoo.ox.ac.uk/group/west/pdf/WestElMoudenGardner_11.pdf


Zuletzt bearbeitet von smallie am 16.01.2013, 12:54, insgesamt einmal bearbeitet
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smallie
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Anmeldungsdatum: 02.04.2010
Beiträge: 3658

Beitrag(#1808126) Verfasst am: 16.01.2013, 12:02    Titel: Antworten mit Zitat

El Schwalmo hat folgendes geschrieben:
Katatonia hat folgendes geschrieben:
Ich bin mir nicht sicher, aber ich meine, das geschieht tatsächlich nicht zwingend heimlich. Der Widerstand der Mütter ist wohl eher gering

yepp. Es ist einfacher, wieder schwanger zu werden, als das Junge ständig zu verteidigen.

Ich wäre überrascht, wenn es zur Infantizid-Strategie der Männchen nicht auch eine Gegenstrategie der Weibchen gäbe.

Mit ein bisschen googlen findet sich sowas:


Zitat:
Maternal grouping as a defense against infanticide by males: evidence from field playback experiments on African lions
Jon GrinnellM'c and Karen McComb 1996

Females with cubs may be able to minimize the risk of attracting alien males by roaring as part of a female chorus. Male subjects were more reluctant to approach females roaring in a chorus of three than females roaring alone. There is evidence from long-term data on the study populations
that females in groups of two or more are better able to successfully repulse alien males than are single females (Packer et al., 1990). Furthermore, as females with cubs are more likely to associate in groups (see introduction), groups will be more likely to contain the females that have the greatest incentive to attack alien males. The greater reluctance of extrapride males to approach female choruses is likely to reflect the increased risk of injury associated with approaching female groups as compared to single females.

http://www.cbs.umn.edu/sites/default/files/public/downloads/Maternal_Grouping_as_a_Defense_against_Infanticide.pdf



Oder auch:

Zitat:
Infanticide by Male Lions Hypothesis: A Fallacy Influencing Research into Human Behavior
Anne Innis Dagg 1998

To investigate the sexual selection hypothesis of infanticide for lions, four questions should be considered: (1) because they all mate freely with lionesses, are male pride lions closely related? (often they are not), (2) do males kill the young cubs when they join a pride? (few such cases have been observed), (3) do the females then mate with the new males to produce offspring? (yes), and (4) do the males remain with the pride for over two years to protect this new generation? (often not). Field data indicate that in NO instance do we know that male lions killed cubs in a new pride, mated with their mother, and then remained with the pride to protect their own young. Rather, female lions may kill more cubs than males and certainly cause many more cub deaths by allowing them to starve.

http://www.jstor.org/discover/10.2307/681818?uid=3737864&uid=2129&uid=2&uid=70&uid=4&sid=21101537652813


Den zweiten Link kann ich nicht beurteilen. Der erste scheint mir naheligend.
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