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Meinung Wahn Gesellschaft

 
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zelig
Kultürlich



Anmeldungsdatum: 31.03.2004
Beiträge: 25404

Beitrag(#2064701) Verfasst am: 13.08.2016, 17:21    Titel: Meinung Wahn Gesellschaft Antworten mit Zitat

Ein paar Zitate aus einem lesenswerten Essay von Gustav Seibt in der SZ

Zitat:
Neuerdings gibt es in den sozialen Medien einen verbreiteten Typus des journalistischen Postings, das auf einzelne Fakten hinweist, mit der Absicht, bestimmte Meinungen zu belegen. Jeder, der auf Facebook und Twitter unterwegs ist, kennt es: Da gibt es beispielsweise Kollegen, die sich zu News-Aggregatoren für Übergriffe von Flüchtlingen machen und mit einem lustig gemeinten Hashtag (#wirschaffendas) gleich das fabula docet mitliefern.

Wer darauf achtet, sich in einer nicht allzu homogenen Filterblase aufzuhalten, sieht selbstverständlich auch die konkurrierenden Meldungsaggregate der anderen Seite: Dort werden feinsäuberlich Angriffe auf Flüchtlingsheime und Fremde gesammelt, und auch hier springen mehr oder weniger deutliche Ver- allgemeinerungen heraus, zwischen#Rassismus tötet oder #Sachsen mal wieder #Nazi-Land.

[...]

Diese tristen Beispiele werfen ein Licht auf die Dialektik von Meinungen und Tatsachen, von Lügen und Faktenchecks, die seit einigen Jahren die öffentlichen Debatten der demokratischen Gesellschaften vergiftet und die auch den diffus verbreiteten Verdacht gegen die "Lügenpresse" trägt (SZ vom 2. August).

Bleiben wir bei den Fakten. Diese beweisen, auch wenn sie im Einzelnen unbezweifelbar zutreffend sind, für sich wenig. Verbrechen einzelner Täter und Tätergruppen gewinnen nur im Rahmen einer allgemeinen Kriminalitätsstatistik Aussagekraft. Auch lassen genauere Unterscheidungen viele Unterstellungen fragwürdig erscheinen: Es ist für die Beurteilung eben nicht gleichgültig, ob frauenfeindliche Übergriffe von Flüchtlingen oder schon länger ortsansässigen Migranten begangen werden, von Afghanen oder Syrern, und was der Unterscheidungen mehr sind.

[...]

Kurzum, wer isolierte Fakten heraussucht und verbreitet, der verbreitet nicht einfach nur Fakten, sondern Meinungen und Emotionen, selbst wenn es sich um viele und gesicherte Fakten handelt. Daran ändert auch die Überlegung nichts, dass es unter den Bedingungen einer unfreien, gelenkten oder einseitigen Presse sinnvoll sein kann, krudes Tatsachenmaterial erst einmal zu sichern, zusammenzutragen und zu dokumentieren, als Grundlage für umfassendere Analysen.

Die Austauschbarkeit von Fakten und Meinungen aber könnte der wahre Grund dafür sein, warum die verbreiteten "Faktenchecks" immer weniger verfangen. Im Grunde weiß das Publikum, dass isolierte Tatsachen nichts beweisen, selbst wenn sie wahr sind. Und wenn sie nicht wahr sind, gibt es andere, die an die Stelle der widerlegten Fakten treten können. So wird aus dem Streit um Tatsachen ein sinnloser Stellungskrieg.

Die argumentative Belanglosigkeit von isolierten Fakten spiegelt sich in der umgekehrten Tendenz, Meinungen zu Tatsachen zu erklären. Wenn ein Faktencheck nicht ins eigene Meinungsbild passt, wird eben dieser selbst bezweifelt und am Ende zu einem Produkt der "Lügenpresse" erklärt. Dieses Wort ist längst zum Begriff eines universalen Zweifels geworden, der sich gegen Tatsachen überhaupt abdichtet, weil er in alle Richtungen gedreht werden kann.

[...]

Das wechselseitige Bombardement mit Fakten, Gegenfakten und Faktenchecks verrät nicht nur einen fragwürdigen Wirklichkeitsbegriff, es ist vor allem ein Symptom für großes Misstrauen. Dazu kommen die technischen Möglichkeiten durch die neuen elektronischen Medien, in denen jeder sich seine weltanschauliche Umgebung passgenau auf den eigenen Meinungsleib schneidern kann. Wer Russia Today den öffentlich-rechtlichen "Mainstream-Medien" vorzieht, bezieht nicht bloß "andere Informationen", er hat oft ein anderes Weltbild.

Vor über fünfzig Jahren, lange vor den neuen Medien, hat der Philosoph Theodor W. Adorno diese fatalen Kreisläufe zwischen Meinungen und Wirklichkeiten in einem klassischen Essay mit dem sprechenden Titel "Meinung Wahn Gesellschaft" visionär analysiert. Ohne Meinungsfreiheit kommt die bürgerliche Gesellschaft nicht aus, daran hält Adorno fest. Aber Meinungen haben eben auch die Tendenz, zu Glaubensbekenntnissen, ja Wahnsystemen zu werden. Umgekehrt deckt die Meinungsfreiheit selbstverständlich auch die Möglichkeit, triftige Argumente, die einem nicht passen, als bloße "Ansichtssachen" zu entwerten.

[...]

Nie war Information so leicht verfügbar wie heute, und nie war sie so wertlos. Der zunächst nicht für möglich gehaltene Aufstieg von Donald Trump, der Erfolg der Brexit-Kampagne nicht trotz, sondern wegen ihrer offensichtlichen Verlogenheit sind ein Menetekel. Daran haben wir Bürger der digitalen Welt alle unseren Anteil.


http://www.sueddeutsche.de/kultur/meinung-im-netz-soziale-medien-jeder-schnitzt-sich-sein-weltbild-zurecht-1.3118885
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