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Evolution: Anpassung an Umwelt ein Trugschluss?

 
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Spock
lebt noch



Anmeldungsdatum: 17.07.2003
Beiträge: 4185
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Beitrag(#79467) Verfasst am: 22.01.2004, 14:14    Titel: Evolution: Anpassung an Umwelt ein Trugschluss? Antworten mit Zitat

Ich bin heute auf eine interessante Theorie gestoßen, nämlich auf die, dass sich das Leben nicht an die Natur anpasst, sondern ihm nur von ihr Möglichkeiten vorgegeben werden. Ein Bauplan bietet mehr Möglichkeiten, als nur die, wofür er offensichtlich entworfen wurde. So kann man ja auch mit einer Zange notfalls einen Nagel einschlagen, wohingegen man damit wohl kaum ein Brett zersägen kann, aber bedeutet das nun, dass die Zange an das Nägel einschlagen besser angepasst ist, als an das Bretter zersägen?

Dass Mollusken die Luft nicht als operationales Lokomotionssubstrat nutzen liegt offensichtlich nicht an den Eigenschaften der Luft, denn die meisten anderen Tierstämme haben fliegende Formen entwickelt. Es muss also an deren grundlegenden Konstruktion liegen und nicht an der Luft selbst. Außerdem lässt sich aus keiner Lufteigenschaft
Zitat:
auf die speziellen Konstruktionsprinzipien des Flugkörpers schließen, geschweige denn die Frage beantworten, ob ein Hubschrauber, ein Propellerflugzeug oder ein Jet, eine Schwebfliege, eine Fledermaus oder ein Kondor an die aerodynamischen Eigenschaften der Luft besser angepasst ist.

Quelle: Bernd Herkner "Über die evolutionäre Entstehung des tetrapoden Lokomotionsapparates der Landwirbeltiere - Ein konstruktionsmorohologisches Transformationsmodell auf evolutionstheoretischer Grundlage", CAROLINEA, Beiheft 13, Staatliches Museum für Naturkunde Karlsruhe
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step
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Anmeldungsdatum: 17.07.2003
Beiträge: 22767
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Beitrag(#79475) Verfasst am: 22.01.2004, 14:29    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Spock,

Wenn ich das richtig verstehe, ist es nichts Neues, sondern unter dem Begriff Exaptationen bekannt. Im Gegensatz zu Adaptionen (Anpassungen) sind Exaptationen die Ausnutzung zufällig entstandener Eigenschaften für neue Anwendungen.

Soweit mir bekannt, spielt dies in der modernen Evolutionstheorie, auch im Rahmen der Diskussion über unverstandene "makroevolutive" Phänomene, eine wesentliche Rolle.

Thomas Waschke kann da sicherlich mehr zu sagen, diskutiert er doch über dieses Spezialgebiet seit Jahren ...

gruß/step
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El Schwalmo
Atheistischer Agnostiker



Anmeldungsdatum: 06.11.2003
Beiträge: 9070

Beitrag(#79500) Verfasst am: 22.01.2004, 16:23    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Step,

step hat folgendes geschrieben:
Wenn ich das richtig verstehe, ist es nichts Neues, sondern unter dem Begriff Exaptationen bekannt. Im Gegensatz zu Adaptionen (Anpassungen) sind Exaptationen die Ausnutzung zufällig entstandener Eigenschaften für neue Anwendungen.


das sehe ich nicht so. Wenn ich es richtig interpretiere, hat Spock aber einen ganz anderen Punkt angesprochen, nämlich die sogenannten 'constraints'. Das bedeutet, dass ein Bauplan der möglichen Entwicklung eines Organismen sozusagen einen 'Rahmen' vorgibt, den er nicht sprengen kann. Das ist eigentlich das Gegenteil von Exaptation, denn es handelt sich hier nicht um eine Möglichkeit, die, wenn ein bestimmter Umwelteinfluss auftritt, Chancen eröffnet, sondern eher das Verhindern derselben. Organismen sind eben keine plastischen Gebilde, die die Umwelt beliebig formen kann. Sehr anschaulich hat das schon Galton vor über 100 Jahren mit seinem Polyeder-Modell ausgedrückt:

Galton, F. (1889) 'Natural Inheritance' London, MacMillan

Darwinismus wäre ein Spiel auf einem Billard-Tisch mit gefurchter Oberfläche. Die Kugel ist rund und würde so laufen, wie die Oberfläche vorgibt.

Nach Galton ist die Kugel ein Polyeder und kann nur von Fläche zu Fläche fallen. Die 'Umwelt' kann sich nicht durchsetzen, wenn das Polyeder nicht passend kippt.

Step hat folgendes geschrieben:
Soweit mir bekannt, spielt dies in der modernen Evolutionstheorie, auch im Rahmen der Diskussion über unverstandene "makroevolutive" Phänomene, eine wesentliche Rolle.


Jein. Das ist noch ein wenig komplexer. Im 'klassischen' Darwinismus geht man von einer Evolution aus, die _umweltgesteuert_ in _kleinen_ Schritten erfolgt, von denen _jeder_ selektionspositiv ist. Nur so ist es möglich, dass die Selektion 'schöpferisch' wirken kann. Schon der Gedanke an Exaptationen ist eine 'Abschwächung', weil ja die relevante Struktur nicht mehr durch den Umwelteinfluss _gestaltet_ wurde. Letztendlich läuft das dann wieder auf die belächelten 'Zwei-Phasen-Lehren' hinaus: es gibt _zwei_ wesensverschiedene Phasen in der Evolution, in der _nur_ die zweite durch die Umweltselektion gesteuert wird. Das ist im _krassen_ Widerspruch zu Darwins Selektionstheorie, die ja gerade davon ausging, dass es nur _einen_ einheitlichen Evolutionsmechanismus gibt.

Menschen wie Dawkins betonen, nicht ohne Recht, dass mit der Aufgabe des einheitlichen Mechanismus gerade das passiert, was Darwin erreicht hatte: Schöpfungslehren widerlegt. Denn wenn der eigentlich kreative Aspekt der Evolution, die _Entstehung_ von Neuheiten, nicht mehr durch die Externselektion erfolgt, ist eine _durchgehende_ mechanismische Erklärung der Evolution nicht mehr möglich.

Falls Dich Exaptationen solltest Du den klassischen Artikel lesen, in dem dieser Begriff eingeführt wurde:

Gould, S.J.; Vrba, E.S. (1982) 'Exaptation - a missing term in the science of form' Paleobiol. 8:4-15

Wer an erster Stelle stand (das ist üblicherweise der Mensch, der die Hauptarbeit gemacht hat) wurde durch Los bestimmt. Vrba besuchte Gould, als der gerade nach seiner Krebserkrankung eine Chemotherapie durchmachte und während des Gesprächs immer wieder aufs Klo rannte. Vrba bewunderte sehr, wie ein Mensch in diesem Zustand überhaupt noch einen klaren Gedanken fassen kann.

Bekannt sind derartige Strukturen auch unter dem Namen 'Spandrels', benannt nach einem ebenso berühmt / berüchtigten Artikel von Gould und Lewontin:

Gould, S.J.; Lewontin, R.C. (1979) 'The spandrels of San Marco and the Panglossian paradigma: a critique of the adaptationist programme' Proc. R. Soc. Lond. B, Biol. Sci. 205:581-598

Grüßle

Thomas
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blueSky
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Anmeldungsdatum: 22.08.2003
Beiträge: 52

Beitrag(#79540) Verfasst am: 22.01.2004, 18:08    Titel: Antworten mit Zitat

Kenn mich nicht so gut aus mit Evolutionstheorien. Aber dieses posting wollte ich irgendwann mal schreiben. Ein bisschen umgemodelt schick ich es ab.

Für mich sind die biologischen Vorgänge, die zu den einzelnen Spezies geführt haben, nicht rein zufällig. Es sind bei uns (wie ja auch ähnlich hier schon geschrieben) gewisse Rahmenbedingungen vorgegeben, wie Sonnenenergie und die chemischen Eigenschaft der Materie auf der Erde. Also da sind Kräfte am wirken und nicht der reine Zufall, würde ich da sagen, die das Leben in eine gewisse Richtung zwingt (was ich ja auch teilweise in diesem Thread raus lese).

Dazu ein einfaches Experiment, wie ein Kraftfeld den Zufall eines Würfels teilweise eliminiert: Dieser ist aus Plastik, mit der Ausnahme, dass die Drei (also die drei Punkte) aus Eisen ist. Man lege nun ein Magnetfeld unterhalb des Tisches [oder auch oberhalb] an, auf dem gewürfelt wird. Die vorgenommenen Würfe sind nicht gleich verteilt, es wird häufiger (wenn auch unmerklich) die vier [oder die drei] als die anderen Zahlen vorkommen, weil die drei (die gegenüberliegende Seite) ein wenig angezogen wird.

Analog zu dem Würfelexperiment sehe ich in dem Wirken der Sonnenenergie auf die vorgegebene Erdoberfläche, eine gewisse Zielgerichtetheit, die aber von den Lebewesen (und den Menschen zwinkern) aufgrund der Komplexität selbst nicht erkennbar wird. Also der Ausdruck dieser sich auf der Erde angesammelten Energien manifestiert sich auch in "konstruierte" (aber nicht durch einen Schöpfer) Lebewesen, wenn SEHR komplexe Materie diese anreichern kann (IMO). Das es auf der Erde nicht zu heiß ist, damit sich überhaupt stabile chemische Konstrukte (Lebewesen) bilden können, ist natürlich eine notwendige Bedingung für sich hoch entwickelnde biologische Einheiten. 

Und das so eine Spezies wie der Mensch irgendwann entstehen musste, ist für mich klar. Der Mensch hat den Daten, sprich den Umweltbedingungen, ein großes Programm entgegen zu setzen. Unter Programm verstehe ich die Software im Gehirn, die sehr flexibel auf die Anforderungen der Umwelt reagieren kann und die auf der Erde angereicherten Energien so besser anzapfen kann. Er ist eben zur Zeit der beste Energieverwerter. Nebenbei: Das Programm scheint schon überhand zu nehmen, da er die Ressourcen ziemlich gnadenlos ausbeutet und die anderen Lebewesen verdrängt.

Fazit für mich: Nicht der reine Zufall mit dem probieren, ob eine Eigenschaft überlebensnotwendig ist, sondern schon eine gewisse durch die besagten Energiekräfte vorgegebene Zielgerichtetheit, läuft bei der Entwicklung der Bildung von Spezies ab. Das ist meine Vorstellung, die wohl nicht konform geht, mit der üblichen wissenschaftlichen Evolutionstheorie. Aber wie ich hier lese, gibt es offensichtlich doch auch Theorien, die in der Vorauswahl der evolutionären Vorgänge nicht nur auf den Zufall setzen, sondern irgendwie in "Bahnen" denken.
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step
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Beitrag(#79555) Verfasst am: 22.01.2004, 19:15    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Thomas,

mir leuchtet ein, daß man zwischen constraints und Exaptationen unterscheiden muß.

Nicht so ganz verständlich ist mir, wieso die Evolution nicht vollständig mechanistisch erklärbar sein sollte, nur weil nicht alles durch kontinuierliche Selektion geschieht.

Meine (zugegeben nicht fachstudierte) Vorstellung ging bisher dahin, daß die Selektion zwar immer wirkt, aber deshalb das exaptative Entstehen von neuer Funktionalität (z.B. Fliegen) nicht unbedingt immer kurzfristig von der Selektion dominiert wird. Letztendlich kann man mE alle angesprochenen Vorgänge als Constraints der Natur ansehen, die sich nur in ihrer dominanten Wirkung unterscheiden, aber jeweils langfristig scheinbar "angepaßte" Arten hervorbringen.

- Die Naturconstraints verhindern bestimmte Mutationen
- Die Naturconstraints selektieren mögliche Mutationen hart in einer engen Nische
- Die Naturconstraints erlauben interessantere Mutationen in einer weniger engen Nische
- Die Naturconstraints erlauben exaptative Weiterverwendung und damit eine veränderte Nische

gruß/step
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El Schwalmo
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Anmeldungsdatum: 06.11.2003
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Beitrag(#79566) Verfasst am: 22.01.2004, 19:56    Titel: Antworten mit Zitat

Hi step,

step hat folgendes geschrieben:
Nicht so ganz verständlich ist mir, wieso die Evolution nicht vollständig mechanistisch erklärbar sein sollte, nur weil nicht alles durch kontinuierliche Selektion geschieht.


nun, _wenn_ Du weißt, dass es nur Zufallsvariation gibt, aus der dann durch Selektion die passenden ausgelesen werden, hast Du Du alles erklärt. Auf der einen Seite die Anpassung (nur die Tauglichsten überleben), auf der anderen Seite die Höherentwicklung (wenn das lange Zeit so abläuft, kann alles das entstehen, was wir finden).

Wenn man zusätzliche Faktoren einführt, spielt der Zufall eine andere Rolle. Es ist dann sogar vorstellbar, dass ein Designer hinter allem steckt.

step hat folgendes geschrieben:
Meine (zugegeben nicht fachstudierte) Vorstellung ging bisher dahin, daß die Selektion zwar immer wirkt, aber deshalb das exaptative Entstehen von neuer Funktionalität (z.B. Fliegen) nicht unbedingt immer kurzfristig von der Selektion dominiert wird. Letztendlich kann man mE alle angesprochenen Vorgänge als Constraints der Natur ansehen, die sich nur in ihrer dominanten Wirkung unterscheiden, aber jeweils langfristig scheinbar "angepaßte" Arten hervorbringen.


Hmmm, _dass_ Selektion wirkt, bestreitet AFAIK kaum jemand. Das Argument geht üblicherweise so, dass nur ausgelesen werden kann, was vorhanden ist. Sobald man aber die richtende Wirkung der Selektion bei der _Entstehung_ von Strukturen aufgibt, hat man keinen _einheitlichen_ Mechanismus mehr.

step hat folgendes geschrieben:

- Die Naturconstraints verhindern bestimmte Mutationen
- Die Naturconstraints selektieren mögliche Mutationen hart in einer engen Nische
- Die Naturconstraints erlauben interessantere Mutationen in einer weniger engen Nische
- Die Naturconstraints erlauben exaptative Weiterverwendung und damit eine veränderte Nische


Das _eigentliche_ Problem, eben wie die Strukturen _entstehen_, hast Du so nicht erklärt.

Das sind natürlich schwierige Fragen, die weit in die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie hineinreichen. Man kann vielleicht ganz pauschal sagen, dass die 'Standard-Theorie' die _Verbreitung_ von selektionspositiven Varianten beschreibt, während die Alternativen deren _Entstehung_ untersuchen.

Grüßle

Thomas
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step
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Beitrag(#79569) Verfasst am: 22.01.2004, 20:04    Titel: Antworten mit Zitat

Thomas Waschke hat folgendes geschrieben:
Man kann vielleicht ganz pauschal sagen, dass die 'Standard-Theorie' die _Verbreitung_ von selektionspositiven Varianten beschreibt, während die Alternativen deren _Entstehung_ untersuchen.
Ja, graduell könnte man diesen Unterschied machen.

Aber was ist falsch daran zu sagen, beides (Selektion wie die Entstehung von Neuem) spiegelt die Eigenschaften der natürlichen Welt wieder. Mich als Naturalist stört es natürlich, wenn man den Zufall (wenn er hierbei eine Rolle spielt) nicht als Teil der durch die Natur gegebenen Freiheitsgrade ansieht.

Aber es soll nicht schon wieder in die Metaphysik abgleiten.

gruß/step
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El Schwalmo
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Anmeldungsdatum: 06.11.2003
Beiträge: 9070

Beitrag(#79805) Verfasst am: 23.01.2004, 12:18    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Step,

step hat folgendes geschrieben:
Thomas Waschke hat folgendes geschrieben:
Man kann vielleicht ganz pauschal sagen, dass die 'Standard-Theorie' die _Verbreitung_ von selektionspositiven Varianten beschreibt, während die Alternativen deren _Entstehung_ untersuchen.

Ja, graduell könnte man diesen Unterschied machen.


noch genauer: man könnte sagen, dass diese Ansätze _komplementär_ sind. Jeder vernachlässigt das, was die Stärke des anderen ist, im eigenen Weltbild.

step hat folgendes geschrieben:
Aber was ist falsch daran zu sagen, beides (Selektion wie die Entstehung von Neuem) spiegelt die Eigenschaften der natürlichen Welt wieder. Mich als Naturalist stört es natürlich, wenn man den Zufall (wenn er hierbei eine Rolle spielt) nicht als Teil der durch die Natur gegebenen Freiheitsgrade ansieht.


Ich bin genauso Naturalist wie Du. Ich referiere zudem das, was ich in der Literatur vorgefunden habe.

Darwins Leistung war _nicht_, wie das oft beschrieben wird, die Entdeckung der Evolution (das hat Lamarck mechanistisch schon lange vor ihm getan und der Gedanke an sich lässt sich bis zu den Griechen zurück verfolgen, Kant war nur einen winzigen Schritt davon entfernt und Evolution lag schon vor Darwin 'in der Luft'), sondern mit seiner _Selektionstheorie_ der Versuch, zu zeigen, dass Adaptiogenese _und_ Phylogenese durch einen _einheitlichen_ Mechanismus erklärbar sind. Und zwar nur, wenn der Prozess ohne Sprünge abläuft. Genau das sind aber alle Phänomene, die _nicht_ durch die alleinige Richtungsgebung durch die Externselektion gradualistisch erfolgen.

Ein für mich unverdächtiger Zeuge beschreibt das so:

Dawkins, R. (1985) 'What was all the fuss about' Nature 316:683-684

<cite S.683f>
In the context of the fight against creationism, gradualism is more or less synonymous with evolution itself. If you throw out gradualness you throw out the very thing that makes evolution more plausible than creation. Creation is a special case of saltation - the <i>saltus</i> is the large jump from nothing to fully formed modern life. When You think of what <b class = "a">Darwin</b> was fighting against, is it any wonder, that he continually returned to the theme of slow, gradual, step-by-step change?
</cite>

Das Zitat stammt aus einer Rezension des Buchs

Eldredge, N. (1985) 'Time Frames. The Evolution of Punctuated Equilibria' Princeton, New Jersey, Princeton University Press.

Goulds Ansatz ist natürlich sehr problematisch für die Selektionstheorie. Gould begann ganz im Rahmen des 'herrschenden Paradigmas', hat dann im Rahmen der Vorbereitung für sein erstes Buch

Gould, S.J. (1977) 'Ontogeny and Phylogeny' Cambridge, Massachusetts, Belknap Press of the Harvard University Press

sich sehr intensiv in das eingelesen, was man 'Deutschen Idealismus' nennt (im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen konnte Gould Latein, Deutsch und Französisch im Original lesen) und ist dadurch weit vom MainStream abgekommen.
Mit dem Aufsatz
Gould, S.J. (1980) 'Is a new and general theory of evolution emerging?' Paleobiology 6:119-130
hat er sich dann vollkommen in die Nesseln gesetzt. Er zeigte den Menschen, die meinten, alles schon mit Evolution im Sinne von 'Veränderungen von Allelsequenzen in Populationen' erklärt zu haben, dass das vermutlich nicht stimmt.

Die Zusammenfassung, die Flannery IIRC kurz vor dem Tode Goulds im Rahmen einer Rezension von Goulds definitv letztem Buch

Gould, S.J. (2002) 'The Structure Of Evolutionary Theory' Cambridge, Mass; London, Belknap

verfasst hat, trifft den Nagel auf den Kopf:

Flannery, T. (2002) 'A New Darwinism?' URL: http://www.nybooks.com/articles/15410

<cite>
How are we to judge Stephen Jay Gould's additions to the knowledge of evolution and the history of life, particularly as presented in The Structure of Evolutionary Theory? I could not help but feel that the diverse matter fails to gel into a cohesive theory; yet remarkably Gould leaves us with a self-acknowledged paradox that may explain why this is so. He says that one of his principal themes has been the importance of nonadaptational features of evolution such as spandrels, and of the effects of accidents such as asteroid-induced mass extinctions on the course of evolution. By their very nature such phenomena resist being part of an inclusive evolutionary theory, yet they remain central to Gould's view. If he is correct, then evolution may be one field of science that is not amenable to the application of a grand, overarching theory. This seems an entirely plausible if disconcerting possibility.
</cite>

_Wenn_ man die extrapolationistische Selektionstheorie aufgibt und die kontigenten Prozesse beachtet, verliert man das, was vielen als hohes Ziel gilt: eine durchgängige Erklärbarkeit der Welt. Wenn die 'Welt' aber so funktioniert, wäre alles andere eine 'fallacia de velle ad esse', die man religiösen Menschen so gerne vorwirft.

step hat folgendes geschrieben:
Aber es soll nicht schon wieder in die Metaphysik abgleiten.


Ich gehe davon aus, dass es keine Weltanschauung gibt, die ohne Metaphysik auskommt. Es geht nicht darum, keine Metaphysik zu haben, sondern die falschen zu vermeiden.

Grüßle

Thomas
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Klaus-Peter
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Anmeldungsdatum: 10.01.2004
Beiträge: 1534

Beitrag(#79815) Verfasst am: 23.01.2004, 12:42    Titel: Antworten mit Zitat

Thomas Waschke hat folgendes geschrieben:
Im 'klassischen' Darwinismus geht man von einer Evolution aus, die _umweltgesteuert_ in _kleinen_ Schritten erfolgt, von denen _jeder_ selektionspositiv ist. Nur so ist es möglich, dass die Selektion 'schöpferisch' wirken kann. Schon der Gedanke an Exaptationen ist eine 'Abschwächung', weil ja die relevante Struktur nicht mehr durch den Umwelteinfluss _gestaltet_ wurde. Letztendlich läuft das dann wieder auf die belächelten 'Zwei-Phasen-Lehren' hinaus: es gibt _zwei_ wesensverschiedene Phasen in der Evolution, in der _nur_ die zweite durch die Umweltselektion gesteuert wird. Das ist im _krassen_ Widerspruch zu Darwins Selektionstheorie, die ja gerade davon ausging, dass es nur _einen_ einheitlichen Evolutionsmechanismus gibt.

Das stimmt nur teilweise. Folgt man Dawkins in "The extended Phenotype", dann findet die Selektion nicht zweipahsig, sondern multiphasig statt. Allerdings im Gegensatz zu der von dir genannten Zwei-Phasen-Lehre findet auf jeder dieser Phasen oder Ebenen eine Selektion - im entsprechenden Rahmen der jeweils existierenden Umwelt - statt.

Ein Gen konkurriert mit anderen darum, möglichst oft transkribiert zu werden, in möglichst vielen Zellen vertreten zu sein. Selektion findet auf der Ebene der Transkription, der Zellentwicklung, der Formentstehung etc. pp. statt. Der einzige Grund, warum die Selektion auf Ebene des Individuums die wichtigste ist: Alle Gene müssen durch den Bottleneck der Keimzellen, über die sich Individuen fortpflanzen. Und der letztliche Erfolg eines Genes misst sich daran, wie erfolgreich er "overall", also beim Marsch von Keimzelle (alt) bis viele Keimzelle (neu) ist. Gene, die grosse Geweihe machen (schlampig gesprochen), setzen auf die Sackgasse "Hirsche", Gene die während des Wachstums die Länge steuern, sind etwas, das alle Lebewesen brauchen können. Wenn ein Allel gegen so ein Gen anstinken wollte, müsste es schon ganz früh (im ersten Embryostadium) gegen die Konkurrenz des Platzhirsch-Gens gewinnen. Des halb haben die Hox-Gene verdammt gute Karten, weil sie jeden Abweichler frühzeitig (in einer der ersten Phasen) ausschalten.

So betrachtet, sind Ameisen, Menschen, Mäuse, Mauslöcher, Biber, Biberdämme nur Epiphänomene des Wettkampfes auf allen Ebenen.

Das nur als kurzer Einwurf.

Gruss

KP
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El Schwalmo
Atheistischer Agnostiker



Anmeldungsdatum: 06.11.2003
Beiträge: 9070

Beitrag(#79827) Verfasst am: 23.01.2004, 13:03    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Klaus-Peter,

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
Thomas Waschke hat folgendes geschrieben:
Im 'klassischen' Darwinismus geht man von einer Evolution aus, die _umweltgesteuert_ in _kleinen_ Schritten erfolgt, von denen _jeder_ selektionspositiv ist. Nur so ist es möglich, dass die Selektion 'schöpferisch' wirken kann. Schon der Gedanke an Exaptationen ist eine 'Abschwächung', weil ja die relevante Struktur nicht mehr durch den Umwelteinfluss _gestaltet_ wurde. Letztendlich läuft das dann wieder auf die belächelten 'Zwei-Phasen-Lehren' hinaus: es gibt _zwei_ wesensverschiedene Phasen in der Evolution, in der _nur_ die zweite durch die Umweltselektion gesteuert wird. Das ist im _krassen_ Widerspruch zu Darwins Selektionstheorie, die ja gerade davon ausging, dass es nur _einen_ einheitlichen Evolutionsmechanismus gibt.

Das stimmt nur teilweise.


verstehen wir unter 'Zwei-Phasen-Lehren' dasselbe?

Heberer, G. (1942) 'Makro- und Mikrophylogenie [Bemerkungen zu Schindewolf (1942)]' Der Biologe 11:169-180

<cite S. 173>
Für diese zweite Phase kommt nun das von der Experimentalgenetik analysierte mikrophylogenetische Ursachengefüge in Frage, eine Erkenntnis, die sich immer stärker durchsetzt. Für die typogenetische Phase aber soll es sich um ein makrophylogenetisches Sondergeschehen handeln, die mikrophylogenetischen Mechanismen sollen für sie bedeutungslos sein.
</cite>

'Mikrophylogenetische Mechanismen' ist in etwa die Selektionstheorie.

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
Folgt man Dawkins in "The extended Phenotype",


BTW, Du weißt sicher auch, dass Dawkins dieses Buch schrieb, weil er von der Fachwelt heftige Kritik für sein 'Selfish Gene' erhalten hatte.

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
dann findet die Selektion nicht zweipahsig, sondern multiphasig statt.


Da steht zwar auch 'Phase', aber das hat mit den 'Zwei-Phasen-Lehren' nichts zu tun.

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:


[ ... ]

Ein Gen konkurriert mit anderen darum, möglichst oft transkribiert zu werden, in möglichst vielen Zellen vertreten zu sein. Selektion findet auf der Ebene der Transkription, der Zellentwicklung, der Formentstehung etc. pp. statt. Der einzige Grund, warum die Selektion auf Ebene des Individuums die wichtigste ist: Alle Gene müssen durch den Bottleneck der Keimzellen, über die sich Individuen fortpflanzen. Und der letztliche Erfolg eines Genes misst sich daran, wie erfolgreich er "overall", also beim Marsch von Keimzelle (alt) bis viele Keimzelle (neu) ist. Gene, die grosse Geweihe machen (schlampig gesprochen), setzen auf die Sackgasse "Hirsche", Gene die während des Wachstums die Länge steuern, sind etwas, das alle Lebewesen brauchen können. Wenn ein Allel gegen so ein Gen anstinken wollte, müsste es schon ganz früh (im ersten Embryostadium) gegen die Konkurrenz des Platzhirsch-Gens gewinnen. Des halb haben die Hox-Gene verdammt gute Karten, weil sie jeden Abweichler frühzeitig (in einer der ersten Phasen) ausschalten.


Das hat mit dem, was ich gepostet habe, nicht viel zu tun. Wäre aber interessant, Details dieser genzentristischen Auffassung zu diskutieren.

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
So betrachtet, sind Ameisen, Menschen, Mäuse, Mauslöcher, Biber, Biberdämme nur Epiphänomene des Wettkampfes auf allen Ebenen.


Und noch ein Punkt, wo Dawkins 'bookkeeping' mit Mechanismen verwechselt. Dass Selektion auf allen möglichen Ebenen vorkommt, kannst Du bei Wynne-Edwards, Lorenz, Stanley, Hamilton und weiß der Herr noch wo alles nachlesen. Diese Ansätze der ersten beiden Forscher sind widerlegt, der des dritten ist zumindest nicht unplausibel und Dawkins erkennt den des vierten an.

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
Das nur als kurzer Einwurf.


Vielleicht gegen Gould, aber nicht gegen Zwei-Phasen-Lehren.

Grüßle

Thomas
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Klaus-Peter
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Anmeldungsdatum: 10.01.2004
Beiträge: 1534

Beitrag(#79846) Verfasst am: 23.01.2004, 13:23    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Thomas,

ich sehe gar nicht, warum man heute noch gegen eine solche Zweiphasenlehre argumentieren müsste. Ich halte sie für so abgestanden wie etwa einen Vitalismus, der glaubt, dass das Leben nicht durch die Chemie erklärbar sei, sondern noch zusätzlich eine Elaine Vitale notwendig wäre. Es ist wie Du weisst unmöglich, diese Einstellung zu widerlegen. Ebensogut kann ich ja gleich den Last-Fridayismus konkurrierend ins Spiel bringen. Der ist auch nicht zu widerlegen.

So wie ich eine Elaine Vitale nur bei Vorliegen echter Indizien wieder in Betracht ziehen würde, ebenso würde eine zweite, nicht-selektive "Phase" nur bei Vorliegen echter positiver Indizien wieder erwägenswert. Lücken im Weltbild (die es bei der Reduktion des Lebens auf die Chemie auch gibt) und religiöse Vorbehalte von ein paar Spinnern ("Kreationisten") reichen da nicht aus.

Gruss

KP
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El Schwalmo
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Anmeldungsdatum: 06.11.2003
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Beitrag(#79871) Verfasst am: 23.01.2004, 13:52    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Klaus-Peter,

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:

ich sehe gar nicht, warum man heute noch gegen eine solche Zweiphasenlehre argumentieren müsste.


dann kann ich Dir nur raten, Dich gelegentlich mit EvoDevo zu befassen. Auch wenn

Arthur, W. (1997) 'The Origin of Animal Body Plans: a Study in Evolutionary Developmental Biology' Cambridge, Cambridge University Press

zunächst dachte, dass er einen gegenüber der STE konkurrierenden Ansatz vertritt, meinte er dennoch, wieder in den MainStream zu gelangen. Ich bin mir nicht sicher, ob er seinen Ansatz zu Ende gedacht hat.

Oder schau Dir Tiefenhomologien an: das ist in etwa das, was Du als Hoxologie bezeichnen würdest. In üblichen Bio-Büchern kannst Du nachlesen, dass die Flügel der Vögel und die Flügel der Insekten anlaog seien. Inzwischen ist man sich da nicht mehr so sicher. Es scheint alte Gene zu geben, die, je nach Organismus, Flügel machen, aber eben vollkommen andere.

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
Ich halte sie für so abgestanden wie etwa einen Vitalismus, der glaubt, dass das Leben nicht durch die Chemie erklärbar sei, sondern noch zusätzlich eine Elaine


Kenne ich diese Frau oder hast Du Dich vertippt?

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
Vitale notwendig wäre. Es ist wie Du weisst unmöglich, diese Einstellung zu widerlegen. Ebensogut kann ich ja gleich den Last-Fridayismus konkurrierend ins Spiel bringen. Der ist auch nicht zu widerlegen.


Sieh's einfach anders herum: _wie_ kannst Du zeigen, dass sich so was wie ein Bauplan durch einen Ein-Phasen-Mechanismus, der aus vielen kleinen, jeweils selektionspositiven Schritten besteht, entwickeln kann. AFAIK hat das noch keiner geschafft, nicht einmal Dawkins, der sich um die eigentlichen Probleme dezent herummogelt.

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
So wie ich eine Elaine Vitale nur bei Vorliegen echter Indizien wieder in Betracht ziehen würde, ebenso würde eine zweite, nicht-selektive "Phase"


Nicht selektiv ist die _erste_ Phase, dann darfst Du so weiter machen, wie Dawkins lehrt.

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
nur bei Vorliegen echter positiver Indizien wieder erwägenswert.


Die Indizien liegen doch alle auf dem Tisch: Koaptionen, Drift, Exaptationen, Spandrels, Tiefen-Homologien und so weiter. Sogar Menschen wie Simpson sprachen von Mega-Evolution, Turner hat exakt das bei der Mimikry von Schmetterlingen sogar im Rahmen der STE anerkannt.

Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
Lücken im Weltbild (die es bei der Reduktion des Lebens auf die Chemie auch gibt) und religiöse Vorbehalte von ein paar Spinnern ("Kreationisten") reichen da nicht aus.


Ich vermute, dass viele Reduktionisten dem 'Apfelbaum-im-Garten-Fehlschluss' aufsitzen: sie schnallen sich einen Rucksack um und steigen auf den Apfelbaum im Garten. Dann jubeln sie: 'Der erste Schritt zur bemannten Raumfahrt ist getan!' Sie haben Recht: sie haben sich eindeutig von der Erdoberfläche in Richtung Weltall bewegt. Interessant wird, wie es dann weiter geht.

Mich wundert, dass sich das noch nicht herumgesprochen hat.

Grüßle

Thomas
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Spock
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Anmeldungsdatum: 17.07.2003
Beiträge: 4185
Wohnort: Herbipolis

Beitrag(#79898) Verfasst am: 23.01.2004, 14:21    Titel: Antworten mit Zitat

Thomas Waschke hat folgendes geschrieben:
Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
Ich halte sie für so abgestanden wie etwa einen Vitalismus, der glaubt, dass das Leben nicht durch die Chemie erklärbar sei, sondern noch zusätzlich eine Elaine


Kenne ich diese Frau oder hast Du Dich vertippt?
Ich geh auch mal davon aus, dass vom Élan Vitale die Rede ist.
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Darwin Upheaval
Evo-Devo-Darwinist & Wissenschaftskommunikator



Anmeldungsdatum: 23.01.2004
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Beitrag(#79960) Verfasst am: 23.01.2004, 17:28    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Klaus-Peter,

Zitat:
ich sehe gar nicht, warum man heute noch gegen eine solche Zweiphasenlehre argumentieren müsste. Ich halte sie für so abgestanden wie etwa einen Vitalismus, der glaubt, dass das Leben nicht durch die Chemie erklärbar sei, sondern noch zusätzlich eine Elaine Vitale notwendig wäre.


Nicht unbedingt: Es geht um die Frage, ob die schrittweise Addition vieler kleiner, selektionspositiver Genveränderungen ausreicht, um die Entstehung neuer Baupläne zu erklären, oder ob es dazu grundlegend anderer Mechanismen bedarf, als das "einheitliche" Mutations-Selektions-Erklärungsschema" der Synthetischen Theorie der Evolution. Bedenke bitte, daß im Fossilienbefund neue Organisationstypen völlig unvermittelt auf der Bildfläche erscheinen - die Veränderungen sind diskontinuierlich und verlaufen über weite Strecken mosaikartig. Deshalb wurde die Synthetische Theorie der Evolution bis in die 1970er Jahre hinein von der Mehrzahl der Paläontologen kaum rezipiert (obwohl sie keine einheitliche Positionen vertraten); sie hielten den Widerspruch zwischen diskontinuierlichem Muster und kontinuierlichem Prozeß für grundsätzlich (Heberer und Groß waren eher die Ausnahme).

Unter anderem Schindewolf vertrat die Ansicht, daß Evolution in zwei Phasen verlaufen müsse: Mutation und Selektion führe nur zu einer "Ausformung" von bereits bestehenden Bauplänen (Adaptiogenese), während es zur Entstehung neuer Organisationsformen (Phylogenese) ganz anderer Mechanismen brauchte. Recht interessant ist Schindewolfs Modell der "frühontogenetischen Typenentstehung": Seit v. Baer ist bekannt, daß sich in der Keimesentwicklung (Ontogenese) die "allgemeinen" Merkmale eines Typus früher ausbilden als die "speziellen". Daher müsse eine Veränderung während der Keimesentwicklung umso weitreichendere Umgestaltungen des Typus bewirken, je früher diese Auftreten. Es ist klar, daß hier bei der Frage, IN WELCHE RICHTUNG die Phylogenese verläuft, die Umweltselektion keine Rolle mehr spielt - die Richtung wird durch "innere" Entwicklungsprinzipien vorgegeben. Allein aus der Struktur des Gensystems resultieren dann eben bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten (constraints). Die Umweltselektion hat unter den Voraussetzungen nur noch eine "Siebfunktion", jedoch keine "schöpferische", gestalterische Kraft mehr. Als einer der ganz wenigen Genetiker hat dies auch Goldschmidt so gesehen und "Systemmutationen" postuliert, woraufhin er von den Anhängern der Synthetischen Theorie mit Häme und Spott überschüttet wurde.

In den modernen Systemtheorien von Bertalanffy, Lorenzen, Riedl, Wagner u.a. finden sich jedoch viele Elemente dieser Ansätze wieder, und zahlreiche Biologen versprechen sich von der Homöoboxenforschung und Entwicklungsbiologie ganz neue Einsichten in die Faktorenfrage. Nur inwieweit heute noch von Makromutationen Goldschmidtschen Typs ausgegangen wird oder von Saltationen, wie sie Schindwolf vertreten hat, weiß ich nicht. IIRC erwartet man heute bestenfalls "mittelgroße" Veränderungen (etwa mit der Reichweite von Heterochronien) und betont dafür mehr den Systemcharakter solcher Veränderungen. Daher weiß ich auch nicht, inwieweit heute der Begriff "Zweiphasenlehre" noch üblich und/oder sinnvoll ist [Vielleicht kann hier Thomas etwas mehr Licht ins Dunkel bringen und eventuell einige neuere Literaturstellen nennen?] Festzustehen scheint (egal, ob man nun den Begriff "Mikro- und Makroevolution" für adäquat hält oder nicht), daß die Synthetische Theorie die Evolution reduktionistisch, simplistisch und daher höchst unvollständig ist, weil sie die "inneren" Systembedingungen vollkommen ausklammert.

Grüße

Martin
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El Schwalmo
Atheistischer Agnostiker



Anmeldungsdatum: 06.11.2003
Beiträge: 9070

Beitrag(#79969) Verfasst am: 23.01.2004, 18:23    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Martin,

Martin Neukamm hat folgendes geschrieben:

[ ... ] Daher weiß ich auch nicht, inwieweit heute der Begriff "Zweiphasenlehre" noch üblich und/oder sinnvoll ist [Vielleicht kann hier Thomas etwas mehr Licht ins Dunkel bringen und eventuell einige neuere Literaturstellen nennen?]


der _Begriff_ scheint mir obsolet zu sein (schon zu Heberers Zeiten waren deutsche Evolutionsforscher mit der Ausnahme von Rensch international bedeutungslos, auf jeden Fall, wenn sie in deutscher Sprache publizierten), aber der _Inhalt_ ist brandaktuell. Egal ob man das Kind nun 'Systemtheorie', 'EvoDevo' oder wie auch immer nennt, auf jeden Fall scheint die _Entstehung_ der neuen Strukturen nicht durch die Mechanismen bedingt zu sein, die das 'Feintuning' übernehmen.

Grüßle

Thomas
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