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Evolution des Menschen / kulturelle Evolution
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Lamarck
Radikaler Konstruktivist



Anmeldungsdatum: 28.03.2004
Beiträge: 2142
Wohnort: Frankfurt am Main

Beitrag(#1575512) Verfasst am: 23.11.2010, 01:03    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Hi Edukir!


Edukir hat folgendes geschrieben:

Heute will ich darstellen, wie man sich aus Sicht der Armed Ape Theory der Frage nach der Größe des menschlichen Gehirns annähern müßte. Obwohl die Gehirngröße im Gegensatz zu den Anpassungen an das gezielte Werfen schon immer im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Diskussion gestanden hat, wirken die bislang präsentierten Erklärungsmuster eher hilflos.


Noch einmal: Es gibt keine Anpassungen an Tätigkeiten oder Verrichtungen. Anpassungen betreffen Umweltbedingungen. Warum sollen 'Anpassungen' an ein Werfen 'wertiger' sein als beispielsweise Anpassungen an 'Nasenbohren' oder 'Autofahren'?! Du kannst Dir aber mal überlegen, was Du so den ganzen Tag machst mit Deinen Armen/Händen ... .




Edukir hat folgendes geschrieben:

Manche Wissenschaftler verbreiten den Standpunkt, dass es keinen Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Leistungsfähigkeit des Gehirns beim Menschen gäbe. Nicht die Größe, sondern die "Verdrahtung" soll entscheidend für die Leistungsfähigkeit des Gehirns sein. Ergibt dieser Standpunkt einen Sinn? Ich denke das tut er nicht. Ein größeres Gehirn geht mit enormen fitnessrelevanten Kosten einher. Es verbraucht mehr Energie, es bereitet Schwierigkeiten bei der Geburt. Es zwingt Frauen dazu sehr hilfsbedürftige Babys zur Welt zu bringen und mehr in die Aufzucht dieser Kinder zu investieren. Es verlängert die Generationendauer und geht damit zu Lasten der Reproduktionsrate. Große Gehirne mußten schon einiges leisten, um all diese Kosten rechtfertigen zu können - sonst hätten sie sich im Rahmen der Evolution schlicht nicht entwickelt.


Es zählen: Anzahl der Neuronen, Komplexität der Verschaltung, Organisation. Beim Menschen ergibt sich hierdurch eine geschätzte Speicherleistung von 2 * 10^15 Byte = 2 PB




Edukir hat folgendes geschrieben:

Nun könnte man einwenden, dass es dann auch einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Gehirnleistungen beim Menschen geben müßte, ein solcher sei aber weit und breit nicht in Sicht. Dem ersten Argument stimme ich zu - dem zweiten nicht.


Es gibt keinen Zusammenhang. Vgl. etwa:


Schiff, M. & Lewontin, R.C. (1986): Education and Class. Oxford: Oxford University Press.


Ich nehme an, wir brauchen uns hier mit so etwas wie "The Bell Curve" nicht auseinandersetzen ...




Edukir hat folgendes geschrieben:

Welche Hinweise stehen uns konkret zur Verfügung, wenn wir uns auf die Suche nach einem Leistungsmerkmal machen wollen, das beim Menschen mit der Gehirngröße korreliert sein könnte? Wir verfügen über eine ganze Reihe von Indizien, die uns Hinweise darauf geben, wo wir mit der Suche anfangen sollten:

1) Schädelfunde geben uns Hinweise, wann das Gehirn im Laufe der menschlichjen Evolution vergrößert wurde. So richtig los ging dieser Prozess vor knapp 2 Millionen Jahren. Mit der Entwicklung moderner Körperproportionen beim Übergang zum Homo erectus vor ca. 1.8 Millionen Jahren kam auch das Gehirnwachstum richtig in Fahrt. Wir suchen also nach einer aus Sicht des Gehirns sehr anspruchsvollen Tätigkeit, die bereits vor 1.8 Millionen Jahren zum Verhaltensrepertoire unserer Vorfahren zählte und am Besten auch gleich einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten könnte, warum Unsere Vorfahren den menschlichen Körperbau entwickelt haben.


Die anspruchsvollste Tätigkeit eines Gehirns ist Denken, findest Du nicht? Und die wichtigste Fähigkeit des Denkens ist das Erkennen von Irrtümern, oder?



Edukir hat folgendes geschrieben:

2) Männer haben größere Gehirne als Frauen. Ein deutlicher Sexualdimorphismus bei der Gehirngröße ist von vorn herein zu beobachten - bei den 1.8 Millionen Jahre alten Dmanissi-Homininen steht zwei vermutlich weiblichen Gehirnkapazitäten von 600 und 650 ccm eine vermutlich männliche von 770 ccm gegenüber. Bei den Neandertalern hatten Männer eine um etwa 200 ccm höhere Gehirnkapazität als Frauen. es liegt daher nahe nach einem Leistungsmerkmal zu suchen, bei dem Männer im Vergleich zu Frauen deutlich überlegen sind.


Korreliert mit Körpergröße/Körpergewicht. Übrigens spielt hier auch u. a. auch das Alter eine wesentliche Rolle.




Edukir hat folgendes geschrieben:

3) Gehirne sind bei Männern nicht nur im Durchschnitt größer, sie sind auch funktional stärker lateralisiert. Es liegt daher nahe, nach einer Tätigkeit zu suchen, bei der eine deutliche Arbeitsteilung der beiden Gehirnhälften zu einer höheren Leistungsfähigkeit führt. Das war vermutlich nicht die Sprachfähigkeit, weil Frauen, bei denen die Sprachfunktionen weniger lateralisiert sind, Männern in sprachlicher Hinsicht keineswegs unterlegen sind. Vielversprechender ist es wohl nach einer ausgesprochen asymmetrischer Tätigkeit zu suchen, bei der der dominanten Hand eine Schlüsselrolle zukommt. Für eine zentrale Bedeutung der Hand für die stärkere Lateralisierung des männlichen Gehirns spricht die Händigkeit und die starke Repräsentanz der Hand im primären motorischen und sensorischen Kortex.


Und wie sieht die Sache im primären motorischen und sensorischen Kortex beispielsweise im Bezug zum Kochen und Stricken aus? Mr. Green




Edukir hat folgendes geschrieben:

4) Sowohl bei der Entwicklung moderner Menschen in Afrika als auch der Neandertaler in Europa sind die Gehirne weiter angewachsen und wiesen am Ende in etwa die gleiche Größe auf. Wir suchen also nach einem Verhaltensmerkmal, das unter sehr unterschiedlichen klimatischen Bedingungen seine Wirkung entfaltete. Damit fallen z.B. die Jagd odar das Sozialverhalten durchs Raster. Die Jagd war für die Neandertaler wesentlich wichtiger und hätte in Europa zur Entwicklung der größeren und leistungsfähigeren Gehirne führen müssen. Die Komplexität des Sozialverhaltens hängt wiederum mit der Gruppengröße zusammen, die bei den Neandertalern aus ökologischen Gründen deutlich limitiert war. Hätte das Sozialverhalten eine Schlüsselrolle bei der Gehirnexpansion gespielt, dann wäre die Gehirngröße bei den Neandertalern deutlich zurückgeblieben.


Wieso soll die Jagt für den Neandertaler wichtiger gewesen sein als für den Kollegen? Welche ökologischen Gründe sollen hier limitierend gewesen sein? Wie sieht die Sache im Vergleich mit Homo erectus aus?




Edukir hat folgendes geschrieben:

Gibt es eine aus Sicht des Gehirns sehr anspruchsvolle Tätigkeit, die in dieses Suchraster passt? Ja, es ist das gezielte Werfen.


Kimme, Korn und Schuss:









Edukir hat folgendes geschrieben:

Was ist also aus Sicht der Armed Ape Theory der menschlichen Evolution zu tun, wenn man klären will, warum das menschliche Gehirn so groß ist? - Fürs Erste muß man versuchen festzustellen, ob es eine Korrelation zwischen Gehirngröße und Leistungsfähigkeit beim gezielten Werfen gibt. Dazu nimmt man am besten eine statistisch relevante Zahl von Spitzensportlern, die sich als besonders Leistungsfähig im gezielten Werfen erwiesen haben (Baseballspieler, Handballspieler etc.) und vergleicht deren durchschnittliche Gehirngröße mit der durchschnittlichen Gehirngröße einer Kontrollgruppe. Ich wette um eine Kiste Bier, dass der Durchschnittswert bei den Werfern um mindestens 100 ccm höher liegen wird.

Sollte ich mit dieser Vorhersage recht behalten, dann wäre es an der Zeit für einen Paradigmenwechsel in den beteiligten Wissenschaftsdisziplinen. Der Mensch ist dann nicht als "unspezialisiertes Wesen" aufzufassen, sondern als ein in höchstem Maße spezialisierter Primat. Seine Spezialisierung wäre dann identifiziert und könnte eingehend untersucht werden.

Entscheidend ist die Werfer-Hypothese nicht einfach nur als interessante Idee zu konsumieren, sondern sie tatsächlich auf die Probe zu stellen.


Wenn es um die absolute Gehirngröße geht, nehme ich Gewichtheber im Superschwergewicht oder Stabhochspringer. Wenn es auf den relativen Anteil zum Körpergewicht ankommen soll: Bodenturnen (Frauen). Merke: Nicht unbedingt ist derjenige mit dem größten Kopf auch der bessere Denker ... .





Cheers,

Lamarck
_________________
„Nothing in Biology makes sense, except in the light of evolution.” (Theodosius Dobzhansky)

„If you can’t stand algebra, keep out of evolutionary biology.” (John Maynard Smith)

„Computers are to biology what mathematics is to physics.” (Harold Morowitz)
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fwo
Caterpillar D9



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Beiträge: 25826
Wohnort: im Speckgürtel

Beitrag(#1575520) Verfasst am: 23.11.2010, 02:52    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Lamarck hat folgendes geschrieben:
.....
Noch einmal: Es gibt keine Anpassungen an Tätigkeiten oder Verrichtungen. Anpassungen betreffen Umweltbedingungen. Warum sollen 'Anpassungen' an ein Werfen 'wertiger' sein als beispielsweise Anpassungen an 'Nasenbohren' oder 'Autofahren'?! Du kannst Dir aber mal überlegen, was Du so den ganzen Tag machst mit Deinen Armen/Händen ... ......

Weil Werfen dir sowohl Nahrung besorgen als auch Konkurrenten wie Fressfeinde vom Leibe halten kann. Das erfolgreiche Werfen hat damit einen direkteren Einfluss auf deine Reproduktionsfähigkeit als das Nasebohren.

Ich weiß jetzt nicht, gegen welche Götter ich gerade argumentiere, aber ich halte das Dogma der Anpassung an Umweltbedingungen in dieser Ausschließlichkeit für Kappes. So nach dem Motto: Und nachdem ein Haufen Erde auf ihn gefallen war und dem Maulwurf dann seine Schaufeln gewachsen waren, begann er zu überlegen, was er damit anfangen sollte....

Ich nehme an, wir sind uns einig darüber, dass jede Spezialisierung letztendlich in einer wechselseitigen Anpassung = Coevolution von Verhalten und Anatomie stattfinden muss, sonst kämen wir nicht sehr weit. Die Frage ist, was anfängt, und da scheint es mir sinnvoller vom Verhalten auszugehen, weil ein verändertes Verhalten sich am Anfang rein statistisch äußern kann, aber schon dabei automatisch zu einem veränderten Selektionsdruck in der Anatomie führt.

Auch veränderte Umweltbedingungen selektieren Anpassungen an sie nur durch das bereits angepasste Verhalten. Und ein geändertes Verhalten führt auch regelmäßig in / zu andere/n Umweltbedingungen.

Als Beispiel mag der Übergang vom Wasser zum Land dienen: Wie stelle ich mir den vor? Sind da ganz viele Tümpel ausgetrocknet und in einem haben die es geschafft? Mein persönlicher Vorschlag ist, dass da welche vom Schwimmen zum Krauchen übergegangen sind und sich dann über weitere Verhaltensänderungen langsam über die zwangsläufig immer existierenden Uferzonen langsam an Land begeben haben. Ein derartiges Modell gibt der Entwicklung auch mehr Gelegenheit.

Und eigentlich sollte es dir entgegenkommen - gibt es dem Chevalier de Lamarck doch wenigstens über den Umweg der Keimbahn Recht. zwinkern

fwo
_________________
Ich glaube an die Existenz der Welt in der ich lebe.

The skills you use to produce the right answer are exactly the same skills you use to evaluate the answer. Isso.

Es gibt keinen Gott. Also: Jesus war nur ein Bankert und alle Propheten hatten einfach einen an der Waffel (wenn es sie überhaupt gab).
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donquijote
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Anmeldungsdatum: 01.11.2010
Beiträge: 36

Beitrag(#1575525) Verfasst am: 23.11.2010, 05:09    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Lamarck hat folgendes geschrieben:
Es gibt keinen Zusammenhang. Vgl. etwa:


Schiff, M. & Lewontin, R.C. (1986): Education and Class. Oxford: Oxford University Press.


Ich nehme an, wir brauchen uns hier mit so etwas wie "The Bell Curve" nicht auseinandersetzen ...



Warum? Im Gegensatz zu Lewontin waren die wenigstens vom Fach.
_________________
Systemische Evolutionstheorie: https://www.createspace.com/4020671
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Edukir
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Anmeldungsdatum: 28.10.2010
Beiträge: 84
Wohnort: Hannover

Beitrag(#1575612) Verfasst am: 23.11.2010, 11:16    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Lamarck hat folgendes geschrieben:
Hi Edukir!


Edukir hat folgendes geschrieben:

Manche Wissenschaftler verbreiten den Standpunkt, dass es keinen Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Leistungsfähigkeit des Gehirns beim Menschen gäbe. Nicht die Größe, sondern die "Verdrahtung" soll entscheidend für die Leistungsfähigkeit des Gehirns sein. Ergibt dieser Standpunkt einen Sinn? Ich denke das tut er nicht. Ein größeres Gehirn geht mit enormen fitnessrelevanten Kosten einher. Es verbraucht mehr Energie, es bereitet Schwierigkeiten bei der Geburt. Es zwingt Frauen dazu sehr hilfsbedürftige Babys zur Welt zu bringen und mehr in die Aufzucht dieser Kinder zu investieren. Es verlängert die Generationendauer und geht damit zu Lasten der Reproduktionsrate. Große Gehirne mußten schon einiges leisten, um all diese Kosten rechtfertigen zu können - sonst hätten sie sich im Rahmen der Evolution schlicht nicht entwickelt.


Es zählen: Anzahl der Neuronen, Komplexität der Verschaltung, Organisation. Beim Menschen ergibt sich hierdurch eine geschätzte Speicherleistung von 2 * 10^15 Byte = 2 PB


Und die Zahl der Neuronen und die Komplexität der Verschaltung haben keinen Einfluß auf die Gehirngröße?



Zitat:
Edukir hat folgendes geschrieben:

Nun könnte man einwenden, dass es dann auch einen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Gehirngröße und Gehirnleistungen beim Menschen geben müßte, ein solcher sei aber weit und breit nicht in Sicht. Dem ersten Argument stimme ich zu - dem zweiten nicht.


Es gibt keinen Zusammenhang. Vgl. etwa:


Schiff, M. & Lewontin, R.C. (1986): Education and Class. Oxford: Oxford University Press.



Ich muß nicht erst Lewontin lesen, um zu wissen, dass ein Negativbefund - insbesondere bei einer so komplexen Fragestellung - etwas sehr unzuverlässiges ist. Wenn es also eine Gelegenheit gibt einen solchen Befund experimentell auf die Probe zu stellen, dann sollte man sie lieber ergreifen, anstatt Glaubensbekenntnisse zu verbreiten.


Zitat:
Edukir hat folgendes geschrieben:

Welche Hinweise stehen uns konkret zur Verfügung, wenn wir uns auf die Suche nach einem Leistungsmerkmal machen wollen, das beim Menschen mit der Gehirngröße korreliert sein könnte? Wir verfügen über eine ganze Reihe von Indizien, die uns Hinweise darauf geben, wo wir mit der Suche anfangen sollten:

1) Schädelfunde geben uns Hinweise, wann das Gehirn im Laufe der menschlichjen Evolution vergrößert wurde. So richtig los ging dieser Prozess vor knapp 2 Millionen Jahren. Mit der Entwicklung moderner Körperproportionen beim Übergang zum Homo erectus vor ca. 1.8 Millionen Jahren kam auch das Gehirnwachstum richtig in Fahrt. Wir suchen also nach einer aus Sicht des Gehirns sehr anspruchsvollen Tätigkeit, die bereits vor 1.8 Millionen Jahren zum Verhaltensrepertoire unserer Vorfahren zählte und am Besten auch gleich einen Beitrag zur Klärung der Frage leisten könnte, warum Unsere Vorfahren den menschlichen Körperbau entwickelt haben.


Die anspruchsvollste Tätigkeit eines Gehirns ist Denken, findest Du nicht? Und die wichtigste Fähigkeit des Denkens ist das Erkennen von Irrtümern, oder?



Das sind Allgemeinplätze, die uns nicht weiter führen. Für den Erkenntnisfortschritt brauchen wir klar formulierte, falsifizierbare Hypothesen.
Dem Erkennen von Irrtümern pflege allerdings auch ich eine zentrale Bedeutung beizumessen, Leistungssteigerungen in diesem Bereich könnten Menschen allerdings ebenfalls dem Werfen verdanken - als Teil der Verbesserungen im Bereich der räumlichen Wahrnehmung, die wiederum beim Einsatz einer Fernwaffe benötigt wurden. Vielleicht erinnerst du dich ja noch, dass binokulares Sehen und Akkommodation der Linsen als direkte Meßverfahren lediglich Entfernungsabschätzungen im Nahbereich von 3 m erlauben. Der für Werfer interessante Entfernungsbereich liegt um eine Größenordnung höher. Ich habe daher im Zeitalter der Werfer angenommen, daß die räumliche Wahrnehmung die Aufgabenstellung war, die im Rahmen der Werfer-Anpassungen den höchsten Beitrag zum Gehirnwachstum geleistet hat. Es wäre super, wenn Primatologen sich mal ein Paar Gedanken darüber machen würden, wie man einen experimentellen Leistungsvergleich der räumlichen Wahrnehmung bei Menschen und Schimpansen zuwege bringt.


Zitat:
Edukir hat folgendes geschrieben:

2) Männer haben größere Gehirne als Frauen. Ein deutlicher Sexualdimorphismus bei der Gehirngröße ist von vorn herein zu beobachten - bei den 1.8 Millionen Jahre alten Dmanissi-Homininen steht zwei vermutlich weiblichen Gehirnkapazitäten von 600 und 650 ccm eine vermutlich männliche von 770 ccm gegenüber. Bei den Neandertalern hatten Männer eine um etwa 200 ccm höhere Gehirnkapazität als Frauen. es liegt daher nahe nach einem Leistungsmerkmal zu suchen, bei dem Männer im Vergleich zu Frauen deutlich überlegen sind.


Korreliert mit Körpergröße/Körpergewicht. Übrigens spielt hier u. a. auch das Alter eine wesentliche Rolle.


Na und? Ist damit schon Alles zu dem Thema gesagt? Bedeutet eine Korrelation zwischen Gehirn- und Körpergröße, dass es keine Korrelation zwischen Gehirngröße und dessen Leistungsfähigkeit geben kann? Größere Tiere zeichnen sich nicht nur im Durchschnitt durch größere Gehirne aus, sondern auch durch geringere Reproduktionsraten. Sie investieren mehr in die Qualität ihrer Nachkommen, während kleinere Tiere eher in die Quantität investieren. Zur höheren Qualität der Nachkommen gehört auch ein leistungsfähigeres Gehirn. Das erkennt man z.B. auch daran, dass die primären motorischen und sensorischen Areale, die ja am ehesten eine direkte Kopplung an die Körpergröße vermuten lassen, weniger an Größe zunehmen, als das Gesamtgehirn. Außerdem sind 200 ccm Unterschied in der Gehirngröße bei den Neandertalern deutlich mehr, als man dem Allometriekoeffizienten zufolge bei einem Körpergewichtsunterschied von geschätzten 10 % erwarten würde.

Zitat:
Edukir hat folgendes geschrieben:

4) Sowohl bei der Entwicklung moderner Menschen in Afrika als auch der Neandertaler in Europa sind die Gehirne weiter angewachsen und wiesen am Ende in etwa die gleiche Größe auf. Wir suchen also nach einem Verhaltensmerkmal, das unter sehr unterschiedlichen klimatischen Bedingungen seine Wirkung entfaltete. Damit fallen z.B. die Jagd odar das Sozialverhalten durchs Raster. Die Jagd war für die Neandertaler wesentlich wichtiger und hätte in Europa zur Entwicklung der größeren und leistungsfähigeren Gehirne führen müssen. Die Komplexität des Sozialverhaltens hängt wiederum mit der Gruppengröße zusammen, die bei den Neandertalern aus ökologischen Gründen deutlich limitiert war. Hätte das Sozialverhalten eine Schlüsselrolle bei der Gehirnexpansion gespielt, dann wäre die Gehirngröße bei den Neandertalern deutlich zurückgeblieben.


Wieso soll die Jagt für den Neandertaler wichtiger gewesen sein als für den Kollegen? Welche ökologischen Gründe sollen hier limitierend gewesen sein? Wie sieht die Sache im Vergleich mit Homo erectus aus?


Im Winter standen in Europa kaum pflanzliche Nahrungsmittel zur Verfügung. Aber das sind keine Meinungsäußerungen meinerseits, sondern Stand der Forschung, frag also einfach Mr. Google.


Zitat:
Edukir hat folgendes geschrieben:

Gibt es eine aus Sicht des Gehirns sehr anspruchsvolle Tätigkeit, die in dieses Suchraster passt? Ja, es ist das gezielte Werfen.


Kimme, Korn und Schuss:







Der Schützenfisch tut hier wirklich nichts zur Sache. Wenn du die entsprechenden Daten für den Schützenfisch finden solltest, dann kannst du ja einfach mal vergleichen, wie das Verhältnis der beiden Größen Augenabstand und Reichweite beim Schützenfisch und beim Menschen ist. Der Augenabstand bestimmz die Leistungsfähigkeit des binokularen Sehens bei der Entfernungsabschätzung. Bei einem 30 m - Wurf liegt das Verhältnis beim Menschen bei etwa 1:500. Was hat der Schützenfisch zu bieten (oder der Frosch, das Chameleon oder die Gottesanbeterin?)

Zitat:
Edukir hat folgendes geschrieben:

Was ist also aus Sicht der Armed Ape Theory der menschlichen Evolution zu tun, wenn man klären will, warum das menschliche Gehirn so groß ist? - Fürs Erste muß man versuchen festzustellen, ob es eine Korrelation zwischen Gehirngröße und Leistungsfähigkeit beim gezielten Werfen gibt. Dazu nimmt man am besten eine statistisch relevante Zahl von Spitzensportlern, die sich als besonders Leistungsfähig im gezielten Werfen erwiesen haben (Baseballspieler, Handballspieler etc.) und vergleicht deren durchschnittliche Gehirngröße mit der durchschnittlichen Gehirngröße einer Kontrollgruppe. Ich wette um eine Kiste Bier, dass der Durchschnittswert bei den Werfern um mindestens 100 ccm höher liegen wird.

Sollte ich mit dieser Vorhersage recht behalten, dann wäre es an der Zeit für einen Paradigmenwechsel in den beteiligten Wissenschaftsdisziplinen. Der Mensch ist dann nicht als "unspezialisiertes Wesen" aufzufassen, sondern als ein in höchstem Maße spezialisierter Primat. Seine Spezialisierung wäre dann identifiziert und könnte eingehend untersucht werden.

Entscheidend ist die Werfer-Hypothese nicht einfach nur als interessante Idee zu konsumieren, sondern sie tatsächlich auf die Probe zu stellen.


Wenn es um die absolute Gehirngröße geht, nehme ich Gewichtheber im Superschwergewicht oder Stabhochspringer. Wenn es auf den relativen Anteil zum Körpergewicht ankommen soll: Bodenturnen (Frauen). Merke: Nicht unbedingt ist derjenige mit dem größten Kopf auch der bessere Denker ... .


Eigentlich wäre es naheliegend eine Kontrollgruppe zum Vergleich der Gehirngrößen so zu wählen, dass andere Einflußgrößen, als das untersuchte Leistungsvermögen beim Werfen, nach Möglichkeit ausgeschlossen werden. Körpergröße und Körpergewicht sollten also im Idealfall bei den Werfern und der Kontrollgruppe gleich sein. Aber meinetwegen kannst du es gerne auch mit deinen Gewichthebern oder Hochspringern versuchen - ich glaube nicht, dass das einen entscheidenden Unterschied machen wird (die Kiste Bier kriegst du trotzdem).

Es ist wohl in der Tat so, dass heutzutage derjenige mit dem größten Kopf nicht (mehr?) unbedingt der beste Denker ist. Die Frage ist aber, warum es diesen an sich naheliegenden Zusammenhang nicht (mehr?) gibt. Das würde hier aber zu weit führen. Fürs erste muß aus meiner Sicht geklärt werden, ob es eine Korrelation zwischen Gehirngröße und Leistungsfähigkeit beim gezielten Werfen gibt. Sollte ich in dieser Hinsicht recht behalten, dann ist immer noch Zeit sich weitergehenden Überlegungen zuzuwenden.
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Norm
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Anmeldungsdatum: 11.02.2007
Beiträge: 8149

Beitrag(#1575619) Verfasst am: 23.11.2010, 11:32    Titel: Antworten mit Zitat

Aus dem Biounterricht, ist schon ein paar Jährchen her, aber so ungefähr wurde das gelehrt:
- Nicht die Masse des Gehirns ist wichtig, sondern die Größe der Oberfläche (faltige Struktur).
- Nur ein Teil der Gehirnzellen wird auch wirklich aktiv genutzt, daneben gibt es auch inaktive Zellen.
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Edukir
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Anmeldungsdatum: 28.10.2010
Beiträge: 84
Wohnort: Hannover

Beitrag(#1575634) Verfasst am: 23.11.2010, 12:05    Titel: Antworten mit Zitat

Norm hat folgendes geschrieben:
Aus dem Biounterricht, ist schon ein paar Jährchen her, aber so ungefähr wurde das gelehrt:
- Nicht die Masse des Gehirns ist wichtig, sondern die Größe der Oberfläche (faltige Struktur).
- Nur ein Teil der Gehirnzellen wird auch wirklich aktiv genutzt, daneben gibt es auch inaktive Zellen.


Die Evolution verläuft in der Regel durch Anpassung quantitativer Parameter - Der "Bauplan" wird selten angetastet. Bei der Großhirnrinde hatte das zur Folge, dass die Zahl der Übereinanderliegenden Neuronenschichten unverändert blieb, Größenwachstum fand daher in erster Linie in der Fläche statt. Um eine große Fläche möglichst kompakt im Schädel unterbringen zu können, muß diese gefaltet werden. Je größer ein Gehirn wird, desto mehr Falten kann man auch beobachten. Die Gehirnfunktionen sind aber an die Gehirnzellen gebunden und die haben ein Volumen und ein Gewicht.
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Ilmor
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Anmeldungsdatum: 13.12.2008
Beiträge: 7151

Beitrag(#1575925) Verfasst am: 23.11.2010, 18:56    Titel: Antworten mit Zitat

@Edukir
Wirklich eine interessante These. Ich hatte auch schon mal einen ähnlichen Gedanken, allerdings bezogen auf den Speer.
Eine Frage, wenn wir tatsächlich evolutionär aufs Werfen getrimmt sein sollten, müssten wir dann nicht den instiktiven Wunsch zum Werfen verspüren, und würde es dann nicht eine viel größere Rolle in unserem Alltagsleben spielen (mehr als das bisschen Sport).
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Edukir
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Anmeldungsdatum: 28.10.2010
Beiträge: 84
Wohnort: Hannover

Beitrag(#1575987) Verfasst am: 23.11.2010, 19:47    Titel: Antworten mit Zitat

Ilmor hat folgendes geschrieben:
@Edukir
Wirklich eine interessante These. Ich hatte auch schon mal einen ähnlichen Gedanken, allerdings bezogen auf den Speer.
Eine Frage, wenn wir tatsächlich evolutionär aufs Werfen getrimmt sein sollten, müssten wir dann nicht den instiktiven Wunsch zum Werfen verspüren, und würde es dann nicht eine viel größere Rolle in unserem Alltagsleben spielen (mehr als das bisschen Sport).


Wir scheinen einen ähnlich ausgeprägten Drang zu haben uns im Werfen zu üben, wie im aufrechten Gang. Während Kinder beim Gehenlernen unterstützt werden, werden sie beim Werfenlernen systematisch behindert (was kann da nicht alles kaputtgehen!). Bei Naturvölkern, bei denen das Werfen noch zum "Handwerkszeug" gehörte sah das noch ganz anders aus.

Ich vermute auch, dass uns unsere Natur dabei unterstützt das Werfen zu unterdrücken. So gab es bei Eibl-Eibesfeldt einen Hinweis darauf, dass bei einem Naturvolk Mädchen öfter dabei beobachtet wurden, dass sie andere Kinder gezielt bewarfen als Jungs. Da andererseits Jungs bei der Entwicklung von Werfer - Kompetenzen von Natur aus einen Vorsprung von 1-2 Jahren im Vergleich zu Mädchen entwickeln, vermute ich, dass hier angeborene Hemmmechanismen greifen, deren Funktion darin bestand zu verhindern, dass Gruppenmitglieder verletzt werden. Das Verhalten unserer Vorfahren unterschied sich vermutlich sehr deutlich je nachdem ob ihnen ein Gruppenmitglied gegenüberstand, oder ein Fremder (ähnliches kann man auch bei Schimpansen beobachten). Auseinandersetzungen mit Steinen gehörten zum Outgroup-Verhalten. Innerhalb der Gruppenverbände wurden sie womöglich auch schon vor 1 Million Jahren ebenso wenig toleriert, wie heute. Unsere Vorfahren mußten daher sowohl in der Lage sein bei Bedarf einen Fremden zu bewerfen, als auch den Wunsch zu unterdrücken, das Gleiche aus Wut einem Gruppenmitglied gegenüber zu versuchen.
Die im Nahen Osten so beliebte Steinigung hat es daher als Bestrafungsmethode in sich. Der oder die Gesteinigte wird damit nicht nur getötet, sondern auf der psychischen Ebene auch aus der Gruppe ausgeschlossen. Dies dürfte es wiederum sogar nahestehenden Personen erschweren sich mit dem/der Gesteinigten zu solidarisieren.
Wenn sich heute Gruppen feindselig gegenüberstehen, die keine moderneren Waffen zur Hand haben, dann lebt das alte Werfer-Erbe automatisch wieder auf. Das kann man bei so ziemlich jeder Demonstration weltweit beobachten, die außer Kontrolle gerät. Die Wurfleistungen, die dabei an den Tag gelegt werden dürften aber mangels Übung und aufgrund des fortschreitenden Verlustes körperlicher Werfer-Qualitäten ausgesprochen dürftig sein im Vergleich zu dem, was unsere Vorfahren drauf hatten. Als Werfer macht der Durchschnittsdemonstrant im Vergleich zu unseren Vorfahren vor 100 000 Jahren vermutlich eine ähnlich jämmerliche Figur, wie ein Dackel im Vergleich zu einem Wolf, wenn es um die Elchjagd geht. Wir sind infolge der kulturellen Entwicklung domestiziert worden.
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smallie
resistent!?



Anmeldungsdatum: 02.04.2010
Beiträge: 3613

Beitrag(#1575996) Verfasst am: 23.11.2010, 20:02    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Edukir hat folgendes geschrieben:
Die Kultur ist eine sehr mächtige Trumpfkarte, wenn es darum geht ein Szenario der Menschwerdung zu entwickeln.

Kultur könnte tatsächlich der Knackpunkt sein. Und zwar "kummulative" Kultur.

Es gibt im Tierreich unzählige Beispiele für Kultur. Ich erwähne nur mal Nüsse knacken oder mit Stöcken nach Termiten angeln bei Schimpansen. Weitere Beispiele ließen sich für viele andere Tierarten geben. Aber das sind alles Errungenschaften, die ein Individuum auch erneut alleine "erfinden" könnte, sollte eine Errungenschaft mal verloren gehen.

"Kummulative" Kultur gibt es im Wesentlichen nur beim Menschen. Siehe den Spruch von Newton: "If I have seen a little further it is by standing on the shoulders of Giants."

Es liegt nahe, daß sich "kummulatives Lernen" und ein größeres/besseres Gehirn gegenseitig bedingen.

Erstens, um sich alles merken zu können.
Zweitens um Absichten anderer Individuen besser einschätzen zu können, und so über bloßes Lernen durch Nachahmung hinauszugehen.
Drittens, später, um Fähigkeiten mittels Sprache besser weiter geben zu können.



Edukir hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
(Dann gibt es da noch die These, daß Menschen früher als gedacht das Feuer beherrscht haben, und durch Kochen Zugang zu leicht verdaulicher Nahrung gehabt hätten.)


Diese Hypothese erklärt nicht das große Gehirn - man hätte die zusätzlichen Nahrungsmittel ja auch in zusätzliche Nachkommen stecken können. Es bleibt also dabei, dass die Gehirnleistungen dessen Kosten rechtfertigen müssen.

Das war in diesem Zusammenhang gemeint: es gibt die Ansicht, daß erst Fleischkonsum das Wachstum des menschlichen Gehirns ermöglicht hat.

Dein Gegenargument könnte man treffend auch auf die "Menschen sind Aas/Fleischfresser, deshalb konnte das Gehirn wachsen"-These anwenden. Die Koch-Hypothese bietet hier eine Alternative, weil durch Kochen Nahrung leichter verdaulich ist, und man nicht den ganzen Tag auf schwer verdaulichem, ungekochtem Grünzeug herumkauen muß.


Edukir hat folgendes geschrieben:
Auf jeden Fall schreien derartige Leistungen geradezu nach einer Erklärung. Und die müßte im Falle des Werfens ja wohl im Rahmen einer Theorie der Menschwerdung erfolgen. Das heißt natürlich nicht automatisch, dass meine Theorie komplett richtig ist. Aber es besteht in jedem Fall Handlungsbedarf. Ein Zeitfenster von 1 ms verdient meines Erachtens mehr Aufmerksamkeit als ein 400 000 Jahre alter Wurfspeer.

Allerdings.

Hab mal ein bisschen 'rumgesucht und dies hier, ebenfalls von Hore et. al., gefunden: http://jn.physiology.org/cgi/reprint/86/6/2690.pdf

Da ist von 7 ms die Rede. Aber auch das wäre immer noch verblüffend. Ich hätte das zeitliche "Aktionsfenster" eher auf 30 - 50 ms geschätzt. Man kann doch nicht schneller handeln, als man wahrnehmen kann? Oder doch?
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Edukir
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Anmeldungsdatum: 28.10.2010
Beiträge: 84
Wohnort: Hannover

Beitrag(#1576086) Verfasst am: 23.11.2010, 22:00    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:
Edukir hat folgendes geschrieben:
Die Kultur ist eine sehr mächtige Trumpfkarte, wenn es darum geht ein Szenario der Menschwerdung zu entwickeln.

Kultur könnte tatsächlich der Knackpunkt sein. Und zwar "kummulative" Kultur.

Es gibt im Tierreich unzählige Beispiele für Kultur. Ich erwähne nur mal Nüsse knacken oder mit Stöcken nach Termiten angeln bei Schimpansen. Weitere Beispiele ließen sich für viele andere Tierarten geben. Aber das sind alles Errungenschaften, die ein Individuum auch erneut alleine "erfinden" könnte, sollte eine Errungenschaft mal verloren gehen.

"Kummulative" Kultur gibt es im Wesentlichen nur beim Menschen. Siehe den Spruch von Newton: "If I have seen a little further it is by standing on the shoulders of Giants."

Es liegt nahe, daß sich "kummulatives Lernen" und ein größeres/besseres Gehirn gegenseitig bedingen.

Erstens, um sich alles merken zu können.
Zweitens um Absichten anderer Individuen besser einschätzen zu können, und so über bloßes Lernen durch Nachahmung hinauszugehen.
Drittens, später, um Fähigkeiten mittels Sprache besser weiter geben zu können.


Das ist ein nettes Szenario - aber wie passt es zu den Fakten? "Kummulatives lernen" ist in der Tat ein mächtiger Mechanismus - einer, der bei den kulturellen Hinterlassenschaften eine deutliche Spur zunehmender Entwicklungsdynamik hinterlassen sollte. Wir kennen solche Spuren - aber erst beim modernen Verhalten des modernen Menschen. Hier vermute ich in der kulturellen Evolution tatsächlich einen sich selbst beschleunigenden, autokatalytischen Prozeß - aber der hat erst gezündet, nachdem das Gehirn über 2 Jahrmillionen angewachsen ist. Der archeologische Befund spricht für ein "vorauseilendes Gehirn", nicht für ein Gehirn, dessen Entwicklung durch eine dynamische, kulturelle Entwicklung vorangetrieben wurde. Ich halte auch wenig von dem Argument, dass uns die Steinwerkzeuge nur einen kleinen Ausschnitt des menschlichen Kulturschaffens offenbaren. Die verschiedenen Verhaltensäußerungen des Menschen wirken wechselseitig aufeinander ein. Wenn sich im sozialen Bereich was tut, dann findet es auch Niederschlag in der Materiellen Kultur. Das moderne Verhalten des modernen Menschen ist nicht nur durch Schmuck, Höhlenmalereien, Begräbnisrituale und die Verwendung neuer Werkstoffe gekennzeichnet, es führte auch zu einer deutlichen Entwicklungsdynamik im Bereich der Steinwerkzeuge. In der Erectus-Phase haben die Steinwerkzeuge dagegen nach der Einführung der Faustkeile ungeachtet eines deutlichen Gehirnwachstums über einen Zeitraum von mehr als 1 Million Jahren überhaupt keine Entwicklungsdynamik aufgewiesen.


Zitat:
Edukir hat folgendes geschrieben:
Auf jeden Fall schreien derartige Leistungen geradezu nach einer Erklärung. Und die müßte im Falle des Werfens ja wohl im Rahmen einer Theorie der Menschwerdung erfolgen. Das heißt natürlich nicht automatisch, dass meine Theorie komplett richtig ist. Aber es besteht in jedem Fall Handlungsbedarf. Ein Zeitfenster von 1 ms verdient meines Erachtens mehr Aufmerksamkeit als ein 400 000 Jahre alter Wurfspeer.

Allerdings.

Hab mal ein bisschen 'rumgesucht und dies hier, ebenfalls von Hore et. al., gefunden: http://jn.physiology.org/cgi/reprint/86/6/2690.pdf

Da ist von 7 ms die Rede. Aber auch das wäre immer noch verblüffend. Ich hätte das zeitliche "Aktionsfenster" eher auf 30 - 50 ms geschätzt. Man kann doch nicht schneller handeln, als man wahrnehmen kann? Oder doch?


Diese 7 ms sind Messungen an "Freizeitwerfern". Gemeint sind die Versuchspersonen - vermutlich Studenten, aber keineswegs Baseballprofis. Die 1ms - Geschichte, mit der diese Arbeitsgruppe ein paar Jahre früher Schlagzeilen gemacht hat, beruhte, soweit ich mich erinnere, nicht auf direkten Messungen an Baseballspielern, sondern auf irgendwelchen Extrapolationen, die sie auf der Grundlage ihrer Meßwerte angestellt hatten. Inwieweit dies inzwischen experimentell verifiziert worden ist, weiß ich nicht. Vielleicht war auch etwas Effekthascherei im Spiel - und 1ms ist ein so schön einprägsamer Wert. Auf jeden Fall ist Baseballprofis sicher etwas mehr zuzutrauen, als ihren 7ms-Versuchskaninchen. Und auch 7ms sind schon verdammt wenig.

Warum sollte man nicht "schneller handeln als wahrnehmen" können? Beim Werfen geht die Wahrnehmung der Handlung ohnehin voraus - im Verlauf der Handlung spielt sie keine Rolle mehr, da diese ohnehin zu schnell erfolgt, um Rückkopplungsschleifen zuzulassen. Was also im Verlauf des Werfens wahrgenommen wird, kann keinen Einfluß mehr auf den Wurf ausüben. William Calvin hat sich zwar hinsichtlich seiner Abschätzung des Zeitfensters vertan - aber er ist Neurobiologe und vielleicht ist etwas dran an seinen Überlegungen, wie das Gehirn im Prinzip dazu in der Lage sein könnte sehr kleine Zeitfenster einzuhalten. Wenn dich dieses Thema also so brennend interessiert, dann lies mal bei ihm nach:

http://cogprints.org/21/1/1983JTheoretBiol.htm
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Ilmor
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Beitrag(#1576116) Verfasst am: 23.11.2010, 23:07    Titel: Antworten mit Zitat

@Edukir
Noch eine Frage. Würden beispielsweise die proportional längeren Arme des Schimpansens oder seine uns weit überlegene Oberkörpermuskelkraft nicht einen gewaltigen Vorteil für Werfer darstellen? Warum hat sich der Mensch aber dann in die andere Richtung entwickelt bzw. warum gab es hier keine Rückentwicklung?
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Lamarck
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Beitrag(#1576167) Verfasst am: 24.11.2010, 02:40    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Hi fwo!


fwo hat folgendes geschrieben:

Lamarck hat folgendes geschrieben:
.....
Noch einmal: Es gibt keine Anpassungen an Tätigkeiten oder Verrichtungen. Anpassungen betreffen Umweltbedingungen. Warum sollen 'Anpassungen' an ein Werfen 'wertiger' sein als beispielsweise Anpassungen an 'Nasenbohren' oder 'Autofahren'?! Du kannst Dir aber mal überlegen, was Du so den ganzen Tag machst mit Deinen Armen/Händen ... ......

Weil Werfen dir sowohl Nahrung besorgen als auch Konkurrenten wie Fressfeinde vom Leibe halten kann. Das erfolgreiche Werfen hat damit einen direkteren Einfluss auf deine Reproduktionsfähigkeit als das Nasebohren.

Ich weiß jetzt nicht, gegen welche Götter ich gerade argumentiere, aber ich halte das Dogma der Anpassung an Umweltbedingungen in dieser Ausschließlichkeit für Kappes. So nach dem Motto: Und nachdem ein Haufen Erde auf ihn gefallen war und dem Maulwurf dann seine Schaufeln gewachsen waren, begann er zu überlegen, was er damit anfangen sollte....


Der Anpassungsbegriff ist nicht unproblematisch. Allerdings ist er keineswegs dogmatisch, sondern axiomatisch - wie es eben so üblich ist bei Definitionen (hier: Operationale Definition). Es wird also konstatiert, dass bei 'Anpassung' die 'Keimbahn' in einer gewissen Relation mit 'Umwelt' steht. Über die Randbedingung 'Umwelt' ergibt sich somit ein Erklärungswert. Ohne diese "Ausschließlichkeit" ist der Begriff der Anpassung synonym zu einem "Ist so geworden, weil es so geworden ist".




fwo hat folgendes geschrieben:

Ich nehme an, wir sind uns einig darüber, dass jede Spezialisierung letztendlich in einer wechselseitigen Anpassung = Coevolution von Verhalten und Anatomie stattfinden muss, sonst kämen wir nicht sehr weit. Die Frage ist, was anfängt, und da scheint es mir sinnvoller vom Verhalten auszugehen, weil ein verändertes Verhalten sich am Anfang rein statistisch äußern kann, aber schon dabei automatisch zu einem veränderten Selektionsdruck in der Anatomie führt.


Nein. 'Verhalten' sind Freiheitsgrade organismischer Konstruktionen. Daran ändert sich auch nichts, wenn dieses Verhalten (im Extremfall die menschliche Kultur/Kulturevolution) entsprechend rückkoppeln (und wenn Du die Sache von der Keimbahn aus betrachtest, gehört Kultur ebenso zur 'Umwelt' des Menschen wie der von den Cyanobakterien produzierte Sauerstoff zur Umwelt der Cyanobakterien gehört).

Apropos 'Selektionsdruck': Wer drückt denn da? zwinkern




fwo hat folgendes geschrieben:

Auch veränderte Umweltbedingungen selektieren Anpassungen an sie nur durch das bereits angepasste Verhalten. Und ein geändertes Verhalten führt auch regelmäßig in / zu andere/n Umweltbedingungen.


D. h.: Negative Rückkopplung.




fwo hat folgendes geschrieben:

Als Beispiel mag der Übergang vom Wasser zum Land dienen: Wie stelle ich mir den vor? Sind da ganz viele Tümpel ausgetrocknet und in einem haben die es geschafft? Mein persönlicher Vorschlag ist, dass da welche vom Schwimmen zum Krauchen übergegangen sind und sich dann über weitere Verhaltensänderungen langsam über die zwangsläufig immer existierenden Uferzonen langsam an Land begeben haben. Ein derartiges Modell gibt der Entwicklung auch mehr Gelegenheit.


Schon besser: Die Transformation von n nach n' als Anpassung der organismischen Konstruktion von der Umweltbedingung 'Wasser' an die Umweltbedingung 'Land' aus Gründen der Rekonstruktion.

Schau Dir diesen einmal an: Bleibt in temporären Gewässern als letzter übrig, verfügt als Fischlarve über Außenkiemen, ist adult aufgrund asymmetrischer Lungenflügel auf atmosphärischen Sauerstoff angewiesen (Bzw.: Ist unempfindlich gegenüber Sauerstoffmangel im Gewässer) und kann als Bodenfisch auf gewisse Weise mit seinen 'Paddeln' laufen - auch recht ausgiebig über Land.









Es gibt allerdings als Fisch noch eine ganze Reihe weiterer Strategien, um mit austrocknenden Gewässern zurechtzukommen, aber damit sollte der Anpassungsbegriff hinreichend geklärt sein. Ähnlich können wir nun bei unserem "Werfer-Theoretiker" vorgehen:









Die Somatotopik bietet doch einigen Aufschluss. Konstruktiv nahezu einzigartig ist der Präzisionsgriff des Menschen, den schon mindestens der Neandertaler auszuführen in der Lage war (Daneben konnte bereits Bambiraptor mit zwei Fingern greifen). Natürlich spielt der Präzisionsgriff beim (einarmigen) Werfen eine Rolle - ist hierzu aber konstruktive Voraussetzung (d. h. erst Präzionsgriff, dann dadurch Potential zum präzisen Werfen). Mithin ist die Fähigkeit zum Werfen konstruktiv ein Abfallprodukt des universellen Präzisionsgriffs - ungeachtet der Tatsache, dass die Fähigkeit zum Werfen Selektionsvorteile bieten kann.




fwo hat folgendes geschrieben:

Und eigentlich sollte es dir entgegenkommen - gibt es dem Chevalier de Lamarck doch wenigstens über den Umweg der Keimbahn Recht. zwinkern


Nein. Allerdings kommt mir Jean-Baptiste de Lamarck insoweit entgegen, als dass er Erfinder des Begriffs Biologie war - das passt zu mir ... . zwinkern





Cheers,

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Messi
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Beitrag(#1576178) Verfasst am: 24.11.2010, 06:49    Titel: Antworten mit Zitat

leer -alae
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kereng
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Beitrag(#1576182) Verfasst am: 24.11.2010, 07:21    Titel: Antworten mit Zitat

Messi hat folgendes geschrieben:
leer -alae

Steht "Th." für "Tidenhub"?
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Lamarck
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Beitrag(#1576221) Verfasst am: 24.11.2010, 10:50    Titel: Antworten mit Zitat

Hi Messi!


Messi hat folgendes geschrieben:

leer -alae


Das musste jetzt sicherlich einmal gesagt werden?




Messi hat folgendes geschrieben:

leer -alae


Nix Pseudo.




Messi hat folgendes geschrieben:

leer -alae


Dergleichen behauptet hier nur einer ... . Merke: Es kommt auf die Organisation an.




Messi hat folgendes geschrieben:

leer -alae


Spinnennetze sind algorithmisch gar nicht so kompliziert. Wenn hierzu verschiedene Spinnen betrachtet werden, lässt sich auf einen evolutiven Weg schließen.




Messi hat folgendes geschrieben:

leer -alae


Handmotorik, Mundmotorik, Mimik und Graphomotorik werden von sehr dicht beieinander liegenden Hirnarealen angesteuert. Da nimmt es nicht Wunder, dass in der Logopädie auch die Hände angesehen werden. Daraus lässt sich einiges schließen.




Messi hat folgendes geschrieben:

leer -alae


Das wäre mir tatsächlich neu.





Cheers,

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Edukir
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Beitrag(#1576228) Verfasst am: 24.11.2010, 11:18    Titel: Antworten mit Zitat

Ilmor hat folgendes geschrieben:
@Edukir
Noch eine Frage. Würden beispielsweise die proportional längeren Arme des Schimpansens oder seine uns weit überlegene Oberkörpermuskelkraft nicht einen gewaltigen Vorteil für Werfer darstellen? Warum hat sich der Mensch aber dann in die andere Richtung entwickelt bzw. warum gab es hier keine Rückentwicklung?


Der menschliche Wurf ist eine ausgesprochene Ganzkörpertätigkeit - bei einem Wurf nur aus der Schulter heraus wird nur in etwa die halbe Abwurfgeschwindigkeit erzielt. Die einzelnen Körperteile, die in der kinematischen Kette der Beschleunigungsbewegung zusammenarbeiten, müssen vor allem hinsichtlich ihrer Trägheitsmomente aufeinander abgestimmt werden. Ich denke, daß beim Menschen genau dies geschehen ist, es bedarf aber gerade an dieser Stelle weitergehender Untersuchungen. Insbesondere die Form des Oberkörpers mit der Betonung der breiten Schultern bei Männern muß noch eingehend mit Hinblick auf ihre Bedeutung für die Wurfleistungen untersucht werden.

Man muß sich darüber im Klaren sein, daß jede komplexe Bewegung unter Beteiligung mehrerer Körperteile sich naturgemäß aus Rotationen zusammensetzt, weil die einzelnen Körperteile über Gelenke verbunden sind, die nur rotatorische Bewegungen relativ zueinander zulassen. Während die Trägheitsgröße im Falle einer geradlinigen Bewegung einfach nur die Maße des bewegten Körpers ist, sieht die Sache bei einer Rotation ganz anders aus. Die Trägheitsgröße der Rotation ist das Trägheitsmoment und bei diesem spielt die Geometrie eine größere Rolle als die Masse. Der Beitrag, den ein Massenpunkt zum Trägheitsmoment eines Körpers leistet ist proportional zur Masse dieses Punktes und zum Quadrat seines Abstandes von der Rotationsachse. Die Körperproportionen spielen also eine zentrale Rolle für die Leistungsfähigkeit beim Werfen und ich denke, daß sie insbesondere bei Männern genau dafür optimiert worden sind. Das erkennt man allein schon daran, daß die Körperproportionen von Baseballpitchern, die Abwurfgeschwindigkeiten von 160 km/h erreichen nicht aus dem Rahmen fallen - ganz abgesehen davon, daß diese Geschwindigkeit bereits für sich genommen eine Anpassungsleistung vermuten läßt.

Hinsichtlich der Leistungsfähigkeit von Schimpansen im Vergleich zu Menschen gibt es übrigens durchaus unterschiedliche Ansichten. So hat mir Prof. Boesch, der Schimpansen in freier Wildbahn beobachtet hat, erzählt, daß er von deren Imponierveranstaltungen nicht sonderlich beeindruckt gewesen sei. Er selbst habe früher Rugby gespielt und im Vergleich zu einem ordentlichen Bodycheck bei Menschen sei das, was die Schimpansen geboten hätten eher bescheiden gewesen. Nun kommt gerade bei einem Bodycheck die menschliche Fähigkeit zum tragen, den Körper dazu einzusetzen die Schulter des Wurfarmes zu beschleunigen. Prof. Boesch fühlte sich also hinsichtlich eines Leistungsmerkmals überlegen, für das sein Körperbau optimiert worden ist. Berichte über die Überlegenheit von Schimpansen drehen sich aber meistens um die Kraft der Arme und Hände, die diese infolge ihrer Anpassungen ans Klettern benötigen.

Es dürfte daher kein Problem sein beim Rugby gegen einen Schimpansen anzutreten - aber beim Fingerhakelt sollte man dies tunlichst vermeiden - so ein Finger ist schnell abgerissen.

Eine Verlängerung des Unterarms beim Menschen - die ja mit Hinblick auf den Atlatl als sinnvoll erscheinen mag - unterblieb vermutlich mit Rücksicht auf die Zusatzbeschleunigung aus dem Handgelenk. Man muß auch bedenken, daß die höhere Reichweite unter Einsatz einer Speerschleuder damit erkauft wurde, daß man leichtere Wurfgeschosse zum Einsatz brachte. Bei einem spitzen Wurfspeer, der in den Körper eindrang und Stichverletzungen zufügte, war dies auch in Ordnung. Menschen haben sich aber auf die Nutzung geworfener Steine spezialisiert. Das waren stumpfe Impulswaffen, deren Masse eine bedeutende Rolle für ihre Wirksamkeit spielte. Es mußte also ein Kompromiß zwischen Abwurfgeschwindigkeit/Reichweite einerseits und Gewicht andererseits gefunden werden. Der zu optimierende Wert könnte z.B. die kinetische Energie pro Aufschlagsfläche gewesen sein.
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Edukir
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Beitrag(#1576235) Verfasst am: 24.11.2010, 11:33    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Zitat:
[quote="Lamarck" postid=1576167]







Die Somatotopik bietet doch einigen Aufschluss. Konstruktiv nahezu einzigartig ist der Präzisionsgriff des Menschen, den schon mindestens der Neandertaler auszuführen in der Lage war (Daneben konnte bereits Bambiraptor mit zwei Fingern greifen). Natürlich spielt der Präzisionsgriff beim (einarmigen) Werfen eine Rolle - ist hierzu aber konstruktive Voraussetzung (d. h. erst Präzionsgriff, dann dadurch Potential zum präzisen Werfen). Mithin ist die Fähigkeit zum Werfen konstruktiv ein Abfallprodukt des universellen Präzisionsgriffs - ungeachtet der Tatsache, dass die Fähigkeit zum Werfen Selektionsvorteile bieten kann.


Wieviel Unsinn willst du hier eigentlich noch verbreiten? Der Präzisionsgriff soll nun die konstruktive Voraussetzung fürs Werfen sein - ungeachtet der Tatsache, daß der Mensch bei weitem nicht der einzige Primat ist, bei dem das Werfen beobachtet werden kann. Nebenbei bemerkt kommt der Präzisionsgriff bei der Verwendung von Wurfspeeren überhaupt nicht zum Einsatz.


Zuletzt bearbeitet von Edukir am 24.11.2010, 11:43, insgesamt einmal bearbeitet
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Darwin Upheaval
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Beitrag(#1576236) Verfasst am: 24.11.2010, 11:35    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Lamarck hat folgendes geschrieben:
Es wird also konstatiert, dass bei 'Anpassung' die 'Keimbahn' in einer gewissen Relation mit 'Umwelt' steht. Über die Randbedingung 'Umwelt' ergibt sich somit ein Erklärungswert. Ohne diese "Ausschließlichkeit" ist der Begriff der Anpassung synonym zu einem "Ist so geworden, weil es so geworden ist".


Es geschehen noch Zeichen und Wunder - das aus dem Munde eines Radikalkonstruktivisten. Dann lass uns den Gedanken mal am Beispiel neuronaler Verdrahtungen und viabler Weltbilder durchspielen... Mr. Green
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Darwin Upheaval
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Beitrag(#1576242) Verfasst am: 24.11.2010, 11:44    Titel: Antworten mit Zitat

kereng hat folgendes geschrieben:
Messi hat folgendes geschrieben:
leer -alae

Steht "Th." für "Tidenhub"?


"Flut" ist wahrscheinlich die aramäische Bezeichnung für Roter Riese, der in den gnostischen Evangelien erwähnt wird. Dann ist "Th." in diesem Zusammenhang die Abkürzung für Theodor Schmidt-Kaler, der an der Universität Bonn auf dem Gebiet der Altersbestimmung galaktischer Überriesen habilitiert wurde... Teufel
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Lamarck
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Beitrag(#1576288) Verfasst am: 24.11.2010, 13:35    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Hi Edukir!


Edukir hat folgendes geschrieben:

Lamarck hat folgendes geschrieben:

[...]
Die Somatotopik bietet doch einigen Aufschluss. Konstruktiv nahezu einzigartig ist der Präzisionsgriff des Menschen, den schon mindestens der Neandertaler auszuführen in der Lage war (Daneben konnte bereits Bambiraptor mit zwei Fingern greifen). Natürlich spielt der Präzisionsgriff beim (einarmigen) Werfen eine Rolle - ist hierzu aber konstruktive Voraussetzung (d. h. erst Präzionsgriff, dann dadurch Potential zum präzisen Werfen). Mithin ist die Fähigkeit zum Werfen konstruktiv ein Abfallprodukt des universellen Präzisionsgriffs - ungeachtet der Tatsache, dass die Fähigkeit zum Werfen Selektionsvorteile bieten kann.


Wieviel Unsinn willst du hier eigentlich noch verbreiten? Der Präzisionsgriff soll nun die konstruktive Voraussetzung fürs Werfen sein - ungeachtet der Tatsache, daß der Mensch bei weitem nicht der einzige Primat ist, bei dem das Werfen beobachtet werden kann. Nebenbei bemerkt kommt der Präzisionsgriff bei der Verwendung von Wurfspeeren überhaupt nicht zum Einsatz.


Du siehst, ich habe oben etwas hervorgehoben. Primaten sind nicht so gut in der olympischen Disziplin Speerwurf. Zum einen liegt es daran, dass in aller Regel ein Anlauf von einigen Schritten nötig ist, um hier halbwegs einen Blumentopf gewinnen zu können. Dazu ist aber anatomisch schon ein recht ausgefeilter aufrechter Gang mit der Möglichkeit zum komplexen Bewegungsablauf nötig (Der Speer kann zwar auch im Sitzen geworfen werden, das Ergebnis wird allerdings nicht berauschend sein). Gerade der Speerwurf erfordert komplexe Koordination:









Und zum anderen: Selbstverständlich kommt der Präzisionsgriff bei der Verwendung von Wurfspeeren zum Einsatz:









Es existieren hier an brauchbaren Grifftechniken:


  1. Daumen-Zeigefinger-Griff (die hier am häufigsten angewandte Technik)
  2. Daumen-Mittelfinger-Griff
  3. Zangengriff


Ist es nicht verwunderlich, dass Du auch hier eine gewisse Auswahl an Möglichkeiten hast?! Speerwurf mit Fäustlingen scheint allerdings nicht sonderlich ratsam ... .

Mithin solltest Du nun einigermaßen in der Lage sein, das dargebotene komplexe Zusammenspiel anatomischer Besonderheiten (aufrechter Gang, Präzisionsgriff, Motorik ...) des Menschen evolutiv nachzuvollziehen, nicht?





Cheers,

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Edukir
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Beitrag(#1576307) Verfasst am: 24.11.2010, 14:12    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Lamarck hat folgendes geschrieben:
Hi Edukir!


Edukir hat folgendes geschrieben:

Lamarck hat folgendes geschrieben:

[...]
Die Somatotopik bietet doch einigen Aufschluss. Konstruktiv nahezu einzigartig ist der Präzisionsgriff des Menschen, den schon mindestens der Neandertaler auszuführen in der Lage war (Daneben konnte bereits Bambiraptor mit zwei Fingern greifen). Natürlich spielt der Präzisionsgriff beim (einarmigen) Werfen eine Rolle - ist hierzu aber konstruktive Voraussetzung (d. h. erst Präzionsgriff, dann dadurch Potential zum präzisen Werfen). Mithin ist die Fähigkeit zum Werfen konstruktiv ein Abfallprodukt des universellen Präzisionsgriffs - ungeachtet der Tatsache, dass die Fähigkeit zum Werfen Selektionsvorteile bieten kann.


Wieviel Unsinn willst du hier eigentlich noch verbreiten? Der Präzisionsgriff soll nun die konstruktive Voraussetzung fürs Werfen sein - ungeachtet der Tatsache, daß der Mensch bei weitem nicht der einzige Primat ist, bei dem das Werfen beobachtet werden kann. Nebenbei bemerkt kommt der Präzisionsgriff bei der Verwendung von Wurfspeeren überhaupt nicht zum Einsatz.


Du siehst, ich habe oben etwas hervorgehoben. Primaten sind nicht so gut in der olympischen Disziplin Speerwurf. Zum einen liegt es daran, dass in aller Regel ein Anlauf von einigen Schritten nötig ist, um hier halbwegs einen Blumentopf gewinnen zu können. Dazu ist aber anatomisch schon ein recht ausgefeilter aufrechter Gang mit der Möglichkeit zum komplexen Bewegungsablauf nötig (Der Speer kann zwar auch im Sitzen geworfen werden, das Ergebnis wird allerdings nicht berauschend sein). Gerade der Speerwurf erfordert komplexe Koordination:









Und selbstverständlich kommt der Präzisionsgriff bei der Verwendung von Wurfspeeren zum Einsatz:









Es existieren hier an brauchbaren Grifftechniken:


  1. Daumen-Zeigefinger-Griff (die hier am häufigsten angewandte Technik)
  2. Daumen-Mittelfinger-Griff
  3. Zangengriff


Ist es nicht verwunderlich, dass Du auch hier eine gewisse Auswahl an Möglichkeiten hast?! Speerwurf mit Fäustlingen scheint allerdings hier nicht sonderlich ratsam ... .

Mithin solltest Du nun einigermaßen in der Lage sein, das dargebotene komplexe Zusammenspiel anatomischer Besonderheiten (aufrechter Gang, Präzisionsgriff, Motorik ...) des Menschen evolutiv nachzuvollziehen, nicht?





Cheers,

Lamarck


Schön, daß du nun mit Hinweisen auf Werfer - Anpassungen um dich wirfst, aber den Präzisionsgriff kann ich dennoch nicht erkennen. Selbst beim Daumen-Mittelfingergriff liegt der Speer nicht zwischen der Fingerkuppe des Zeigefingers und derjenigen des Daumen. Die anderen Finger sind erst recht nicht in Richtung Daumen orientiert. In allen drei Fällen wird der Speer von den Fingern nicht in erster Linie gegen die empfindliche Kuppe des Daumens gedrückt, sondern gegen dessen Basis. Damit berührt der gehaltene Gegenstand die Handfläche - das ist ein Ausschlußkriterium für das Vorliegen eines Präzisionsgriffs. Diese drei Griffe stehen dem Kraftgriff näher als dem Feingriff.

Deine Hervorhebung oben tut auch nichts zur Sache. Das ist nichts anderes, als die alte Behauptung, daß die Evolution prinzipiell nicht in der Lage sei komplexe Strukturen hervorzubringen (erst das Auge, dann die Fähigkeit zum Sehen). Richte dich mit deiner Kritik an Evolutionstheoretiker. Wenn dir dabei ein Durchbruch gelingt, will ich gerne bei dir in die Schule gehen.
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Lamarck
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Beitrag(#1576320) Verfasst am: 24.11.2010, 15:11    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Hi Edukir!


Edukir hat folgendes geschrieben:

Schön, daß du nun mit Hinweisen auf Werfer - Anpassungen um dich wirfst, [...]


Einmal mehr: Es kann keine "Anpassungen an Eigenschaften" geben - s. o. Eigenschaften sind Potentiale einer organismischen Konstruktion. Der Spielraum, wenn Du so willst. Dann kannst Du Dir überlegen, wie sich diese organismische Konstruktion über die Zeit verändern kann. Also:

    Falsch: Anpassung an 'das' Werfen

    Richtig: Anpassung (k) = (aufrechter Gang (Konstruktion) Präzisionsgriff (Konstruktion) n (Konstruktion) ... )



Ersteres ist finalistisches Denken mit unkritischen Vorbehalten ... .




Edukir hat folgendes geschrieben:

[...] aber den Präzisionsgriff kann ich dennoch nicht erkennen. Selbst beim Daumen-Mittelfingergriff liegt der Speer nicht zwischen der Fingerkuppe des Zeigefingers und derjenigen des Daumen. Die anderen Finger sind erst recht nicht in Richtung Daumen orientiert. In allen drei Fällen wird der Speer von den Fingern nicht in erster Linie gegen die empfindliche Kuppe des Daumens gedrückt, sondern gegen dessen Basis. Diese drei Griffe stehen dem Kraftgriff näher als dem Feingriff.


Der Präzisionsgriff dient der präzisen Führung der Gegenstände durch Daumen und Zeigefinger. Übrigens ist dies bei allen drei genannten Grifftechniken zum Speerwurf der Fall - man muss nur einmal genau hinschauen oder besser noch, es selbst ausprobieren. Immerhin soll mit dem Speer letztlich etwas getroffen werden.




Edukir hat folgendes geschrieben:

Deine Hervorhebung oben tut auch nichts zur Sache. Das ist nichts anderes, als die alte Behauptung, daß die Evolution prinzipiell nicht in der Lage sei komplexe Strukturen hervorzubringen.


Was willst Du denn damit? Selbstverständlich ist Evolution in der Lage, komplexe Strukturen hervorzubringen. Es funktioniert halt nur nicht so, wie Du denkst ... .

Du kannst es gerne auch über die Überlegung versuchen, warum der Mensch im Allgemeinen in der Lage ist, Speere zu werfen:

Konstruktiv ist hierzu 'aufrechter Gang' und 'Präzisionsgriff' nebst weiteren Erfordernissen unabdinglich. Das Potential zum 'Präzisionsgriff' kann sich allerdings erst nach dem 'aufrechten Gang' entfalten, was selbstverständlich nicht dagegen spricht, dass es selektiv hier zu postiven Rückkopplungen der konstruktiven Erfordernisse kommt etc. etc. pp. ... .




Edukir hat folgendes geschrieben:

Richte dich mit deiner Kritik an Evolutionstheoretiker.


Pfeifen

Welche Kritik? Welche Evolutionstheoretiker?




Edukir hat folgendes geschrieben:

Wenn dir dabei ein Durchbruch gelingt, [...]


Hierzu ein Durchbruch? - Ich bin selbstverständlich Dickbrettbohrer.




Edukir hat folgendes geschrieben:

[...] will ich gerne bei dir in die Schule gehen.



Ich nehme aber keinen, der meine Eingangsklausur nicht schafft ... .





Cheers,

Lamarck
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Zuletzt bearbeitet von Lamarck am 24.11.2010, 15:29, insgesamt einmal bearbeitet
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Beitrag(#1576330) Verfasst am: 24.11.2010, 15:28    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Zitat:


Der Präzisionsgriff dient der präzisen Führung der Gegenstände durch Daumen und Zeigefinger. Übrigens bei allen drei genannten Grifftechniken - man muss nur einmal genau hinschauen oder besser noch, es selbst ausprobieren.

Da ist dir wohl entgangen, daß ich den vorhergehenden Beitrag nacheditiert habe, also nochmal: Es gehört zur Definition des Präzisionsgriffs, daß der gehaltene Gegenstand die Handfläche nicht berühren darf.


Wo kommt übrigens nach deiner Vorstellung der Präzisionsgriff her? Und der aufrechte Gang? Und die "organismische Konstruktion?
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Lamarck
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Beitrag(#1576354) Verfasst am: 24.11.2010, 16:26    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Hi Edukir!


Lamarck hat folgendes geschrieben:

Edukir hat folgendes geschrieben:

Der Präzisionsgriff dient der präzisen Führung der Gegenstände durch Daumen und Zeigefinger. Übrigens bei allen drei genannten Grifftechniken - man muss nur einmal genau hinschauen oder besser noch, es selbst ausprobieren.

Da ist dir wohl entgangen, daß ich den vorhergehenden Beitrag nacheditiert habe, also nochmal: Es gehört zur Definition des Präzisionsgriffs, daß der gehaltene Gegenstand die Handfläche nicht berühren darf.


Ich pflege mich präzise auszudrücken:




Lamarck hat folgendes geschrieben:

Der Präzisionsgriff dient der präzisen Führung der Gegenstände durch Daumen und Zeigefinger.



Sowie:




Lamarck hat folgendes geschrieben:

Selbstverständlich kommt der Präzisionsgriff bei der Verwendung von Wurfspeeren zum Einsatz: [...]


Die unterschiedlichen Greifformen der Hand werden in zwei Grundformen unterteilt: Den Kraftgriff, geprägt durch Faustschluss sowie dem Präzisionsgriff. Für den letzteren lassen sich noch weitere Unterteilungen vornehmen - so etwa Spitzgriff bzw. Oppositionsgriff. Und jetzt: Selbstverständlich lassen sich Kraft- und Präzisionsgriff auch kombinieren. Das nun, was dem Kraftgriff beim Speerwurf zuzuordnen ist, ist hingegen marginal - der Speerschaft ist eben kein Treppengelände.

Interessant ist die Ansteuerung der Greifmotorik: Durchtrennung der Pyramidenbahn führt zum Verlust von Handgeschicklichkeit/Präzisionsgriff. Es existieren hier also zwei unterschiedliche motorische Systeme. Eine differenzierte distale Handmotorik steht hierbei im engen Zusammenhang mit einer ebenso anspruchsvollen bewussten Verarbeitung.




Edukir hat folgendes geschrieben:

Wo kommt übrigens nach deiner Vorstellung der Präzisionsgriff her? Und der aufrechte Gang?


Mmh, mal nachdenken:









Edukir hat folgendes geschrieben:

Und die "organismische Konstruktion?


In Näherung verweise ich auf meine SIG - ich muss heute noch einige geistig anspruchsvollere Dinge erledigen ... .





Cheers,

Lamarck
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„Nothing in Biology makes sense, except in the light of evolution.” (Theodosius Dobzhansky)

„If you can’t stand algebra, keep out of evolutionary biology.” (John Maynard Smith)

„Computers are to biology what mathematics is to physics.” (Harold Morowitz)
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Darwin Upheaval
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Beitrag(#1576375) Verfasst am: 24.11.2010, 17:02    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Lamarck hat folgendes geschrieben:
Edukir hat folgendes geschrieben:

Schön, daß du nun mit Hinweisen auf Werfer - Anpassungen um dich wirfst, [...]


Einmal mehr: Es kann keine "Anpassungen an Eigenschaften" geben - s. o. Eigenschaften sind Potentiale einer organismischen Konstruktion.


Es gibt aber auch relationale Eigenschaften, die durch Interaktion der Komponenten eines Systems hervortreten und über die "innere Fitness" eines Organismus entscheiden. Etwa die Induktionsbahnen betreffend, die in der Embryogenese wirksam werden. Hier wirkt also intraembryonale Selektion durch Anpassung an das Binnenmilieu und dessen Eigenschaften (besonders drastisch etwa bei der bicaudalen "headless"-Mutante von Drosophila). Aber was erzähle ich das einem radikalen Konstruktivisten, dem der Begriff der Umwelt (Gutmann lässt grüßen) eigentlich suspekt sein müsste zwinkern

Okay, der Begriff der Umwelt ist natürlich systemabhängig definiert und daher in seiner Bedeutung mehrschichtig, so wie man eigentlich (in Anlehnung an Wuketits) von einer Mehrschichten-Selektion sprechen müsste...

Wuketits, F.M. (1988) Evolutionstheorien. Historische Voraussetzungen, Positionen, Kritik. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt
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fwo
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Beitrag(#1576413) Verfasst am: 24.11.2010, 18:41    Titel: Antworten mit Zitat

Lamarck hat folgendes geschrieben:
.....
Der Anpassungsbegriff ist nicht unproblematisch. Allerdings ist er keineswegs dogmatisch, sondern axiomatisch - wie es eben so üblich ist bei Definitionen (hier: Operationale Definition). Es wird also konstatiert, dass bei 'Anpassung' die 'Keimbahn' in einer gewissen Relation mit 'Umwelt' steht. Über die Randbedingung 'Umwelt' ergibt sich somit ein Erklärungswert. Ohne diese "Ausschließlichkeit" ist der Begriff der Anpassung synonym zu einem "Ist so geworden, weil es so geworden ist".

Es ist überhaupt nicht "so geworden, weil ....", sondern es hat immer nur "überlebt, weil es hinreichend passte.". Aber davon mal ab. Wenn Du hier axiomatisch nennst, kann es im Hilbert'schen Sinne sein - unmittelbar einleuchtend ist ja nicht - da die Biologie aber keine Mathematik ist, halte ich ein derartiges Vorgehen für sinnlos, wir gelangen dann bei der einfach Sprachregelung an, dann macht es wiederum keinen Sinn zu sagen, "das geht aber nicht, weil die Anpassung immer von der Umwelt ausgeht". Wir haben dann nämlich keinen Begründung vor uns, sondern nur einen Hinweis auf den Verstoß gegen die Sprachregelung. Na und?
Gesetzte Axiome bestätigen sich entweder selbst, bzw. "funktionieren", das gelingt in der Mathematik, oder sie sind diesen Namen nicht wert. Und wenn unter dieser Vorraussetzung jemand kommt, um Halt zu schreien, weil ein Axiom verletzt ist, der weist diesem Teil einen Wahrheitsaspekt zu, den es nicht hat und erhebt es damit zum Dogma - man könnte es auch als Glaubensbekenntnis bezeichnen und eine Religion drauf gründen .....
Die operationale Definition passt hier auch nicht so richtig, weil die hier postulierte Subjekt-Objekt-Bestimmung das Ganze weder im wissenschaftlichen Sinn messbarer macht, noch sonst einen Erkenntniswert bringt (s.u.) - wir landen auch hier bei einer einfachen Sprachregelung (s.o.).

Mein Vorschlag: Lassen wir dieses allgemeine Gefasel und wenden uns der Sache zu:

Lamarck hat folgendes geschrieben:

fwo hat folgendes geschrieben:

Ich nehme an, wir sind uns einig darüber, dass jede Spezialisierung letztendlich in einer wechselseitigen Anpassung = Coevolution von Verhalten und Anatomie stattfinden muss, sonst kämen wir nicht sehr weit. Die Frage ist, was anfängt, und da scheint es mir sinnvoller vom Verhalten auszugehen, weil ein verändertes Verhalten sich am Anfang rein statistisch äußern kann, aber schon dabei automatisch zu einem veränderten Selektionsdruck in der Anatomie führt.


Nein. 'Verhalten' sind Freiheitsgrade organismischer Konstruktionen. Daran ändert sich auch nichts, wenn dieses Verhalten (im Extremfall die menschliche Kultur/Kulturevolution) entsprechend rückkoppeln (und wenn Du die Sache von der Keimbahn aus betrachtest, gehört Kultur ebenso zur 'Umwelt' des Menschen wie der von den Cyanobakterien produzierte Sauerstoff zur Umwelt der Cyanobakterien gehört).

Apropos 'Selektionsdruck': Wer drückt denn da? zwinkern

Wer da drückt, halte ich für eine reine Sache des Standpunktes. Genauso übrigens wie die Anpassung, die vor der Feststellung ihres "Erfolges" nur eine ungerichtete Änderung war, die als solche immer bei einem Individuum anfängt. Und was mich da interessiert, ist die Fragestellung, wie initiale Änderungen aussehen, die geeignet sind, über eine Beeinflussung der je individuellen Reproduktionsfähigkeit in der Abfolge der Generationen Änderungsketten in Gang zu setzen, deren Ergebnis dann von uns als Anpassung begriffen wird.


Lamarck hat folgendes geschrieben:

fwo hat folgendes geschrieben:

Auch veränderte Umweltbedingungen selektieren Anpassungen an sie nur durch das bereits angepasste Verhalten. Und ein geändertes Verhalten führt auch regelmäßig in / zu andere/n Umweltbedingungen.


D. h.: Negative Rückkopplung.

Rückkopplung ja - die kann aber auch positiv sein, das heißt verstärken. Zum Beispiel, wenn ein geändertes Verhalten eine bereits vorhandene aber bis dahin nicht speziell genutzte Resource erschließt, also eine neue Nische öffnet ....
Lamarck hat folgendes geschrieben:

fwo hat folgendes geschrieben:

Als Beispiel mag der Übergang vom Wasser zum Land dienen: Wie stelle ich mir den vor? Sind da ganz viele Tümpel ausgetrocknet und in einem haben die es geschafft? Mein persönlicher Vorschlag ist, dass da welche vom Schwimmen zum Krauchen übergegangen sind und sich dann über weitere Verhaltensänderungen langsam über die zwangsläufig immer existierenden Uferzonen langsam an Land begeben haben. Ein derartiges Modell gibt der Entwicklung auch mehr Gelegenheit.


Schon besser: Die Transformation von n nach n' als Anpassung der organismischen Konstruktion von der Umweltbedingung 'Wasser' an die Umweltbedingung 'Land' aus Gründen der Rekonstruktion.

Schau Dir diesen einmal an: Bleibt in temporären Gewässern als letzter übrig, verfügt als Fischlarve über Außenkiemen, ist adult aufgrund asymmetrischer Lungenflügel auf atmosphärischen Sauerstoff angewiesen (Bzw.: Ist unempfindlich gegenüber Sauerstoffmangel im Gewässer) und kann als Bodenfisch auf gewisse Weise mit seinen , 'Paddeln' laufen - auch recht ausgiebig über Land.

[img]Polypterus spec.[/img]
...
Es gibt allerdings als Fisch noch eine ganze Reihe weiterer Strategien, um mit austrocknenden Gewässern zurechtzukommen, aber damit sollte der Anpassungsbegriff hinreichend geklärt sein.
....

Das ist ein hübsches Beispiel eines im Übergang steckengebliebenen Lebensformtyps. Aber was willst Du damit belegen? Du hättest auch gleich einen Lungenfisch nehmen können. Weil die Sarcopterygier, zu denen die gehören, sich noch ein bisschen früher von den restlichen Knochenfischen getrennt haben, wäre es dann nur offensichtlicher, dass wir da etwas sehen, das uns als Anpassung erscheint, aber in Wirklichkeit ein Relikt einer Übergangsform ist, das in Übergangslandschaften überlebt hat. Wenn es in Anpassung an diese Landschaft entstanden wäre, wäre es doch verwunderlich, dass nicht Vergleichbares auch von den moderneren Knochenfischen ausging.

Bei einer Lebensform, deren Fortbewegungsweise sie vom Wasser unabhängig macht, indem sie nicht mehr schwimmt, sondern auf Extremitäten stakst, ist der Übergang aufs Land in der Uferzone ein regelmäßiger "Unfall", reversibel und nicht katastrophal und körperliche Änderungen, die dieses Verhalten begünstigen, werden durch die Erschließung neuer Resourcen belohnt, haben also, solange weder Biotop noch Nische bereits besetzt sind, einen direkten Einfluss auf die Fitness.

Ausgehend von der primären Verhaltensänderung brauche ich also keine Katastrophenszenarien, um Entwicklungslinien zu erklären, weil das geänderte Verhalten die neue Welt langsam erschließt. Das ist der Grund, aus dem ich oben formuliert habe, dass ein derartiges Modell der Entwicklung mehr Gelegenheit gibt.

fwo
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Ich glaube an die Existenz der Welt in der ich lebe.

The skills you use to produce the right answer are exactly the same skills you use to evaluate the answer. Isso.

Es gibt keinen Gott. Also: Jesus war nur ein Bankert und alle Propheten hatten einfach einen an der Waffel (wenn es sie überhaupt gab).
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Shadaik
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Beitrag(#1576731) Verfasst am: 25.11.2010, 10:37    Titel: Re: Warum haben Menschen ein großes Gehirn? Antworten mit Zitat

Lamarck hat folgendes geschrieben:
Hi Edukir!


Edukir hat folgendes geschrieben:

Schön, daß du nun mit Hinweisen auf Werfer - Anpassungen um dich wirfst, [...]


Einmal mehr: Es kann keine "Anpassungen an Eigenschaften" geben - s. o. Eigenschaften sind Potentiale einer organismischen Konstruktion. Der Spielraum, wenn Du so willst. Dann kannst Du Dir überlegen, wie sich diese organismische Konstruktion über die Zeit verändern kann. Also:

    Falsch: Anpassung an 'das' Werfen

    Richtig: Anpassung (k) = (aufrechter Gang (Konstruktion) Präzisionsgriff (Konstruktion) n (Konstruktion) ... )



Ersteres ist finalistisches Denken mit unkritischen Vorbehalten ... .
Nicht ganz. Wenn die Tätigkeit/Eigenschaft des Werfers bereits vorhanden ist, aber optimiert wird, kann man durchaus von einer Anpassung sprechen.
Natürlich nicht beim Individuum, bei der Spezies aber durchaus. Anpasung = evolutive Reaktion der Population auf einen Selektionsdruck
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Edukir
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Beitrag(#1576897) Verfasst am: 25.11.2010, 16:48    Titel: Wie funktioniert organische Evolution? Antworten mit Zitat

Ich werde hier immer wieder darüber belehrt, wie die Evolution angeblich funktioniert. Es erscheint daher angebracht darauf hin zu weisen, daß ich mich mit dieser Frage im Rahmen der Arbeit am "Zeitalter der Werfer" durchaus auseinandergesetzt habe und mir auch eine Meinung gebildet habe, die in einem Buchkapitel vorgestellt wurde.
Ich sah bisher keinen Anlaß an den Grundzügen meiner Vorstellungen zu rütteln. Die neueren Erkenntnisse der evolutionären Entwicklungsbiologie hatte ich vor 11 Jahren natürlich noch nicht berücksichtigt - dies erfordert aber lediglich auf der Molekularbiologischen Ebene einige Korrekturen. Davon abgesehen habe ich zu einigen Punkten Stellung genommen, die nun im Gefolge der EvoDevo vermehrt diskutiert werden und im Prinzip auch eine Möglichkeit aufgezeigt, wie man zu einer neuen Synthese unter Einbeziehung der EvoDevo gelangen kann. Ich füge hier das betreffende Kapitel in deutscher Sprache bei, da die Neigung mein Buch auf Englisch zu lesen offensichtlich sehr schwach ausgeprägt ist (oder haben es einige schon gelesen, ohne dazu Stellung zu nehmen?).
Das Bild ist mir beim Übertragen irgendwie abhanden gekommen - ist aber nicht allzu tiefschürfend und wird im Text ja auch im Prinzip beschrieben. Wer es sehen will, kann dem Link zu meinem Buch folgen, den ich im ersten Beitrag gesetzt habe.

Für die Werfer-Hypothese sind derartige evolutionstheoretische Erörterungen übrigens kaum von Belang. Ich habe mich ausdrücklich darum bemüht, bei der Identifikation der Werfer-Adaptation funktionale Aspekte in den Vordergrund zu stellen und Thesen darüber, wie die Evolution Anpassungen hervorbringt außen vor zu lassen.

Hier also das Kapitel 6.4 aus dem "Zeitalter der Werfer", einem Buch, das in 1 Monat 11 Jahre alt wird:
Zitat:

6.4 Organische Evolution

Ich habe bereits angekündigt, daß man nicht darum herum kommt, sich damit zu
beschäftigen, wie organische und kulturelle Evolution funktionieren, wenn man
auch nur eine Chance haben will, den Verlauf der menschlichen Evolution in den
letzten 1,8 MJ zu verstehen. Da der Spekulationsspielraum für diesen Zeitraum sehr
hoch ist, liegt es nahe zu versuchen, ihn durch Heranziehung evolutionstheo-
retischer Überlegungen einzuschränken. Die Einschränkung des Spekulations-
spielraumes erkauft man dabei allerdings damit, daß die Ergebnisse der
Überlegungen nun unmittelbar von der Qualität der evolutionstheoretischen
Arbeitshypothesen abhängen. Sind diese Arbeitshypothesen falsch, dann gilt dies in
der Regel auch für die Schlußfolgerungen über die menschliche Evolution. Aus
eben diesem Grund habe ich mich bei der Betrachtung der Hominidenevolution bis
zum Erscheinen des frühen Homo erectus darauf beschränkt zu untersuchen,
welche Anpassungen stattgefunden haben, ohne Spekulationen darüber anzustellen,
wie diese Anpassungen zustandekamen.
Das Ziel der nun folgenden Überlegungen ist die Bereitstellung von Arbeits-
hypothesen zu folgenden Fragestellungen:
~ Welche Eigenschaften werden im Verlauf der organischen Evolution optimiert?
~ Werden auch im Verlauf der kulturellen Evolution Eigenschaften optimiert und
Wenn ja, dann welche?
~ Welchen zeitlichen Verlauf weisen die Optimierungsprozesse auf
(Evolutionskinetik)?
~ In welcher Weise wirken kulturelle und organische Evolution aufeinander ein?
In diesem Kapitel werden Arbeitshypothesen zur ersten und, soweit es die
organische Evolution betrifft, zur dritten Frage aufgestellt. Mit der kulturellen
Evolution befaßt sich das nächste Kapitel.
Bei der Arbeit am SWAK-Modell der Hominidenevolution hatte ich mehrmals den
Eindruck, kein wirklich neues Terrain zu betreten, sondern lediglich Darwins
Spuren zu folgen, bzw. einige bereits von ihm aufgeworfene Fragen näher zu
untersuchen. Auch wenn es nun darum geht, sich über einige wichtige Aspekte der
Evolution klar zu werden, tut man meiner Meinung nach gut daran, Darwin im
Auge zu behalten, obwohl - oder vielleicht gerade weil - er nicht die geringste
Ahnung davon hatte, wie erbliche Informationen fixiert sind.
Ich habe einen enormen Respekt vor Darwins Aussagen zur Evolution. Darwin
hatte bei seiner Arbeit einen sehr dankbaren, wenn auch sehr aufwendigen Ansatz.
Seine Theorien basieren auf einer Unmenge von Beobachtungen und haben damit
einen stark deskriptiven Charakter. Da Darwins Grundannahmen ganz
offensichtlich richtig waren, verfügte er darüber hinaus über ein hervorragendes
Instrumentarium zur Interpretation seiner Daten. Man muß bei Darwin also
257

unterscheiden zwischen seinen Grundannahmen, zu denen die Annahme der
Evolution als Wechselspiel zwischen Variation und Selektion gehört, und den
Schlußfolgerungen, zu denen er durch Anwendung dieser Annahmen auf seine
Beobachtungen gelangte. Seine Folgerungen waren durch eine Fülle von Fakten an
die Grundannahmen gebunden und damit alles andere, als unabhängige Annahmen.
Wenn Jemand aufgrund neuer Erkenntnisse (z.B. über die der Vererbung
zugrundeliegenden, molekularbiologischen Prozesse) zu Aussagen gelangt, die
Darwins Behauptungen widersprechen (z.B. der Behauptung, daß die der Evolution
zugrundeliegenden Variationen klein sind), dann widersprechen diese Aussagen in
der Regel automatisch entweder Darwins inzwischen vielfach verifizierten
Grundannahmen, oder seinem empirischen Material. In beiden Fällen haben die
neuen Aussagen einen schweren Stand.
Dazu kommt, daß Darwin seine Evolutionstheorie selbst entwickelt hat. Als
"Erfinder" dieses Gedankengebäudes hatte er einen ganz anderen Zugang zu den
Daten und ein tieferes Verständnis der Zusammenhänge als irgendeiner seiner
"Schüler". Wir werden meiner Ansicht nach erst dann verstehen, wie die Evolution
funktioniert, wenn wir erklären können, warum sie auf der Ebene der Individuen,
mit der sich Darwin auseinandergesetzt hat, gerade so funktioniert, wie Darwin es
beschrieben hat.
Die Beschäftigung mit den Genen, den "Elementarteilchen" der Evolution verleitet
leicht dazu, ältere Erkenntnisse vorschnell in Zweifel zu ziehen, da deren Entdecker
von wichtigen Aspekten der Evolution - eben von den Eigenschaften der
Erbinformationsträger - keinen blassen Schimmer gehabt haben. Widersprüche der
eigenen, neu entwickelten Vorstellungen zu althergebrachten Ansichten werden
schnell der Unkenntnis derjenigen zugeschrieben, die diese Ansichten ihrerzeit
vertraten. Moderne Vertreter der gleichen, vermeintlich überholten, Ansichten
laufen Gefahr milde belächelt zu werden. Eine ähnliche Haltung legen auch manche
Soziobiologen ihnen heftig widersprechenden Soziologen gegenüber an den Tag.
Häufig sind jedoch gerade derartige Widersprüche Zeichen für Unzulänglichkeiten
des neuen Modells und deren saubere Klärung bietet wertvolle Möglichkeiten das
Modell zu verbessern.
Man muß solchen Widersprüchen also unter der Prämisse nachgehen, daß etwas
dran sein sollte, bis man deren Herkunft aufgeklärt hat. Statt dessen neigt man eher
dazu Argumente zu suchen, die die Glaubwürdigkeit der Information, die nicht ins
eigene Bild paßt, erschüttern und es einem erlauben sich vor einer ernsthaften
Auseinandersetzung mit dieser Information zu drücken. Eine potentiell fruchtbare
Konfrontation zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Hypothesen entartet zu
einem Stellungskampf der Wissenschaftler, der sich als Auseinandersetzung um die
Rangordnung oder um Reviere eher verstehen läßt, als als gemeinsame
Anstrengung im Dienste des wissenschaftlichen Fortschritts. Unser Primatenerbe
bietet offensichtlich alles andere, als ideale Voraussetzungen für wissenschaftliche
Betätigung.
258


Auch die klassische Thermodynamik basiert auf makroskopischen Beobachtungen.
Ein tieferes Verständnis dabei eingeführter Größen, wie z.B. Wärmekapazität oder
Ausdehnungskoeffizient, ergibt sich erst, wenn man die Vorgänge auf molekularem
Niveau untersucht. Kein Thermodynamiker hätte deswegen jedoch eine kinetische
Gastheorie akzeptiert, die in ihren Vorhersagen der klassischen Thermodynamik
widerspricht.
Wie funktioniert nun die organische Evolution bei höheren Säugern, zu denen ja
auch der Mensch und alle seine Vorfahren im in diesem Buch betrachteten
Evolutionszeitraum gehören bzw. gehörten? Die Antwort auf diese Frage ist nicht
so einfach und vor allem nicht so eindeutig, wie man es vielleicht nach über
hundert Jahren Evolutionsforschung erwarten würde. Während es längst keinen
vertretbaren Zweifel mehr darüber geben kann, daß der Mensch ein Produkt der
Evolution ist, ist die Frage, wie diese Evolution funktioniert, noch weit davon
entfernt, abschließend geklärt zu sein. Ich glaube jedoch, daß man auf der
Grundlage vorhandenen Wissens brauchbare Arbeitshypothesen formulieren kann
mit denen sich die oben angesprochenen Fragen beantworten lassen.
Es herrscht Einigkeit darüber, daß die Erbinformation in komplexen Ketten
organischer Moleküle, der DNA, gespeichert wird. Diese ist aus vier verschiedenen
Bausteinen aufgebaut und ihr Informationsgehalt ergibt sich aus der Reihenfolge in
der diese Bausteine angeordnet sind. Abschnitte der DNA dienen als Anweisung
für die Synthese von Proteinen, die wiederum verschiedenste Aufgaben
übernehmen. Unter einem Gen versteht man einen Abschnitt der DNA, der eine
funktionale Einheit bildet. Es gibt Strukturgene, die Proteine kodieren und
Regulatorgene, die die Expression der Strukturgene steuern.
Die Unterschiede im genetischen Material (Genom) zweier beliebiger Individuen
einer Population sind erheblich. Das tatsächliche Ausmaß dieser Unterschiede hat
die Evolutionstheoretiker seinerzeit überrascht. Im Genom eines sich geschlechtlich
fortpflanzenden Lebewesens liegen Gene in zwei Versionen vor, eine stammt von
der Mutter, die andere vom Vater. In etwa 10% der Fälle unterscheidet sich das
eine Gen vom anderen, man spricht dann von zwei verschiedenen Allelen dieses
Gens. In der Gesamtpopulation findet man zu etwa 30% der Gene unterschiedliche
Allele. Zu manchen dieser Gene gibt es mehr als zwanzig verschiedene Allele im
Genpool (Lewin, 1998). Diese Unterschiede in den Genotypen bilden wohl die
Grundlage der beobachteten, teilweise bedeutenden Variabilität der Phänotypen bei
den Individuen einer Population. Sie gehen also irgendwie mit Unterschieden im
Körperbau und wohl auch im Verhalten einher. Daraus ergibt sich wiederum
möglicherweise ein Vor- oder ein Nachteil für den Fortpflanzungserfolg dieser
Individuen relativ zueinander und damit für das Ausmaß, in dem sich die Gene
einzelner Individuen in der Population ausbreiten.
Bei der sexuellen Fortpflanzung wird allerdings nicht das gesamte Genom
weitergegeben, sondern jeweils nur eine Hälfte des genetischen Materials, das
zeitweilig ein Genom gebildet hat, die andere Hälfte, die zur Erstellung eines neuen
259

Genoms erforderlich ist, stellt der Sexualpartner. Vom Standpunkt der Gene aus
betrachtet stellt das jeweilige Genom so etwas, wie eine "Arbeitsgruppe" dar, an
der sie mit dem "Ziel" teilnehmen, eigene Kopien in möglichst vielen neuen und
hoffentlich ihrerseits erfolgreichen Genomen unterzubringen. Die enorme
Leistungsfähigkeit dieser "Arbeitsgruppen" läßt sich an der Komplexität und den
beeindruckenden Anpassungsleistungen der Individuen ablesen.
Für jedes einzelne Gen eines Genoms beträgt die Chance, bei einem neuen Genom
in Form einer Kopie dabei zu sein bei sexueller Fortpflanzung 50%. Im Falle
asexueller Fortpflanzung, bei der das gesamte Genom an die Folgegeneration
weitergegeben wird, würde sie 100% betragen. Außerdem folgt bei asexueller
Fortpflanzung aus der Leistungsfähigkeit des Vorfahrengenoms mit hoher
Wahrscheinlichkeit eine ebenso hohe Leistungsfähigkeit des Nachkommen-
genoms. Dies trifft nur dann nicht zu, wenn das Nachkommengenom durch
Mutationen nachteilig verändert wird, oder wenn die "Umwelt" sich verändert, so
daß der vom Genom erzeugte Phänotyp nicht mehr so gut angepaßt ist. Die sexuelle
Fortpflanzung wird daher als vom Standpunkt der Gene ausgesprochen "teure"
Anpassungsleistung interpretiert, die für eine hohe Variabilität der Geno- und der
Phänotypen sorgt. Diese Variabilität erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß einige der
Tochtergenome, denen die Gene ihre Kopien zur weiteren Verbreitung
"anvertrauen", auch im Falle sich ändernder Umweltbedingungen zu den weiterhin
erfolgreichen zählen werden.
Anders ausgedrückt besagt diese Interpretation, daß sexuelle Fortpflanzung trotz
der hohen für die Gene damit verbundenen Kosten so erfolgreich ist, weil die
Sexualität die Möglichkeit bietet, sich schneller genetisch an veränderte
Umweltbedingungen anzupassen. Das gesamte, komplexe Funktionsgefüge der
sexuellen Fortpflanzung wird also als Anpassungsleistung zur Verbesserung der
Evolutionsfähigkeit angesehen. Und das ergibt durchaus einen Sinn:
Wenn wir uns ein zeitgenössisches, höheres Lebewesen anschauen, sagen wir mal -
ohne Beschränkung der Allgemeinheit - ein Säugetier, so haben wir es bei jedem
seiner Gene mit dem letzten Vertreter einer Linie von Genen zu tun, die es teilweise
über Millionen von Generationen immer wieder und ohne auch nur einmal
auszusetzen, geschafft haben, an Genomen "mitzuarbeiten", die der Selektion
aktuelle, oft modifizierte Phänotyp-Modelle vorlegten, die besser geeignet waren
den Kampf um die Fortpflanzungsressourcen unter den jeweils geltenden
Bedingungen erfolgreich zu bestreiten. Zeiten schnellen Wandels, die veränderte
Phänotypen bevorzugten, überstanden vor allem Genlinien, die auch in veränderten
Genotypen vertreten waren. So gesehen gehören Anpassungen an die
Evolutionsfähigkeit zu den potentiell vielversprechendsten Anpassungen der
Evolutionsgeschichte überhaupt.
Wir müssen uns also mit dem Gedanken vertraut machen, daß nicht nur Lebewesen
als solche Produkte der Evolution sind. Die Evolution selbst ist ein im Laufe der
Evolutionsgeschichte optimiertes Optimierungsverfahren, dessen Eigenschaften die
Gene mitbestimmen und dessen sich die Gene "bedienen", um mit möglichst hoher
260


Wahrscheinlichkeit bei den erfolgreichen Genotypen der Zukunft in Form von
Kopien dabei zu sein. Ich glaube, daß diese Einsicht nicht allzu weit verbreitet ist,
obwohl sie in der allgemein bekannten Behauptung, die Sexualität würde dazu
"dienen", die für die Evolution benötigte Variabilität bereitzustellen, enthalten ist.
Der hochkomplizierte und vom Standpunkt der Fitneß sehr teure Funktionskomplex
der geschlechtlichen Fortpflanzung wird also von vielen Wissenschaftlern im
Prinzip als eine Anpassung an die Evolutionsfähigkeit behandelt. Dies spiegelt
wider, wie hoch der evolutionäre Wert der Evolutionsfähigkeit tatsächlich ist und
legt nahe nach weiteren Anpassungen dieser Art zu suchen.
Es ist ziemlich widersprüchlich anzunehmen, daß höhere Organismen einerseits ein
so kompliziertes, teures und mächtiges Werkzeug, wie die sexuelle Fortpflanzung,
entwickelt haben, um ihre Anpassungsfähigkeit zu verbessern, daß der Verlauf der
Evolution andererseits aber immer noch von zufälligen Mutationen bestimmt wird.
Das entspricht in etwa der Forderung an modeme Programmierer hochintegrierte
Computerprogramme durch zufällige Eingriffe in deren binären Code an neue
Aufgaben anzupassen.
Der Vergleich mit Computerprogrammen hinkt hierbei keineswegs. Gute
Programmierer gestalten den Aufbau ihrer Programme so, daß diese mit relativ
geringem Aufwand an neue, ähnliche Aufgaben angepaßt werden können, auch
wenn man nicht im Voraus weiß, welche Anforderungen die neuen Aufgaben stellen
werden. Die Programme werden in funktionale Einheiten (units) zerlegt, die jeweils
für sich durch wohldefinierte Variablen an verschiedene Aufgaben angepaßt
werden können. Die Gene sich sexuell fortpflanzender Organismen haben vielleicht
ähnliche Maßnahmen ergriffen um ihre "Programme", also die Geno- und
Phänotypen anpassen zu können, wie Programmierer. Hierzu ein Zitat von Gerd B.
Müller (Müller, 1994):
"Das Beispiel der Transformation der Extremitätenmuster zeigt, daß die Mehrzahl der
phylogenetischen Struktur- und Formänderungen durch die Modulierung zellulärer
und suprazellulärer Entwicklungsprozesse erreicht wird und nicht durch genetische
Veränderungen auf dem Niveau von Strukturgenen. Das molekulare Repertoire der
beteiligen Zellen bleibt gleich. Allerdings gibt es auch Fälle, wo Veränderungen von
Strukturgenen möglicherweise einen direkten Einfluß auf die morphologische
Evolution haben ....
Wie die klassischen Diagramme von D' Arcy Thompson (1917) zeigen, beruhen
phylogenetische Formänderungen vorwiegend auf Proportionsverschiebungen von
Körperteilen. Alle dafür notwendigen relativen Vergrößerungen und Verkleinerungen
von Bauelementen eines Organismus können durch die Modifikation quantitativer
Entwicklungsparameter erreicht werden. Diese Parameter werden vor allem über die
zeitliche Kontrolle von Entwicklungsprozessen beeinflußt. Jeder Entwicklungsprozess,
ob er sich nun auf molekularer, zellulärer, oder suprazellulärer Ebene abspielt, ist durch
seinen Beginn, seine Ablaufgeschwindigkeit und sein Ende definiert. Veränderungen
dieser drei Variablen können im Prinzip jede erdenkliche Proportionsveränderung von
Körperstrukturen bewirken. Aus diesem Grund stellt die Heterochronie - die
261

phylogenetische Veränderung von Zeitvariablen in Entwicklungsprozessen . einen der
wichtigsten Mechanismen für die evolutionäre Beeinflussung der Ontogenese dar. So
kann zum Beispiel ein früherer Beginn oder eine verlängerte Dauer von Zellteilungen
oder eine Erhöhung der Teilungsrate die Zellenzahl und damit die Größe einer
Organanlage wachsen lassen oder, im umgekehrten Fall, verringern. Dieses Konzept
der Heterochronie, dessen Definition sich seit seiner Formulierung stark gewandelt hat
(Gould 1977, 1988), wird immer mehr durch empirische Studien bestätigt, vor allem in
der Paläontologie, aber auch in der experimentellen und vergleichenden
Entwicklungsbiologie, wobei die Beispiele inzwischen eine Vielzahl von Organismen
zahlreicher Taxa aus fast allen Klassen tierischer Organismen umfassen (McKinney
1988; MCKinney und McNamara 1991)."
Die Evolution erfolgt also über weite Strecken durch "Modifikation quantitativer
Entwicklungsparameter" die zu "relativen Vergrößerungen und Verkleinerungen von
Bauelementen eines Organismus" fuhren. Ähnlich werden die Units eines
Computerprogramms durch Veränderung geeignet definierter Variablen an die
Lösung neuer Aufgaben angepaßt. Bei den Computerprogrammen setzt dies jedoch
voraus, daß sie von vorn herein entsprechend konzipiert werden. Geniale
Programme "aus einem Guß" sind zwar geeignet das konkrete Problem zu
bearbeiten, für das sie entwickelt wurden, sie lassen sich jedoch kaum zur Lösung
veränderter Aufgaben einsetzen. Sollte dies bei Ogranismen anders sein? Sollten
diese sich in ähnlicher Weise modifizieren lassen ohne eigens dafür "entwickelt"
worden zu sein? - Ich glaube nicht.
Auf der anderen Seite scheint die genetische Variabilität im Genom tatsächlich auf
der Akkumulation zufälliger Mutationen zu beruhen. Wie läßt sich die
Funktionalität des Evolutionsprozesses auf der Ebene der Individuen mit diesen
chaotischen Prozessen auf genetischer Ebene in Einklang bringen?
Vermutlich ergibt sich die Funktionalität des Evolutionsprozesses nicht aus den
Eigenschaften der einzelnen Gene, sondern aus der Art, wie diese Gene auf einer
höheren Ebene "zusammenarbeiten". Ebenso wie sich die Funktionalität eines
Phänotyps nicht auf das einzelne Gen zurückführen läßt, sondern auf dem
Zusammenspiel sämtlicher Gene eines Genoms basiert, könnte die
Evolutionsfähigkeit einer Population auf dem Zusammenspiel der im Genpool
enthaltenen Gene basieren. Die auf der Ebene der Individuen stattfindende
Selektion führt zur Funktionalität dieser Individuen, einer Funktionalität, die sich
aus den Eigenschaften des Genoms ergibt und daher darin in irgendeiner Form als
Information enthalten sein muß. Wir werden sehen, daß dieselbe, auf der Ebene der
Individuen stattfindende Selektion im Falle der sexuellen Fortpflanzung zu einer
funktionellen Variabilität der Individuen und des Genpools geführt haben könnte,
die eine schnelle Anpassung der Geno- und Phänotypen ermöglicht. Der ständige
Mutationsdruck wäre dann nicht die direkte Ursache der Evolution, sondern ein
Aspekt der Umwelt, der bei der Entwicklung der Evolutionsfähigkeit mit
berücksichtigt wurde und auf den sich das evolutionskompetente sexuelle
Fortpflanzungssystem so eingestellt hat, daß sich daraus die ohnehin für die
262


Evolution benötigten genetischen Variationen im richtigen Umfang ergeben.
Wie dieses evolutionskompetente sexuelle Fortpflanzungssystem (EKSF) seinerzeit
zustande gekommen ist, ist eine schwierige Frage, mit der ich mich hier nicht
auseinandersetzen werde. Dieser Entwicklungsprozeß liegt schon sehr weit zurück
und hat womöglich die "kambrische Explosion" vor ca. 540 MJ nach sich gezogen,
in der die Komplexität der jeweils komplexesten Lebewesen der Welt erheblich
zunahm, wobei die "Baupläne" rezenter, höherer Lebewesen entwickelt wurden.
Die von der Evolution realisierbare Komplexität eines Lebewesens hängt natürlich
direkt von der Leistungsfähigkeit dieses Optimierungsverfahrens ab. Die Tatsache,
daß die Lebewesen auf der Erde 3 Milliarden Jahre lang nicht über das Niveau von
Einzellern hinaus kamen, könnte daher durchaus damit zusammenhängen, daß die
Evolution in der Art, in der sie damals funktionierte, kein allzu leistungsfähiges
Optimierungsverfahren abgab. Man sollte dabei auch nicht außer Acht lassen, daß
biologische und physikalische Zeitrechnung sich nicht decken. Die biologische Zeit
misst man besser in Generationsdauern - diese bezeichnen die Dauer eines
Iterationsschrittes im Optimierungsverfahren Evolution. Für Mikroorganismen,
deren Generationsdauer weniger als eine Stunde betragen kann, waren 3 000 MJ
eine wahnsinnig lange Zeit, in der gründlich ausgelotet werden konnte, was man
mit dem zur Verfügung stehenden Optimierungsverfahren erreichen konnte.
Für die in diesem Buch behandelte Fragestellung ist wesentlich wichtiger, wie
dieses EKSF heute funktioniert, als wie es zustande kam. Und davon kann man sich
recht gut ein Bild machen:
Das genetische Material eines Genpools ist sehr variabel, aber dennoch so gut
aufeinander abgestimmt, daß man, wenn man aus zwei Genomen jeweils einen
einfachen Satz des Erbmaterials entnimmt und zu einem neuen Genom vereinigt,
dieses Genom einen Phänotyp hervorbringt, der in der Regel voll funktionstüchtig
ist und ein sehr hohes Maß an Angepasstheit erkennen lässt. Genau dieser Prozess
findet ständig bei der sexuellen Fortpflanzung statt und funktioniert hervorragend.
Die Variationen des Phänotyps mögen in vielen Bereichen, die die Fitness kaum
berühren, hoch sein, in fitneßrelevanten Bereichen sind sie gering.
Das Ausmaß der Angepaßtheit hängt angesichts der enormen Variabilität des
Erbguts jedoch bestimmt nicht in erster Linie vom Vorhandensein einzelner neuer,
vorteilhafter Mutationen in einem Genom ab, sondern davon, wie gut die aktuelle
Kombination im Genpool längst vorhandener Allele sich bewährt.
Die Eigenschaften der Individuen sind im statistischen Mittel mit deren
Fortpflanzungserfolg korreliert. Sie basieren auf dem Zusammenspiel der
jeweiligen Allele und bleiben zum Teil auch in den Individuen der nächsten
Generation erhalten. Deren Genom stammt nämlich jeweils zur Hälfte aus zwei
erfolgreichen Genomen der Vorfahrengeneration und die Gene, die aus der Sicht
eines der Vorfahren-Genome ausgetauscht werden, liegen immerhin in 70% der
Fälle im gesamten Genpool nur in einer Version vor. Zusätzlich zu den 50% der
Gene, die ohnehin zusammenbleiben, werden also mindestens 70% der
263

ausgetauschten 50% durch identische Gene ersetzt. Insgesamt entsprechen damit
mindestens 85% der Kinder-Gene denen jedes der beiden Eltern. Dazu kommt noch
eine unbestimmte Zahl von Genen, die in der Population zwar in mehreren Allelen
vorliegen, im konkreten Fall aber durch das gleiche Allel vom anderen Elternteil
ersetzt wurden und eine Vielzahl von Genen, bei denen zwar ein anderes Allel
eingeführt wird, das neue Allel in seiner Wirkung auf die betrachtete Eigenschaft
dem alten aber sehr nahe kommt. Eigenschaften, die auf der Kombination mehrerer
konkreter Allele basieren, haben daher gute Chancen, in der nächsten Generation
erhalten zu bleiben. Das stimmt mit der Beobachtung überein, daß Kinder ihren
Eltern ähneln und bildet die Grundlage für die Züchtung neuer Stammlinien mit
gewünschten Eigenschaften.
Gehen solche Eigenschaften im Falle der natürlichen Selektion mit einem höheren
Fortpflanzungserfolg einher, dann breiten sie sich gemeinsam mit der zugrunde
liegenden Genkombination in der Population aus. Damit reichern sich im Laufe der
Zeit in einer Population Individuen mit Eigenschaften an, die ihren
Fortpflanzungserfolg maximieren. Man spricht auch davon, daß auf der Ebene der
Individuen Fitneßmaximierung stattfindet.
Wieso erweckt aber dieser Prozeß, soweit er sich in der Morphologie niederschlägt,
den Eindruck, als würden nicht beliebige Eigenschaften verändert, sondern
wohldefinierte Variablen angepaßt?
Um hier eine Erklärung anzubieten, muß man etwas weiter ausholen.
Wie bereits erwähnt, ist das genetische Material eines Genpools zweifellos sehr gut
aufeinander abgestimmt, sonst wäre es wohl kaum möglich, von zwei Genomen
jeweils die Hälfte zu entnehmen, diese Hälften zusammenzustellen und damit ein
neues, voll funktionsfähiges Genom zu erhalten. Sie können ja einmal versuchen,
zwei verschiedene Bücher mit der gleichen Seitenzahl einem ähnlichen Verfahren
zu unterziehen, indem sie es dem Zufall überlassen, aus welchem der beiden
Bücher Sie die einzelnen Seiten mit einer bestimmten Seitenzahl entnehmen. Die
erste Seite könnte z.B. die erste Seite des zweiten Buches sein, der dann die zweite
Seite des ersten Buches folgt und so weiter. Sie erhalten dann zwar wieder ein
Buch mit der gleichen Seitenzahl und einer Unmenge von bewährten Wörtern und
Sätzen - ein gutes, in sich schlüssiges Buch wird dabei nicht herauskommen.
Funktionieren kann so etwas nur, wenn die beiden verwendeten Bücher in ihrem
Aufbau bereits vorher auf diese Prozedur vorbereitet, - "aufeinander abgestimmt" -
wurden.
Auf der Ebene der Phänotypen ist gleichzeitig eine beeindruckende Funktionalität
zu erkennen, die darauf hinweist, daß die Evolution als Optimierungsverfahren
recht gut funktioniert. Die erfolgreichen Phänotypen kommen der optimalen
Lösung der Aufgabe, den zugrunde liegenden Bauplan an die aktuellen
Selektionsbedingungen anzupassen offensichtlich in der Regel sehr nahe. Diese
Ansicht wird durch die Beobachtung gestützt, daß isolierte Entwicklungslinien mit
ähnlichem Bauplan die gleichen Anpassungsleistungen an die gleichen Nischen
264



hervorgebracht haben.
Es muß einen Grund dafür geben, daß diese getrennten Linien die gleichen
Merkmalskombinationen entwickelt haben und dieser Grund besteht vermutlich
darin, daß gerade diese Merkmalskombination eine optimale Anpassung an die
gemeinsame Überlebensstrategie darstellt. Die Häufigkeit paralleler und
konvergenter Evolution verweist daher auf die Leistungsfähigkeit der Evolution als
Optimierungsverfahren und darauf, daß auf der Ebene der Phänotypen die
Notwendigkeit deutlich über dem Zufall dominiert. Dazu ein Beispiel von Roger
Lewin (Lewin, 1998):
"Wie steht es jedoch mit den Singvögeln, einer Gruppe, der mehr als die Hälfte aller
Vogelarten der Erde angehören? In Australien gibt es über 700 einheimische Arten,
unter ihnen viele, die praktisch nicht von afrikanischen, europäischen oder
amerikanischen Spezies unterscheidbar sind. Als man im vergangenen Jahrhundert die
Klassifizierung der australischen Singvögel in Angriff nahm, hatten die europäischen
Ornithologen bereits fast überall sonst auf der Welt Vögel klassifiziert. Die
australischen Singvögel sahen vertrauten Arten der Alten und der Neuen Welt so
ähnlich, daß es nur natürlich erschien, sie in bekannte Gruppen einzuordnen. Sibley
und Ahlquist bemerken dazu, daß »viele der Konvergenzen so subtil sind, daß die
wahren Verwandtschaftsbeziehungen ... sich durch anatomische Vergleiche allein
wahrscheinlich nicht hätten aufklären lassen«. Aus diesem Grunde wurden zum
Beispiel die Südsee-Grasmücken (Acanthiaidae) den Sylviidae (Grasmücken oder
Zweigsängern) zugeordnet, die Südseeschnäpper den Muscicapidae (Sängern oder
Fliegenschnäpperartigen), die Baumrutscher (Climacteridae) den Certhiidae
(Baumläufern) und die Honigfresser (Meliphagedae) den nektarfressenden afro-
asiatischen Nektarvögeln (Nectariniidae). Diese Klassifikation ergab morphologisch
gesehen Sinn, allerdings nicht geographisch, da Australien seit mindestens 30
Millionen Jahren vom Rest der Welt getrennt ist. Die einzige Erklärung für derartige
Verwandtschaftsbeziehungen wäre die wiederholte Einwanderung von Arten. anderer
Kontinente gewesen - ein zwar nicht unmögliches, aber unwahrscheinliches Szenario.
Überdies unterscheidet sich das von der Einwanderungshypothese implizierte Muster
der Artverbreitung stark von dem der einheimischen, auf Australien beschränkten
Beuteltiere, während man normalerweise, insbesondere bei räumlich begrenzter
Evolution, eine geographische Übereinstimmung verschiedener Speziesgruppen
erwartet.
Die Daten aus der DNA-DNA-Hybridisierung stellten die bisherige Klassifikation der
Vögel komplett in Frage. Sie zeigten, daß die australischen Singvögel Ureinwohner
ihres Kontinents sind, brachten also die Biogeographie der Vögel mit der der Säuger in
Einklang. Wie die Beuteltiere haben sich auch die Singvögel Australiens an ökologische
Nischen angepaßt, die den Nischen in anderen Regionen der Erde gleichen, und
ähneln ihren dort heimischen Gegenstücken infolge konvergenter Evolution, wobei der
Grad der Ähnlichkeit oft erstaunlich ist."
Da die meisten Individuen einer Population sehr gut angepaßt sind, sind starke
Veränderungen für die Fitness relevanter Eigenschaften eines Kindes im Vergleich
zu den Eltern fast immer mit einer deutlichen Reduktion der Fitness verbunden.
265


Allele, die in verschiedenen Genomen zu deutlich unterschiedlicher Ausprägung
solcher Eigenschaften fuhren würden, würden regelmäßig nach erfolgter
Rekombination Ausschuß produzieren. Die Genome, an denen sie mitarbeiten,
würden eben aufgrund dieser Mitarbeit im statistischen Mittel weniger erfolgreich
sein, was letztendlich zur Eliminierung solcher Allele aus dem Genpool führen
würde. Daher gibt es in einem Genpool nur selten solche Allele, wenn sie infolge
von Mutationen auftreten, dann werden sie in der Regel sehr bald wieder
heraus selektiert. Die 70% der Gene, die in einem Genpool nur in einer einzigen
Variante vorliegen, dürften auf Mutationen recht empfindlich mit deutlich
verändertem Einfluss auf fitneßrelevante Eigenschaften des Phänotyps reagieren.
Aus diesem Grund haben sich auch keine Variationen dieser Gene im Genpool
festsetzen können.
Die Behauptung, daß die Darwin’sche Evolution, die die Bedeutung der Selektion
für den evolutionären Fortschritt betont, die Annahme nahelegt, daß gerade
Mutationen, die starken Einfluß auf den Phänotyp ausüben, sich besonders schnell
im Genpool ausbreiten sollten, ist falsch. Für ein Optimierungsverfahren, das so
aufgebaut ist, wie die Evolution, ist mit einer starken Abhängigkeit seiner
Leistungsfähigkeit vom Ausmaß der Variation in den einzelnen Iterationsschritten
zu rechnen. Entsprechendes kennt man bei mathematischen Optimierungsverfahren
und es ist bekannt, daß eine zu starke Variation dazu führt, daß das
Optimierungsverfahren nicht mehr konvergiert, d.h. das Optimum wird nicht mehr
gefunden. Warum dies so ist, kann man sich anschaulich recht einfach klarmachen:
Nehmen wir einmal an, wir wollten uns mit einem der Evolution strukturell
ähnlichen Verfahren einem bestimmten, uns unbekannten Punkt A möglichst stark
nähern. Wir hätten eine Meßvorrichtung, die uns zu jedem untersuchten Punkt X
den Abstand von A liefert. Nun würden wir eine Anzahl beliebiger X untersuchen
und denjenigen mit dem geringsten Abstand zu A zum Arbeitspunkt des ersten
Iterationsschrittes machen. Um diesen Arbeitspunkt würde nun eine Schar von
neuen Punkten X erzeugt, die in verschiedenen Richtungen in einem Abstand von
1-3 Metern von ihm liegen. Jeder dieser X würde nun auf seinen Abstand von A
untersucht und der nächstgelegene zum neuen Arbeitspunkt für den nächsten
Iterationsschritt bestimmt. Mit diesem Verfahren würden wir uns zweifellos
zuverlässig bis auf eine Entfernung in der Größenordnung von einem Meter an A
annähern können.
Sollten wir dann jedoch zufällig einen Arbeitspunkt erhalten, der sich in nur 40 cm
Abstand von A befindet, dann würde die Erzeugung einer Schar neuer Punkte mit
einem Abstand von 1-3 Metern vom Arbeitspunkt im nächsten Iterationsschritt
zwangsläufig dazu fuhren, daß kein einziger dieser Punkte näher an A liegt, als 60
cm. Für eine Variation um 3 m ergibt sich dabei sogar ein Mindestabstand von 2,6
Metern, eine solche Variation hätte daher von vorn herein keine Chance, den
nächsten Arbeitspunkt zu stellen. Eine neue punktschar um den Arbeitspunkt in 60
cm Entfernung könnte A wiederum nicht näher, als bis auf 40 cm kommen, u.s.w ..
Das Verfahren würde um den gesuchten Punkt springen, ohne sich ihm weiter
266


nähern zu können.
Daraus erkennt man, daß eine zuverlässige Annäherung an A im Bereich von
Zentimetern voraussetzt, daß auch die Variation in der gleichen Größenordnung
liegt. Die ideale Variationsgröße für einen Iterationsschritt hängt stark davon ab,
wie weit man noch vom Optimum entfernt ist. Ist man diesem nahe, so führen nur
noch kleine Variationen weiter.
Die natürliche Auslese, der bei der Evolution eine entscheidende Bedeutung
zukommt, entspricht der Auswahl eines Arbeitspunktes aus einer Schar neu
erzeugter Punkte in diesem gedachten Optimierungsverfahren. Im Falle der
Evolution sich sexuell fortpflanzender Lebewesen haben wir es, wie bereits
erwähnt, mit sehr gut angepaßten Lebewesen zu tun - also mit Arbeitspunkten, die
bereits sehr nahe am gesuchten Punkt liegen. Daraus abgeleitete, neue Punkte,
haben nur dann eine Chance zu Arbeitspunkten des nächsten Iterationsschrittes zu
werden, wenn sie sich aus einer geringen Variation der Arbeitspunkte ergeben - die
Kinder werden nur dann eine hohe Fitneß aufweisen, wenn ihre Eigenschaften nicht
zu stark von denen ihrer Eltern abweichen. Die natürliche Selektion sorgt daher
dafür, daß genetische Variationen mit starkem Einfluß auf die Eigenschaften der
Individuen nicht Fuß fassen können. Nur neue Allele, die geringen (funktional
kaum schädlichen) Einfluß auf wichtige (fitneßrelevante) Eigenschaften ausüben,
setzen sich im Genpool fest. Dies entspricht zwar den entsprechenden Aussagen der
Neutralitätstheorie der Evolution, steht jedoch keinesfalls in einem Widerspruch
zur Darwinistischen Evolutionstheorie. Das gestaltgebende Prinzip der Evolution,
der entscheidende Vorgang, der funktionale Komplexität erst möglich macht, ist
weiterhin die Selektion. Die Neutralitätstheorie betrifft lediglich die Entstehung
genetischer Variabilität und beleuchtet damit nur einen Teilaspekt der Evolution.
Einen Teilaspekt zudem, der bei der Entwicklung neuer Eigenschaften, der wir uns
nun zuwenden, vermutlich nur eine untergeordnete Rolle spielt.
Von der Annahme, daß sich im Genpool vor allem Variationen festsetzen, die nur
geringen Einfluß auf fitneßrelevante, funktionelle Aspekte auf der Ebene der
Individuen besitzen, bis zu der Beobachtung, daß Evolution vor allem durch
Variation quantitativer Parameter erfolgt, ist nur noch ein kleiner Schritt. Die
prinzipielle Funktionsfähigkeit eines Organs hängt in der Regel nur schwach oder
gar nicht von dessen Größe ab. Größenänderungen fuhren zwar zu Veränderungen
der Leistungsfähigkeit, der "Wirtschaftlichkeit" und anderer optimierbarer Aspekte,
sie haben aber nur in Ausnahmefällen Einfluß auf die Funktionsfähigkeit. Damit
sind quantitative Parameter, wie z.B. die Größen einzelner Bauelemente die idealen
Werkzeuge um einen gegebenen Bauplan an die Erfordernisse verschiedener
Aufgaben anzupassen, ohne dessen Funktion deutlich zu beeinträchtigen - es gibt
genügend Beispiele aus der Technik, in denen gerade so verfahren wird. Genetische
Variationen, deren Auswirkung sich auf quantitative Aspekte der
Individualentwicklung beschränken sind damit aber - eben weil sie die
Funktionsfähigkeit der Phänotypen nur selten in Frage stellen und daher oft vom
Standpunkt der Gesamtfitneß zu den "kleinen" Variationen gehören - auch
267

diejenigen, die sich am ehesten der Neutralitätstheorie zufolge im Genpool
ausbreiten können sollten (wenn man einmal von den tatsächlich neutralen
Variationen absieht, die überhaupt keinen Einfluß auf den Phänotyp ausüben). Es
reichern sich also im Falle der sexuellen Fortpflanzung genetische Variationen im
Genpool an, die zu einer hohen Variabilität gerade der Eigenschaften führen, mit
deren Anpassung man zweckmäßigerweise auf der Ebene der phänotypischen
Evolution an veränderte Anforderungen reagieren sollte. Diese Variationen stellen
wiederum das Handwerkszeug dar, das vom EKSF beim Optimierungsprozeß
herangezogen wird. Daß dieses maßgeschneiderte "Handwerkszeug" im Ernstfall
bereits zur Verfügung steht, ist vermutlich das Erfolgsgeheimnis der sexuellen
Fortpflanzung. Einerseits ermöglicht es die schnelle Anpassung an eine sich
verändernde Umwelt - diesen Vorteil der sexuellen Fortpflanzung haben wir bereits
angesprochen. Andererseits erklärt es aber auch, warum Lebewesen, die sich
sexuell fortpflanzen, höhere Komplexität erreichen konnten. Bei komplexen
Organismen müssen sehr viele Eigenschaften sehr fein aufeinander abgestimmt
werden. Dazu bedurfte es im Verlauf derer Evolution einer Unmenge geeigneter,
kleiner Variationen von der Art, wie sie bei sich sexuell fortpflanzenden
Organismen in großer Zahl vorliegen und immer wieder neu bereitgestellt werden.
Die Möglichkeit komplexere Organismen zu entwickeln und damit in bis dahin
noch nicht besetzte Nischen vorzudringen stellt einen weiteren Vorteil der
sexuellen Fortpflanzung dar und hat wohl - vielleicht sogar entscheidend - zum
Erfolg dieses Fortpflanzungssystems beigetragen.
Bei komplexen Lebewesen mit stark ausdifferenzierten und spezialisierten
Körperteilen üben Veränderungen des Bauplans in der Regel sehr starken Einfluß
auf die Funktionalität und damit auch die Fitneß aus. Mutationen, die solche
Veränderungen nach sich ziehen, haben daher in aller Regel keine Chance, sich im
Genpool festzusetzen. Daher stellt die Evolution komplexer Organismen seit
geraumer Zeit lediglich eine Folge von Interpretationen des gleichen Grundmusters
dar. Der Pudel ist so gesehen eine extreme Interpretation des Wolfes, der Mensch
im Großen und Ganzen eine extreme Interpretation des Schimpansen (genaugenom-
men sind beide zwei verschiedene Interpretationen des gleichen Grundmusters). Es
ist bisher nicht gelungen im Gehirn des Menschen auch nur eine funktionale Einheit
aufzuspüren, über die der Schimpanse nicht - zumindest im Ansatz - ebenfalls
verfügt. Die Evolution verläuft über weite Strecken durch Neuabstimmung
vorhandener funktionaler Einheiten, wodurch im Extremfall auch ganz neue
Eigenschaften erzeugt werden können, wie es z. B. die Sprachfähigkeit des
Menschen ist. Auch hier werden Einheiten verwendet, die anscheinend allesamt
auch schon beim Schimpansen vorhanden sind, allerdings im Verlauf der
menschlichen Evolution enorm verändert werden mußten. Die Spezies, die man
jeweils beobachten kann, sind lediglich Interpretationen innerhalb der
Möglichkeiten, die ihnen durch ihre jeweilige Kombination funktionaler Einheiten
und verfügbarer Variablen vorgegeben werden.
Welche Interpretation jeweils vorherrscht, hängt von den Umweltanforderungen
268


und von der vorhergegangenen Entwicklung ab. Die vorhergegangene Entwicklung
spielt eine große Rolle, weil das Optimierungsverfahren mit dem Namen Evolution
in der Regel nur dann funktioniert, wenn die Variationen klein sind. Mit echten
Entwicklungssprüngen ist daher im Verlauf der genetischen Evolution kaum zu
rechnen. Punktmutationen, die zu erheblichen Veränderungen des Phänotyps führen
sind zwar jederzeit möglich - konstruktiv sind sie jedoch mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit nicht. Es kommt zwar vor, daß zwei deutlich
unterschiedliche Ausprägungen des Phänotyps sich vom Standpunkt der Fitneß aus
betrachtet nicht unterscheiden und nebeneinander in der Population halten können -
dies sind jedoch eher Ausnahmefälle. Ausnahmefälle allerdings, die in der
wissenschaftlichen Diskussion eine sehr große Rolle gespielt haben, eine
wesentlich größere jedenfalls, als im tatsächlichen Evolutionsverlauf.
Die Beobachtung zeigt, daß die Evolution der Lebewesen, soweit man darunter
einen phänotypischen Wandel versteht, in Schüben erfolgt. Lange Zeiträume
phänotypischer Stabilität wechseln sich mit kurzen Phasen dynamischer
Veränderungen ab. Die genetische Variation wird dagegen kontinuierlich erzeugt,
in vielen Bereichen des Genoms zeigt sie geradezu die Eigenschaften einer
molekularen Uhr, so daß man zum Beispiel aus der Anzahl der sich in
verschiedenen Entwicklungslinien angesammelten Mutationen auf den
Verzweigungszeitpunkt dieser Linien zu schließen vermag.
Wie wir oben gesehen haben, führt die genetische Evolution aber vermutlich gerade
bei den Eigenschaften zu einer hohen Variabilität innerhalb der Population, aus
denen sich die Evolution auf der Ebene der Phänotypen bevorzugt zusammensetzt.
Auf die meisten dieser Eigenschaften übt eine ganze Reihe von Genen einen
Einfluß aus und die genetische Evolution führt dazu, daß gerade diese Gene im
Genpool einer Population in Form - mitunter sehr vieler - verschiedener Allele
auftreten. Eine bestimmte Größe - z.B. die Länge eines Oberschenkelknochens -
ergibt sich aus dem summarischen Einfluß aller entsprechenden Allele eines
Genoms. Man kann sich den Genpool als Lebensraum dieser Allele vorstellen, in
dem z.B. alle Allele, die für einen längeren Oberschenkelknochen "plädieren"
miteinander konkurrieren. Ihre "Bevölkerungsdichte" hängt dabei davon ab, wie
lang der Oberschenkelknochen unter den gegebenen Umweltbedingungen
tatsächlich sein sollte. Diese für die Fitneß des Individuums entscheidende Größe
wird durch die Selektion diktiert - wie sie im Einzelnen realisiert wird, liegt im
"Ermessensspielraum" der Gene. Werden von der Selektion lange Knochen
verlangt, dann wachsen die Populationen der "Langknochen-Allele im Genpool,
währen die Populationen der "Kurzknochen"-Allele kleiner werden. Nur
gelegentlich kommt es wohl dazu, daß einzelne Allele vollständig aus dem Genpool
eliminiert werden. Meistens bleibt die Variabilität des Genpools wohl erhalten - es
ändert sich lediglich die Häufigkeiten des Auftretens einzelner Allele. Dies führt
dazu, daß phänotypische Evolution über weite Strecken im Prinzip umkehrbar
verläuft. Derartige Umkehrungen der Evolution, wie z.B. Reaktivierungen alter
Muster, sind mehrfach beobachtet worden, ohne daß man bisher verstanden hat,
269




wie es dazu kommen kann. Ein Beispiel, mit dem wir in diesem Buch bereits zu tun
hatten, sind die Überaugenwülste des Homo erectus. Sie sind ein ursprüngliches
Merkmal der Menschenaffen, das im Verlauf der Hominidenevolution reaktiviert
wurde.

Es wurde höchste Zeit sich an die Hominidenevolution zu erinnern, denn ich bin in
diesem Kapitel bereits deutlich von der Fragestellung abgewichen, mit der sich
dieses Buch befassen soll. In diesem Kapitel sollten lediglich zwei
Arbeitshypothesen aufgestellt werden, die die organische Evolution betrafen.
Einmal ging es darum, welche Eigenschaften im Verlauf der organischen Evolution
optimiert werden, zum anderen ging es um den zeitlichen Verlauf solcher
Optimierungsprozesse. In beiden Fällen interessiert uns lediglich die Ebene der
phänotypischen Evolution.
Bei der ersten Arbeitshypothese stehe ich im Einklang mit den meisten
Wissenschaftlern und hätte sie auch einfach in Form eines Zitats bereitstellen
können:
Die organische Evolution führt zur Maximierung der Fitneß der Individuen, die
man neuerdings auch gerne als Darwin-Fitneß bezeichnet.
Das Einzige, was man für die Formulierung dieser Hypothese braucht, ist die
Erkenntnis, daß genetische Informationen über die Fortpflanzung weitergegeben
werden und variabel sind.

Für eine brauchbare Formulierung der zweiten Hypothese ist es dagegen hilfreich,
wenn man eine brauchbare Vorstellung davon hat, wie genetische Information
strukturiert ist und zu den Veränderungen des Phänotyps in Beziehung steht.
Entscheidend für meine Arbeitshypothese ist dabei, daß Populationen aufgrund
ihrer genetischen Variabilität im Prinzip "evolutionskompetent" sind. Es ist nicht
unbedingt erforderlich, davon auszugehen, daß tatsächlich eine Evolution der
Evolutionsfähigkeit stattgefunden hat (insofern bin ich mit meinen Ausführungen
tatsächlich über das Ziel hinausgeschossen). Wenn die bei der phänotypischen
Evolution verwendeten Variationen in erster Linie durch sexuelle Rekombination
bereits im Genpool vorhandenen, variablen genetischen Materials zustande
kommen (und das ist gegenwärtig Lehrmeinung), dann können Populationen
praktisch "aus dem Stand" mit Anpassungen auf veränderte Selektionsbedingungen
reagieren. Sie müssen nicht erst auf geeignete Mutationen warten. Sie sind damit im
Prinzip "evolutionskompetent". Damit liegt die Annahme nahe, daß Populationen
auf veränderte Selektionsbedingungen im Prinzip ähnlich reagieren, wie
Regelsysteme auf Veränderungen der Eingangsgrößen. Eine Reaktion mit
besonderer evolutionstheoretischer Relevanz ist dabei die sogenannte
"Sprungantwort" .
Die Sprungantwort ist der Verlauf, den der geregelte Wert (Ausgangswert) über die
Zeit aufweist, wenn man den Sollwert am Eingang des Regelsystems sprunghaft
ändert. Wenn sich Populationen ähnlich verhalten, wie ein Regelsystem, dann
würden sie in ähnlicher Weise auf sprunghafte Änderungen der Selektions-
270


bedingungen reagieren. Solche können sich durch schnelle Veränderungen der
Umwelt oder durch Verhaltensänderungen ergeben. Im SWAK-Modell spielen vor
allem Verhaltensänderungen eine große Rolle, diese stellen aber oft ihrerseits eine
Reaktion auf eine sich ändernde Umwelt dar.


Bild 18: Der Verlauf der Sprungantwort eines einfachen Regelsystems, wie er
qualitativ im Verlauf der Evolution vermutlich häufig vorkommt. Die horizontale Achse ist die Zeitachse, auf der vertikalen Achse läßt sich der Verlauf der Regelgröße ablesen. Der Sollwert, den das
Regelsystem einstellen soll, wurde zum Zeitpunkt t=0 von 0 auf I verändert.

Daß eine "Sprungantwort" mit dem in Bild 18 dargestellten,
qualitativen Verlauf für evolutionäre Szenarien tatsächlich
einen Sinn ergibt, sollen folgende Überlegungen illustrieren. Betrachten wir z.B. ein "Entwick-
lungsvorhaben", wie den Übergang zum aufrechten Gang am Beginn der
Hominidenevolution. Eingeleitet wurde dieser Prozeß - soweit das SWAK-Modell -
durch eine Verhaltensänderung, die ihrerseits als Antwort auf klimatische
Veränderungen gesehen wird. Die Vorfahrenpopulation bestand aus Knöchel-
gängern, die fähig waren aufrecht zu gehen, wenn auch nicht besonders gut.
lnfolge der Verhaltensänderungen wurden die Selektionsbedingungen - gemessen
an evolutionären Zeiträumen - sprunghaft verschoben. Leistungsfähigkeit im
Knöchelgang wurde nun geringer, Leistungsfähigkeit beim aufrechten Gang höher
bewertet. Die Population reagierte darauf sofort mit einer Verschiebung der
Eigenschaften, die zur Verbesserung des aufrechten Ganges auf Kosten des
Knöchelganges führte.
Solange der aufrechte Gang noch nicht allzu gut funktionierte, boten sich natürlich
viele Ansatzpunkte ihn deutlich zu verbessern. Geringfügige Verschiebungen in der
Geometrie z.B. des Kniegelenkes konnten zu deutlicher Verbesserung dieser
Eigenschaft führen. Am Beginn der Entwicklung wurden daher schnell Fortschritte
erzielt. Mit Annäherung an das neue Optimum wurde es jedoch immer schwieriger
den inzwischen bereits deutlich verbesserten aufrechten Gang noch weiter zu
verbessern. Die Entwicklungsgeschwindigkeit nahm im Verlauf des Anpassungs-
prozesses kontinuierlich ab, da es einerseits schwieriger wurde, weitere
Verbesserungen zu erzielen und andererseits kleinere Verbesserungen auch mit
geringerem Selektionsvorteil einhergingen und sich daher auch langsamer in der
Population ausbreiteten. Am Ende folgten "Feinabstimmungen", die nur noch wenig
zur Leistungsfähigkeit beim aufrechten Gang beitrugen, dafür aber - gemessen am

271

dynamischen Beginn des Anpassungsvorganges - noch geraume Zeit in Anspruch
nahmen.
Die für die Dynamik des Anpassungsvorganges relevanten Aspekte dieses Beispiels
entwickeln auch bei anderen "Entwicklungsvorhaben" in gleicher Weise ihre
Wirkung. Es ist also damit zu rechnen, daß die "Sprungantwort" eines EKSF
strukturell ähnlich verläuft, wie wir es aus der Regelungstechnik für manche
Regelsysteme kennen. Schaut man sich unter diesem Gesichtspunkt den Verlauf der
Evolution an, soweit er uns aus Fossilien bekannt ist, dann gewinnt man den
Eindruck, daß die Evolution sich vor allem aus solchen Sprungantworten
zusammensetzt, die sporadisch - in langen Zeiträumen phänotypischer Stabilität
eingebettet - auftreten. Hier finden wir auch die von Gerhard Roth geforderte
Erklärung dafür, daß das Gehirnvolumen bei unseren Vorfahren drei Phasen
schnellen Wachstums aufweist. Es handelt sich um drei "Sprungantworten", die auf
entsprechende Änderungen der Selektionsbedingungen hinweisen. Das Gehirn zeigt
dabei lediglich die gleiche Evolutionskinetik, die wir auch beim Körperbau
beobachten können - z.B. beim Übergang zum Homo erectus.
Wenn wir nun an die Abbildung von Schrenk zurückdenken (Bild 16, Kap. 6.1),
dann wird auch klar, was ich gegen den Verlauf, den er für die Entwicklung der
Gehirnstruktur und der kognitiven Leistungen postuliert, einzuwenden habe. Seine
Kurven zeigen die falsche Krümmung, was der Annahme entspricht, daß die
Weiterentwicklung dieser Eigenschaften sich mit der Zeit immer weiter
beschleunigt habe. Wie ich jedoch oben ausgeführt habe, ist für einen
Entwicklungsschub innerhalb der organischen Evolution im Gegenteil mit einem
schnellen Beginn und einem langsamen Auslaufen zu rechnen und infolgedessen
mit dem umgekehrten Krümmungsverlauf der Entwicklungskurve.
Oft leiten solche Entwicklungsschübe im Verlauf der Evolution radiative
Speziationen ein. Auch dies ist verständlich, denn eine Verschiebung des
Anpassungsmusters kann die Möglichkeit eröffnen, neue Nischen zu erobern, vor
allem, wenn sie mit der Entwicklung neuer Fähigkeiten einhergeht.
Eine solche Sicht des Evolutionsverlaufs war meiner Meinung nach auch schon zu
Darwins Zeiten, unter Zugrundelegung seiner Evolutionstheorie, naheliegend.
Darwin stützte sich bei seiner Theoriebildung ja auf die beobachtete phänotypische
Variabilität in Populationen, er wußte, daß diese groß ist und jederzeit für
Anpassungsprozesse herangezogen werden konnte. Immerhin unterhielt er intensive
Beziehungen zu Züchtern und führte selbst Züchtungsexperimente durch. In
solchen Experimenten wird die "evolutionäre Kompetenz" von Populationen
offensichtlich, da sich durch willkürliche Selektion neue Eigenschaften
"produzieren" lassen.
Ihm war auch bekannt, wie gut einzelne Lebewesen an ihre Lebensweise angepaßt
sind, schließlich war er ja in einem Umfeld aufgewachsen, in dem begeisterte
Naturforscher immer neue Arten beschrieben und in derer Funktionalität Beweise
272


für das Wirken eines allmächtigen Schöpfers sahen.
All dies hätte eigentlich eine Sicht nahe legen sollen, der zufolge die meisten
Lebewesen bereits optimiert sind, die phänotypische Evolution im Wesentlichen
stagniert und es nur noch in Einzelfällen infolge veränderter Selektionsbedingungen
zu Anpassungsprozessen kommt. Man hätte also auf der Grundlage der
Darwinschen Evolutionstheorie sehr wohl brauchbare Aussagen über die
Evolutionskinetik machen können. Stattdessen ging man in der Anfangszeit der
Evolutionstheorie von einem kontinuierlichen Fortschritt in der Evolution aus.
Vermutlich lagen dieser Interpretation vor allem der Zeitgeist und das
altehrwürdige, anthropozentrische Gedankengebäude des scala naturae zugrunde.
Der Zeitgeist war von einem starken Fortschrittsglauben durchtränkt, denn die
Gesellschaft befand sich mitten in einer Phase dynamischer, technologischer
Entwicklung. Dieser Fortschrittsglaube wurde auf die Evolutionstheorie projiziert,
obwohl für diese die technologische Entwicklung des neunzehnten Jahrhunderts
nicht im Geringsten von Belang war.
In der scala naturae wurde andererseits eine natürliche Rangordnung unter allen
Lebewesen postuliert, an deren Spitze natürlich der Mensch stand. Solcher Ballast,
der wohl letztendlich auf unser Primatenerbe zurückzuführen ist, prägt auch heute
noch unser Denken und lag solchen Wortschöpfungen, wie z.B. den "höheren
Säugetieren" zugrunde. Wollte man das dem Menschen schmeichelnde Konzept der
scala naturae beibehalten, so lag es nahe, anzunehmen, daß die niederen Tiere in
ihrer Evolution einfach noch nicht so weit entwickelt waren wie die Höheren.
Wenn sie jedoch noch nicht voll entwickelt waren, dann besaßen sie noch
Spielraum zur weiteren Verbesserung, die vermutlich ständig stattfand. Hierbei
spielte dann auch das nichtdarwinistische Konzept eines den Lebewesen
innewohnenden "inneren Entwicklungsdranges" in der Anfangszeit der Evolutions-
theorie eine Rolle. Die wenigsten Wissenschaftler stimmten damals Darwins
mechanistischem Konzept einer Evolution in Form eines Wechselspiels zwischen
zufälliger Variation und natürlicher Selektion zu. Der Bruch, der hier mit den
Traditionen und vor allem mit den religiös geprägten Weltanschauungen vollzogen
werden mußte, war zu groß, als daß eine saubere Auswertung der Implikationen der
Evolutionstheorie möglich gewesen wäre.
Die frühen Vorstellungen zur Evolutionskinetik, die später mit der Darwinschen
Evolutionstheorie assoziiert wurden und im Widerspruch zum Fossilbefund stehen,
wurden also gar nicht aus der Evolutionstheorie abgeleitet. Vielmehr wurde die
Evolutionstheorie mit herrschenden Vorurteilen in einem neuen Gedankengebäude
oberflächlich in Einklang gebracht. In wissenschaftlich ähnlich unsauberer Weise
wurde die Evolutionstheorie von rassistischen und sozialdarwinistischen
Strömungen mißbraucht. Diese stellen aber wiederum ihrerseits Aspekte der
kulturellen Evolution dar, mit deren Gesetzmäßigkeiten wir uns nun beschäftigen
werden.
273

<s>unendlich langes</s> Zitat <s>gekürzt und</s> als solches kenntlich gemacht -jagy.
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Anmeldungsdatum: 22.11.2010
Beiträge: 12

Beitrag(#1577749) Verfasst am: 27.11.2010, 20:08    Titel: Antworten mit Zitat

leer -alae
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Arno Gebauer
registrierter User



Anmeldungsdatum: 30.01.2005
Beiträge: 698

Beitrag(#1577763) Verfasst am: 27.11.2010, 20:23    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo,

die ca. 80 Jahre lange Erzeugung von hoch radioaktivem Atommüll
verlangt eine 200.000 Jahre sichere Lagerung.
So etwas gibt es aber nicht!
Dass heißt, dass der radioaktive Atommüll sich flächendeckend und immer
mehr anreichernd über die Erde verteilen wird!
Das hat einen erheblichen Einfluß auf die Evolution aller Lebewesen!

Viele Grüße
Arno
_________________
Trennung von Staat und Kirche !
Die geistigen Brandstifter des Holocausts waren die Kirchen! Sie haben viele Jahrhunderte lang gegen die Juden gehetzt!
Nie mehr Zeit und Geld für reiche Kirchen!!!!
Keine Kinder mehr in Kirchenhände!
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