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Kartoffel Utilitarismus
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step
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Anmeldungsdatum: 17.07.2003
Beiträge: 22767
Wohnort: Germering

Beitrag(#2216511) Verfasst am: 30.06.2020, 20:21    Titel: Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:
Vermutlich denkt step bei Interessenmaximierung an eine mathematische Operation, wie ein Maximum zu finden.

Ja, aber ein Maximum über alle Wesen. Obwohl Einzelpräferenzen dabei zählen, werden natürlich nicht die Einzelinteressen maximiert.
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Was ist der Sinn des Lebens? - Keiner, aber Leere ist Fülle für den, der sie sieht.
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Tarvoc
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Anmeldungsdatum: 01.03.2004
Beiträge: 44088

Beitrag(#2216512) Verfasst am: 30.06.2020, 20:46    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Tarvoc hat folgendes geschrieben:
step hat folgendes geschrieben:
Wer legt denn fest, wo das Borg-Kollektiv eigentlich hin will?
Das Kollektiv.

Und gibt's dabei auch mal heftige Diskussion im Kollektiv? Oder sind Ziele dort quasi als Eigenwerte berechenbar?

Hatten die nicht ne Königin und komplette Gleichschaltung oder hab ich da was verwechselt?

Die Königin ist 'ne spätere Hinzufügung, weil sie für den Kinofilm (Star Trek VIII: The First Contact) einen identifizierbaren Charakter als Antagonisten brauchten bzw. haben wollten. Ich sehe das als Retcon und beziehe mich auf das ursprüngliche Konzept, nach dem Locutus der erste Borg war, dem überhaupt eine Spur von Individualität zugesprochen wurde, und das auch nur zu dem Zweck, als Vermittler zwischen dem Kollektiv und der Menschheit zu fungieren. Und da das Kollektiv praktisch als ein einzelnes Individuum funktioniert, würde ich in der Tat sagen, dass es Ziele als Eigenwerte berechnet.
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Zumsel
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Anmeldungsdatum: 08.03.2005
Beiträge: 4667

Beitrag(#2216530) Verfasst am: 01.07.2020, 09:52    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
step hat folgendes geschrieben:
Sie stimmen sozusagen darüber ab bzw. handeln es aus. Sollten sie bei dieser Einschätzung falsch liegen (etwa darin, was überhaupt ihre Interessen sind oder welche Mittel gut für diese sind), so wäre das aus entscheidungstheoretischer Sicht im PU egal.
Einer solchen "Ethik" geht jede kritische Reflexion auf die Umstände, unter denen diese "Interessen" gebildet werden, völlig ab.

Nein. Das wäre nur dann so, wenn die Interessen von Leuten geäußert werden, denen auch sonst jede kritische Reflexion abgeht.


Glaube ich nicht, denn praktisch ist in der Gesellschaft, wie sie nun einmal ist, schichtweg jeder darauf angewiesen, seine (partikularen) Interessen zu vertreten, sofern er nicht untergehen will. Diskrepanzen zwischen dem tatsächlichen Tun und dem, was man "eigentlich für richtig" hält, gehören dann ja auch quasi zum Alltag. Und das liegt keineswegs bloß an irgendwelchen individuellen Unzulänglichkeiten. Es ist kein Bug der bürgerlichen Gesellschaft, sondern ein Feature.

step hat folgendes geschrieben:
Zumindest im klassischen Utilitarismus (ohne "Präferenz") ist ja die Idee des guten Lebens sogar in einer viel reflektierteren Form enthalten, als das in allen anderen landläufigen Ethiken der Fall ist, denn dort geht es ja zentral um die Maximierung des Guten für Alle.


Keine Ahnung, was du alles unter "landläufige Ethiken" verstehst, aber der Begriff des guten Lebens wurde nun klarerweise in der griechischen Philosophie geboren und nirgendwo sonst hatte der Begriff einen solch hohen Stellenwert wie bei den "Alten"; im Vergleich zur Ethik war ihnen alles andere sekundär. Vor allem gut und richtig Leben wollten sie, das unterscheidet sie wesentlich von uns. Bei uns ist der oberste Maßstab ja eher die "Funktionalität", sowohl für die Bewertung von Individuen als auch für die ganzer Gesellschaften. Du hast aber insofern recht, als dass die klassischen Utilitaristen sich dem klassischen Ideal noch in sehr viel stärkeren Maße verbunden fühlten, als das bei jenen der Fall ist, die heute so bezeichnet werden.

step hat folgendes geschrieben:
Der Präferenzutilitarismus adressiert das Problem, daß es keine universellen Glücksrezepte gibt. Will man also möglichst viel Leid vermeiden bzw. Glück schaffen, könnte ein Ansatz sein, individuelle Präferenzen der Anderen zu berücksichtigen. Dies ist klarer und effizienter, als wenn man seinem Nächsten das tut, was man selbst gut findet, und erfordert mindestens dieselbe Empathie. "Interessenmaximierung" suggeriert fälschlicherweise ein konkurrierendes Gegeneinander.


Vielleicht besteht das Missverständnis ja schon darin, dass es in der Ethik überhaupt nicht darum geht, irgendwelche "Rezepte" zu finden. Und natürlich steckt in dem Gerede von "Effizienz" schon jene bürgerliche Ideologie, die den Utilitarismus heute so plausibel erscheinen lässt. Er passt einfach zu gut zu jenen Denk- und Bewertungsstrukturen, in denen die heutige Welt quasi vollständig aufgeht. Die abstrakte Bezugnahme aufs "Glück aller" ist da bloß noch ein letzter verbliebener idealistischer Fremdkörper, der aber letztlich ohne praktische Konsequenz bleibt - jedenfalls, solange die Präferenzen anderer nicht "geschäftsrelevant" sind. "Interessenmaximierung" nicht als konkurrierendes Gegeneinander zu verstehen ist aus bürgerlicher Sicht dann ja wohl auch mindestens so unplausibel wie die Idee einer Vernunft, die nicht an konkrete Zwecke gebunden ist.

step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Was wiederrum natürlich bestens zur herrschenden Ideologie passt.

Sehe ich genau umgekehrt - zu Herrschaftssystemen (jeglicher Couleur) passen deontologische Ethiken, da mindestens deren Ziele niemals zur Diskussion stehen. Stell Dir vor, Politik, Kirche, Wirtschaft und Wähler müssten sich rechtfertigen, wo das universelle "Greater Good" ist beim Ersaufenlassen von Flüchtlingen, der Ausbeutung von Geringlöhnern, der Missionierung oder der Massentierhaltung.


Zur bürgerlichen Ideologie passt der Utilitarismus wie Arsch auf Eimer. Das "Glück" gewissermaßen als Ware, deren Produktion es zu optimieren gilt. Der Kerngedanke meines Beitrages noch einmal in eloquenterer Form ausgedrückt:

Adorno hat folgendes geschrieben:
Die traurige Wissenschaft, aus der ich meinem Freunde einiges darbiete, bezieht sich auf einen Bereich, der für undenkliche Zeiten als der eigentliche der Philosophie galt, seit deren Verwandlung in Methode aber der intellektuellen Nichtachtung, der sententiösen Willkür und am Ende der Vergessenheit verfiel: die Lehre vom richtigen Leben. Was einmal den Philosophen Leben hieß, ist zur Sphäre des Privaten und dann bloß noch des Konsums geworden, die als Anhang des materiellen Produktionsprozesses, ohne Autonomie und ohne eigene Substanz, mitgeschleift wird. Wer die Wahrheit übers unmittelbare Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Gestalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Existenz bis ins Verborgenste bestimmen.[...]

Aber das Verhältnis von Leben und Produktion, das jenes real herabsetzt zur ephemeren Erscheinung von dieser, ist vollendet widersinnig. Mittel und Zweck werden vertauscht. Noch ist die Ahnung des aberwitzigen quid pro quo aus dem Leben nicht gänzlich ausgemerzt. Das reduzierte und degradierte Wesen sträubt sich zäh gegen seine Verzauberung in Fassade. Die Änderung der Produktionsverhältnisse selber hängt weithin ab von dem, was sich in der »Konsumsphäre«, der bloßen Reflexionsform der Produktion und dem Zerrbild wahren Lebens, zuträgt: im Bewußtsein und Unbewußtsein der Einzelnen. Nur kraft des Gegensatzes zur Produktion, als von der Ordnung doch nicht ganz Erfaßte, können die Menschen eine menschenwürdigere herbeiführen. Wird einmal der Schein des Lebens ganz getilgt sein, den die Konsumsphäre selbst mit so schlechten Gründen verteidigt, so wird das Unwesen der absoluten Produktion triumphieren.
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Zumsel
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Anmeldungsdatum: 08.03.2005
Beiträge: 4667

Beitrag(#2216532) Verfasst am: 01.07.2020, 09:56    Titel: Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:
Ich befürchte, ihr redet aneinander vorbei, weil ihr eine unterschiedliche Sprache sprecht.


Nein, die Sprache ist schon dieselbe. Der Unterschied liegt u.a. in der unterschiedlichen Beantwortung der Frage, ob es eine gute Idee ist, das (gute) Leben in dieser Weise zu verdinglichen:

smallie hat folgendes geschrieben:
ein gutes Leben ist, wenn diese Interessemaximierung möglich ist.
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Tarvoc
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Anmeldungsdatum: 01.03.2004
Beiträge: 44088

Beitrag(#2216573) Verfasst am: 01.07.2020, 18:26    Titel: Antworten mit Zitat

@Zumsel: Guter Beitrag. Daumen hoch! Mein Beitrag hier sei als Ergänzung zu deinem zu lesen.

@step:
step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Was wiederrum natürlich bestens zur herrschenden Ideologie passt.

Sehe ich genau umgekehrt - zu Herrschaftssystemen (jeglicher Couleur) passen deontologische Ethiken, da mindestens deren Ziele niemals zur Diskussion stehen.

Netter Einfall, aber es verkennt leider, wie ökonomische Herrschaft in modernen... ahem "Marktwirtschaften" funktioniert. Wirtschaftliche Macht wird über die Bevölkerung heute nicht mehr primär dadurch ausgeübt dass ihnen irgendwelche allgemeinen deontologischen Regeln aufgezwungen werden, sondern dadurch, dass die Unternehmen (und die Eigentümer des absoluten Löwenanteils an ihnen) die materiellen Mittel zur Reproduktion tendenziell der gesamten Gesellschaft und ihrer Individuen privat in Händen halten. Die deontologischen Aspekte des bürgerlichen Rechts - die Menschen- und Bürgerrechte - sind demgegenüber geradezu so etwas wie eine letzte Bastion von noch nicht völlig dem Privatzugriff der zahlungskräftigsten Individuen überlassenen Aspekten des gesellschaftlichen und politischen Lebens. Also ganz genau umgekehrt, wie du meinst.

Tatsächlich fällt der von dir hier dargelegte Präferenzutilitarismus ganz genau mit der Logik der subjektiven Werttheorie des Neoliberalismus und der Neoklassik zusammen. Man merkt das immer wieder, wenn man mit Neoliberalen diskutiert: Man kann noch so sehr darauf hinweisen, dass freie Märkte eben nicht genau den Interessen der Kunden folgen, weil Konkurrenz auch noch auf ganz andere und sehr viel dreckigere Weisen erfolgen kann als durch tatsächliche Qualitätsverbesserung einerseits oder Senkung der Preise andererseits - den Neoliberalen interessiert das Null, weil für ihn ausschließlich die Summe der individuellen Kaufentscheidungen selbst interessant ist und nicht, wie und unter welchen Umständen diese Entscheidungen jeweils zustande gekommen sind. Ich denke, es sollte sichtbar sein, wie sich das genau mit der von dir hier dargelegten Logik des Präferenzutilitarismus deckt. Eine Kritik der politischen Ökonomie und der mit ihnen verbundenen Formen von Macht und Herrschaft ist damit so wie ich das sehe effektiv nicht mehr zu machen.
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smallie
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Beitrag(#2216600) Verfasst am: 01.07.2020, 19:48    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Tarvoc hat folgendes geschrieben:
... hier mal was etwas Ernsthafteres zum Thema Utilitarismus: What if you're running on corrupted hardware?

Danke für den link. Ich muß ihn nochmal in Ruhe und mit Kommentaren lesen. Meine spontane Antwort:

Genau deshalb sollten wir "the power of naive realism" überwinden bzw. unsere "corrupted hardware" durchschauen (und fixen?), so daß wir den "external harm of self-benefiting actions" weder unter- noch überschätzen.

Hab's auch gelesen. Zur "corrupted hardware" fällt mir dies ein:

    Im Nürnberger "Turm der Sinne" gibt es ein schönes Experiment. Ein Ball ist in einen Korb zu werfen. Wenn man's gelernt hat, setzt man eine Brille auf, die das Sichtfeld verzerrt. Man wirft daneben, lernt aber bald auch mit der verschobenen Optik zu treffen. Setzt man die Brille nach einer Weile ab - wirft man erstmal daneben.

Korrupte Hardware kann man bis zu einem gewissen Grad übersteuern.

Hilft aber nix, wenn sich die Leute nicht mal einig werden, ob der sprichwörtliche Ball jetzt im Korb liegt oder nicht. Ob Abtreibungspraxen in Polen schließen müssen oder offen bleiben. Das sieht mir eher nach korrupter Software aus. Klar, wer das inhaltlich anders sieht, wird sagen, meine Software sei korrupt.

Warum Yudkowsky nur von Hardware spricht, ist mir entgangen. (Vermutlich ein AI-bezogenes Argument.) Mir hätte besser gefallen: "Woher weiß ich, daß ich keinen Fehler mache, sei es Hard- oder Software?"

Wenn er "for the good of the group" anspricht, stellt Yudkowsky gute Fragen. "If the ends don't justify the means, what does?" - das ist eine exzellente Frage. Die Antworten haben mich nicht so überzeugt.
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Tarvoc
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Beitrag(#2216601) Verfasst am: 01.07.2020, 19:54    Titel: Antworten mit Zitat

Yudkowskys Fragen gefallen mir generell ungleich besser als seine Antworten.
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Skeptiker
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Beitrag(#2216604) Verfasst am: 01.07.2020, 20:07    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Yudkowskys Fragen gefallen mir generell ungleich besser als seine Antworten.


Hardware? Software? Für Yudkowsky scheint der Mensch ein Schachcomputer zu sein.
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Populismus ist keine Verschwörungstheorie

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smallie
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Anmeldungsdatum: 02.04.2010
Beiträge: 3613

Beitrag(#2216605) Verfasst am: 01.07.2020, 20:08    Titel: Antworten mit Zitat

Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Ich befürchte, ihr redet aneinander vorbei, weil ihr eine unterschiedliche Sprache sprecht.


Nein, die Sprache ist schon dieselbe. Der Unterschied liegt u.a. in der unterschiedlichen Beantwortung der Frage, ob es eine gute Idee ist, das (gute) Leben in dieser Weise zu verdinglichen:

smallie hat folgendes geschrieben:
ein gutes Leben ist, wenn diese Interessemaximierung möglich ist.

Ok, einige Beispiele:

    - Ein Schriftsteller erhält Publikationsverbot, weil er nicht auf Linie liegt. Schlecht für ihn. Schlecht auch für die Gesellschaft, wenn sie der nicht auf Linie liegenden Meinung beraubt wird.

    - Abtreibung ist erlaubt/wird verboten. Wer hat hier welche Interessen? Welche lassen sich begründen, welche maximieren?

    - Prohibition in Amerika. Für manche gehört es zum guten Leben, einen Saufen gehen zu können. Wieso sollte irgend jemand das Recht haben, dies anderen zu verbieten?

Was dir zum Thema einfällt, ist etwas anderes, als was mir zum Thema einfällt. Wir denken sogar aneinander vorbei.

Beweist immerhin, daß wir keine Borg sind. zwinkern
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step
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Beiträge: 22767
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Beitrag(#2216611) Verfasst am: 01.07.2020, 20:34    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Wirtschaftliche Macht wird über die Bevölkerung heute ... dadurch ausgeübt dass .... die Unternehmen (und die Eigentümer des absoluten Löwenanteils an ihnen) die materiellen Mittel zur Reproduktion tendenziell der gesamten Gesellschaft und ihrer Individuen privat in Händen halten.

Die ethische Rechtfertigung dieses Zustands wird aber gerade nicht aus dem utilitaristischen Streben nach dem "Besten für Alle" oder "Minimierung des Leidens" bezogen, sondern entweder aus feudal tradierten deontologischen Kategorien wie z.B. "Eigentum", "Erbe", oder aus gänzlich unreflektierten ethischen Vakua. So gesehen ist die sozialistische Utopie deutlich utilitaristischer als der Kapitalismus.

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Die deontologischen Aspekte des bürgerlichen Rechts - die Menschen- und Bürgerrechte - sind demgegenüber geradezu so etwas wie eine letzte Bastion von noch nicht völlig dem Privatzugriff der zahlungskräftigsten Individuen überlassenen Aspekten des gesellschaftlichen und politischen Lebens.

Du pickst hier gerade die Rechte heraus, die Dir in den Kram passen. Es gibt aber erstens im bürgerlichen Recht ebenso auch Rechte zur Ausbeutung; zweitens (und wichtiger) sind die gennanten Bürgerrechte im Utilitarismus wenigstens begründbar, was ja in einer aufgeklärten Gesellschaft einen gewissen Schutz bietet. Letztlich sind viele Bürgerrechte, etwa der Gleichberechtigung, aus der Idee entstanden, die Interessen Aller zu berücksichtigen, auch wenn dieses Motiv als solches natürlich schon lange vor dem Utilitarismus existierte.

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
... den Neoliberalen interessiert das Null, weil für ihn ausschließlich die Summe der individuellen Kaufentscheidungen selbst interessant ist und nicht, wie und unter welchen Umständen diese Entscheidungen jeweils zustande gekommen sind. Ich denke, es sollte sichtbar sein, wie sich das genau mit der von dir hier dargelegten Logik des Präferenzutilitarismus deckt.

Das deckt sich keineswegs - der Utilitarismus impliziert immer auch Konsequenzialismus, also das universelle Greater Good am Ende. Ein genudgter Dummkäufer geht da nicht durch. Dem Neoliberalen dagegen sind die Konsequenzen wurst, außer sein Gewinn. Beim Präferenz-U bezieht sich "Präferenz" also nicht darauf, daß eine momentane, unreflektierte Bauchetscheidung getroffen werden soll, sondern daß die Bewertung der abgeschätzten Konsequenzen individuell unterschiedlich sein kann.

Eher schon passen würde der Trickle-Down-Effekt - wenn es ihn denn gäbe.

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Eine Kritik der politischen Ökonomie und der mit ihnen verbundenen Formen von Macht und Herrschaft ist damit so wie ich das sehe effektiv nicht mehr zu machen.

Oha - ich finde sogar, daß die besonders gut damit zu machen ist - denn man kann relativ einfach zeigen, daß der Kapitalismus in der heutigen Form eindeutig das größere Glück und geringere Leid für möglichst viele weder anstrebt noch zufällig erreicht.
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Tarvoc
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Beitrag(#2216614) Verfasst am: 01.07.2020, 20:56    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Die deontologischen Aspekte des bürgerlichen Rechts - die Menschen- und Bürgerrechte - sind demgegenüber geradezu so etwas wie eine letzte Bastion von noch nicht völlig dem Privatzugriff der zahlungskräftigsten Individuen überlassenen Aspekten des gesellschaftlichen und politischen Lebens.

Du pickst hier gerade die Rechte heraus, die Dir in den Kram passen.

Nein. Ich picke "hier gerade" genau die Rechte heraus, die im bürgerlichen Recht tatsächlich deontologisch begründet werden und nicht als bloß zweckgebundene hypothetische Imperative. Dass man deontologische Prinzipien unter Umständen theoretisch auch utilitaristisch begründen könnte, ist zwar richtig, ändert aber nichts daran, dass z.B. der Grundrechtekanon des Grundgesetzes nicht utilitaristisch begründet wird, sondern deontologisch über die Setzung der Menschenwürde als unmittelbar geltendes Recht. (Das Recht auf Eigentum ist übrigens in diesem Grundrechtekanon zwar enthalten, aber explizit nicht als Absolutum.)

step hat folgendes geschrieben:
Das deckt sich keineswegs - der Utilitarismus impliziert immer auch Konsequenzialismus, also das universelle Greater Good am Ende.

step hat folgendes geschrieben:
Es ist keineswegs gesagt, daß Präferenzutilitarismus zu einem besseren Leben für alle führt - wenn zu viele Präferenzen zu dumm und kurzsichtig sind, geht das selbstverständlich in die Hose.

Du schwimmst. Das ist entweder ein Widerspruch oder ein Eingeständnis, dass der Präferenzutilitarismus zur Beantwortung der Fragen, für die man ihn einführt, überhaupt nichts beiträgt.
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Zuletzt bearbeitet von Tarvoc am 01.07.2020, 20:59, insgesamt 2-mal bearbeitet
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step
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Beitrag(#2216615) Verfasst am: 01.07.2020, 20:58    Titel: Antworten mit Zitat

@Zumsel,

ich hoffe, einiges wird schon aus meiner Antwort an Tarvoc klar - kann gerade nicht auf Alles eingehen.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Vielleicht besteht das Missverständnis ja schon darin, dass es in der Ethik überhaupt nicht darum geht, irgendwelche "Rezepte" zu finden.

Hmm ... doch, irgendwie schon. Man fragt sich, wie man sich in welcher Situation "richtig" verhalten soll. Ob man das Ergebnis von einer Steintafel abliest, es eingebleut bekommen hat oder es konsequentialistisch reflektiert - immer eine Art Rezept.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Und natürlich steckt in dem Gerede von "Effizienz" schon jene bürgerliche Ideologie, die den Utilitarismus heute so plausibel erscheinen lässt.

Nein, das stimmt jedenfalls nicht für die Utilitaristen, die ich kenne. Die Plausibilität kommt eher durch die konsequentialistische und spieltheroetische Nachvollziehbarkeit zustande. Die wenigen mir persönlich bekannten Neoliberalen sind allesamt keine Utilitaristen, sondern argumentieren christlich, kantianisch, buddhistisch oder rechtspositivistisch.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Die abstrakte Bezugnahme aufs "Glück aller" ist da bloß noch ein letzter verbliebener idealistischer Fremdkörper, der aber letztlich ohne praktische Konsequenz bleibt - jedenfalls, solange die Präferenzen anderer nicht "geschäftsrelevant" sind.

Natürlich darf es nicht bei einem solch abstrakten Begriff bleiben, das ist ähnlich bei "Würde" oder "Verantwortung". Deswegen gibt es "Praktische Ethik". Aber man sieht ziemlich sofort ein, daß es relativ leicht ist, mit dem Utilitarismus die Massentierhaltung, Diskriminierung von Minderheiten, Abtreibung usw. zu bewerten.
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Beitrag(#2216616) Verfasst am: 01.07.2020, 21:02    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Deswegen gibt es "Praktische Ethik".

Ja, und deshalb kennt der Neoliberalismus die Praxeologie.
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Beitrag(#2216618) Verfasst am: 01.07.2020, 21:04    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
... ändert aber nichts daran, dass z.B. der Grundrechtekanon des Grundgesetzes nicht utilitaristisch begründet wird, sondern deontologisch über die Setzung der Menschenwürde als unmittelbar geltendes Recht.

Das hat niemand bezweifelt. Dadurch werden sie aber angreifbar. Ähnlich wie man heute lernt, Autoritäten nicht einfach widerspruchslos zu folgen.

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
step hat folgendes geschrieben:
Das deckt sich keineswegs - der Utilitarismus impliziert immer auch Konsequenzialismus, also das universelle Greater Good am Ende.
step hat folgendes geschrieben:
Es ist keineswegs gesagt, daß Präferenzutilitarismus zu einem besseren Leben für alle führt - wenn zu viele Präferenzen zu dumm und kurzsichtig sind, geht das selbstverständlich in die Hose.

Entweder du widersprichst dir mit diesen beiden Äußerungen oder du hast gerade zugegeben, dass der Präferenzutilitarismus zur Lösung der Fragen, für die man ihn einführt, buchstäblich nichts beiträgt.

Weder noch - der Präferenzutilitarismus, wie auch generell der Utilitarismus, funktioniert nur, wenn die Konsequenzen hinreichend gut absehbar sind. Für eine sehr dumme Spezies wäre eine deontologische Ethik (oder im Extrem 3 Anstaltsregeln) vermutlich das geringere Übel.
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Beitrag(#2216619) Verfasst am: 01.07.2020, 21:06    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
step hat folgendes geschrieben:
Deswegen gibt es "Praktische Ethik".
Ja, und deshalb kennt der Neoliberalismus die Praxeologie.

Ach komm - Kommunismus und Christentum kennen sicher auch irgendwas mit Praxis, was soll das.
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Beitrag(#2216620) Verfasst am: 01.07.2020, 21:08    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Weder noch - der Präferenzutilitarismus, wie auch generell der Utilitarismus, funktioniert nur, wenn die Konsequenzen hinreichend gut absehbar sind. Für eine sehr dumme Spezies wäre eine deontologische Ethik (oder im Extrem 3 Anstaltsregeln) vermutlich das geringere Übel.

Nur dumm, dass die von mir geschilderten Unabsehbarkeiten überhaupt nichts mit der Dummheit der Kunden zu tun hatten. Dass du das Ganze auf die Ebene einer Diskussion über die Dummheit der Individuen ziehst, zeigt übrigens wiederum die strukturelle Nähe deiner Argumentation hier zu neoliberalem Denken.
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Beitrag(#2216621) Verfasst am: 01.07.2020, 21:11    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Tarvoc hat folgendes geschrieben:
step hat folgendes geschrieben:
Deswegen gibt es "Praktische Ethik".
Ja, und deshalb kennt der Neoliberalismus die Praxeologie.

Ach komm - Kommunismus und Christentum kennen sicher auch irgendwas mit Praxis, was soll das.

Sorry, hab' wohl das Emoji vergessen. Das war mehr sowas wie eine kleine augenzwinkernde polemische Spitze.

Ja klar kennt auch der Marxismus einen Praxisbegriff, sogar mit recht gewichtiger Bedeutung, allerdings in recht fundamental anderem Zusammenhang und mit anderer Funktion. Die "praktische Ethik" im Utilitarismus erfüllt hingegen mehr oder weniger tatsächlich eine vergleichbare Funktion wie die Praxeologie in der Neoklassik - bzw. Letztere ist mehr oder weniger von Ersterer abgeschaut, nur eben ohne allgemeines Greater Good.

https://de.wikipedia.org/wiki/Praxeologie_(Wirtschaftswissenschaft)
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Zumsel
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Beitrag(#2216639) Verfasst am: 02.07.2020, 09:03    Titel: Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:
Ok, einige Beispiele:

- Ein Schriftsteller erhält Publikationsverbot, weil er nicht auf Linie liegt. Schlecht für ihn. Schlecht auch für die Gesellschaft, wenn sie der nicht auf Linie liegenden Meinung beraubt wird.

- Abtreibung ist erlaubt/wird verboten. Wer hat hier welche Interessen? Welche lassen sich begründen, welche maximieren?


Das Recht auf Meinungsäußerung und Kunstfreiheit ist keineswegs an irgendeinen Nutzen für die Gesellschaft gebunden, im Gegenteil werden mit diesem angeblichen Nutzen ja eher gerne entsprechende Einschränkungen gerechtfertigt.

Auch das Recht am eigenen Körper ist (glücklicherweise) nicht durch irgendeinen gesellschaftlichen Nutzen begründet. Abtreibungsgegner argumentieren übrigens i.d.R. auch nicht mit dem Interesse der Gesellschaft oder ähnlichem, sondern mit dem angeblichen Grundrecht des ungeborenen Kindes auf Leben. Eine utilitaristische Argumentation bietet sich jedenfalls für keine der Parteien wirklich an. "Nutzen" und Maximierung von was auch immer sind hier schlicht keine relevante Kategorien, ebenso wenig wie im ersten Fall und eigentlich in allen Fragen, die Grundrechte betreffen, denn ein Grundrecht zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es seine Existenz eben durch nichts rechtfertigen muss.

smallie hat folgendes geschrieben:
Beweist immerhin, daß wir keine Borg sind. zwinkern


Da kann ich leider nichts zu sagen, ich habe früher eher Baywatch und Miami Vice geguckt zwinkern
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Zumsel
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Beitrag(#2216641) Verfasst am: 02.07.2020, 09:31    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Die deontologischen Aspekte des bürgerlichen Rechts - die Menschen- und Bürgerrechte - sind demgegenüber geradezu so etwas wie eine letzte Bastion von noch nicht völlig dem Privatzugriff der zahlungskräftigsten Individuen überlassenen Aspekten des gesellschaftlichen und politischen Lebens.

Du pickst hier gerade die Rechte heraus, die Dir in den Kram passen. Es gibt aber erstens im bürgerlichen Recht ebenso auch Rechte zur Ausbeutung; zweitens (und wichtiger) sind die gennanten Bürgerrechte im Utilitarismus wenigstens begründbar,...


Bin ich mir nicht so sicher, siehe meine Antwort an smallie. Grundrechte utilitaristisch zu begründen führt die Idee dessen, was ein Grundrecht ist, eigentlich sogar ad absurdum.

step hat folgendes geschrieben:
Das deckt sich keineswegs - der Utilitarismus impliziert immer auch Konsequenzialismus,...

Na ja, das ist noch so ein anderes Problem, denn ob man, wenn man jemandes Leben rettet, gerade einem zukünftigen Mörder oder den Erzeuger des nächsten Hitler rettet, kann man ja gar nicht wissen. Allgemeiner gesprochen kann man eigentlich nie wissen, ob eine Handlung, mit allen daraus folgenden Konsequenzen, am Ende aller Zeiten unterm Strich mehr Gutes oder mehr Schlechtes bewirkt haben wird. Das ist einfach eine epistemische Unmöglichkeit. Ist aber ein ganz anderer Punkt, den wir hier nicht weiter vertiefen müssen.

step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Vielleicht besteht das Missverständnis ja schon darin, dass es in der Ethik überhaupt nicht darum geht, irgendwelche "Rezepte" zu finden.

Hmm ... doch, irgendwie schon. Man fragt sich, wie man sich in welcher Situation "richtig" verhalten soll. Ob man das Ergebnis von einer Steintafel abliest, es eingebleut bekommen hat oder es konsequentialistisch reflektiert - immer eine Art Rezept.

Gut, legt man das Wort "Rezept" hier sehr weit, kann man das so sehen.

step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Und natürlich steckt in dem Gerede von "Effizienz" schon jene bürgerliche Ideologie, die den Utilitarismus heute so plausibel erscheinen lässt.

Nein, das stimmt jedenfalls nicht für die Utilitaristen, die ich kenne. Die Plausibilität kommt eher durch die konsequentialistische und spieltheroetische Nachvollziehbarkeit zustande. Die wenigen mir persönlich bekannten Neoliberalen sind allesamt keine Utilitaristen, sondern argumentieren christlich, kantianisch, buddhistisch oder rechtspositivistisch.

Ich unterstelle auch nicht allen Vertretern des Utilitarismus, bewusst dieser Ideologie anzuhängen. Und ich behaupte selbstverständlich auch nicht, dass die Beachtung von Präferenzen anderer und Bemühungen um die Beförderung des allgemeinen Wohlergehens keine ethischen Kategorien wären (Auch Kant sagt übrigens, Pflicht eines Jeden sei die eigene Vervollkommnung und des anderen Glückseeligkeit). Der Hase liegt doch eher hier im Pfeffer:

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
step hat folgendes geschrieben:
Das deckt sich keineswegs - der Utilitarismus impliziert immer auch Konsequenzialismus, also das universelle Greater Good am Ende.

step hat folgendes geschrieben:
Es ist keineswegs gesagt, daß Präferenzutilitarismus zu einem besseren Leben für alle führt - wenn zu viele Präferenzen zu dumm und kurzsichtig sind, geht das selbstverständlich in die Hose.

Du schwimmst. Das ist entweder ein Widerspruch oder ein Eingeständnis, dass der Präferenzutilitarismus zur Beantwortung der Fragen, für die man ihn einführt, überhaupt nichts beiträgt.


Denn offensichtlich ist doch die Herbeiführung von Verhältnissen, die für dich die Voraussetzung einer utilitaristischen Gesellschaft bilden, überhaupt erst die eigentliche Herausforderung. Und sofern diese Verhältnisse erreicht wären, wären die genannten utilitaristischen Forderungen (Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer usw.) im Grunde eine schiere Selbstverständlichkeit, die gar keiner eigenen theoretischen Fundierung und erst recht keiner spieltheoretischen Überlegungen und mathematischen Operationen bedürften. Letzteres ist ja schon wieder eine Verdinglichung und Verschematisierung menschlicher Beziehungen, die gerade dadurch ideologisch ihre eigenen ethischen Voraussetzungen unterminiert. Denn wo wirklich menschliche Beziehungen herrschen, besteht kein Bedürfnis nach mathematischer exakter Interessenmaximierung und wo mathematische Exaktheit als Nachweis der Angemessenheit von Maximierungsbestrebungen erforderlich ist, sind die von dir genannten Voraussetzung vermutlich nicht erfüllt.
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Beitrag(#2216659) Verfasst am: 02.07.2020, 10:47    Titel: Antworten mit Zitat

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Grundrechte utilitaristisch zu begründen führt die Idee dessen, was ein Grundrecht ist, eigentlich sogar ad absurdum.

So denken leider viele - der Grund ist mangelnde Reflektion. Viele mögen nicht eingestehen, daß Grundrechte eben keine Eigenschaften von Seelen (oder so) sind, sondern offensichtlich Zumessungen der Gemeinschaft an Individuen - denn sonst würden sie ja immer und überall gelten. Es wäre deshalb ehrlicher, das zuzugeben, woraus sich dann automatisch eine Begründungspflicht ergibt, u.a. auch des Zuschnitts der Grundrechte wegen.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
... Erzeuger des nächsten Hitler ...

Das ist irrelevant: Natürlich schätzt man nur Konsequenzen ab, die man abschätzen kann - gib zu, daß Du das in der Praxis auch so hältst und keineswegs das Abwägen nur wegen potenzieller Böse- oder Gutwichter komplett aufgibst.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Allgemeiner gesprochen kann man eigentlich nie wissen, ob eine Handlung, mit allen daraus folgenden Konsequenzen, am Ende aller Zeiten unterm Strich mehr Gutes oder mehr Schlechtes bewirkt haben wird. Das ist einfach eine epistemische Unmöglichkeit.

Eine Entscheidung (oder auch eine Regel) basierend auf einer Abwägung der Konsequenzen, selbst wenn diese unvollständig ist, liefert meist ein besseres Ergebnis in bezug auf ein Ziel. Viele geltende best practices tun das ebenso, die Konsequenzen wurden hier auch im Nachinein überprüft und nachgeregelt. Ich frage mich, worauf sonst moralisch relevante Entscheidungen basieren sollten, wenn nicht auf Abwägung von Konsequenzen. Zum Beispiel kann doch nicht jemand ernsthaft der Moral der Nächstenliebe folgen und die vermuteten Konsequenzen bei Entscheidungen ignorieren.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
... offensichtlich ist doch die Herbeiführung von Verhältnissen, die für dich die Voraussetzung einer utilitaristischen Gesellschaft bilden, überhaupt erst die eigentliche Herausforderung. Und sofern diese Verhältnisse erreicht wären, wären die genannten utilitaristischen Forderungen (Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer usw.) im Grunde eine schiere Selbstverständlichkeit, die gar keiner eigenen theoretischen Fundierung und erst recht keiner spieltheoretischen Überlegungen und mathematischen Operationen bedürften.

Das ist ein bißchen richtig, aber ganz so trivial ist es nicht - u.a. sind wir weder schlau genug, den Utilitarismus als trivial anzusehen, noch dumm genug, um seine Vorteile überhaupt nicht zu verstehen.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Letzteres ist ja schon wieder eine Verdinglichung und Verschematisierung menschlicher Beziehungen, ...

Tut mir leid, aber menschliche Beziehungen sind letztlich dinglicher Natur. Aus dem Paradies sind wir vertrieben.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
... wo wirklich menschliche Beziehungen herrschen, besteht kein Bedürfnis nach mathematischer exakter Interessenmaximierung ...

Jaja, Mathe gegen Liebe ... Menschliche Beziehungen sind leider ethisch auch sehr gefährlich, unter anderem umfassen sie Haß, Eifersucht, Rache, Neid, Fremdenhaß usw. - muß ich Dir nicht erzählen.
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Beitrag(#2216663) Verfasst am: 02.07.2020, 11:02    Titel: Antworten mit Zitat

Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
- Ein Schriftsteller erhält Publikationsverbot, weil er nicht auf Linie liegt. Schlecht für ihn. Schlecht auch für die Gesellschaft, wenn sie der nicht auf Linie liegenden Meinung beraubt wird.

- Abtreibung ist erlaubt/wird verboten. Wer hat hier welche Interessen? Welche lassen sich begründen, welche maximieren?


Das Recht auf Meinungsäußerung und Kunstfreiheit ist keineswegs an irgendeinen Nutzen für die Gesellschaft gebunden, im Gegenteil werden mit diesem angeblichen Nutzen ja eher gerne entsprechende Einschränkungen gerechtfertigt.

Ein erlogener Gemeinnutzen gilt nicht. Wenn es eine Grauzone ist (also man weiß ehrlich nicht was besser ist), sollte man die Freiheit lassen bzw. kene drakonischen Mittel anwenden.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Auch das Recht am eigenen Körper ist (glücklicherweise) nicht durch irgendeinen gesellschaftlichen Nutzen begründet.

Stimmt, zuerst war es unbegründet eingeschränkt und jetzt ist es unbegründet weiter gefaßt. Oder wie ist die jewelige Regelung begründet? Geäußerte Interessen / Präferenzen haben wohl auch eine Rolle gespielt ("mein Bauch gehört mir"). Im Utilitarismus wäre die Bgründung aber relativ stringent.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Eine utilitaristische Argumentation bietet sich jedenfalls für keine der Parteien wirklich an. "Nutzen" und Maximierung von was auch immer sind hier schlicht keine relevante Kategorien, ...

Das ist mE falsch. Wenn die moralische Wahl besteht zwischen Abtreibungsrecht und Austragungszwang, ist die Abwägung der Konsequenzen (für die Schwangere, für den Embryo, für Dritte) in Hinblick auf das geringste Gesamtleiden eine sehr relevante Kategorie. Ehrlichgesagt wüßte ich keine andere wirklich relevante Kategorie.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
... ein Grundrecht zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es seine Existenz eben durch nichts rechtfertigen muss.

Das ist zirkelschlüssig.
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Zumsel
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Beitrag(#2216669) Verfasst am: 02.07.2020, 11:38    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Grundrechte utilitaristisch zu begründen führt die Idee dessen, was ein Grundrecht ist, eigentlich sogar ad absurdum.

So denken leider viele - der Grund ist mangelnde Reflektion. Viele mögen nicht eingestehen, daß Grundrechte eben keine Eigenschaften von Seelen (oder so) sind, sondern offensichtlich Zumessungen der Gemeinschaft an Individuen - denn sonst würden sie ja immer und überall gelten.


Klar, alles, was nicht utilitaristisch begründet ist, ist metaphysischer Hokuspokus. Aber Hauptsache, andere reflektieren zu oberflächlich. Lachen

step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Allgemeiner gesprochen kann man eigentlich nie wissen, ob eine Handlung, mit allen daraus folgenden Konsequenzen, am Ende aller Zeiten unterm Strich mehr Gutes oder mehr Schlechtes bewirkt haben wird. Das ist einfach eine epistemische Unmöglichkeit.

Eine Entscheidung (oder auch eine Regel) basierend auf einer Abwägung der Konsequenzen, selbst wenn diese unvollständig ist, liefert meist ein besseres Ergebnis in bezug auf ein Ziel. Viele geltende best practices tun das ebenso, die Konsequenzen wurden hier auch im Nachinein überprüft und nachgeregelt. Ich frage mich, worauf sonst moralisch relevante Entscheidungen basieren sollten, wenn nicht auf Abwägung von Konsequenzen. Zum Beispiel kann doch nicht jemand ernsthaft der Moral der Nächstenliebe folgen und die vermuteten Konsequenzen bei Entscheidungen ignorieren.


Das ist richtig, aber hier nicht der Punkt. Das diesbezügliche Problem am Utilitarismus ist halt mehr der daraus abgeleitete theoretische Anspruch, der sinnvoll eben nur auf konkrete Ziele anwendbar ist, aber nicht auf ein Ziel wie das allgemeine Glück. Ein solches Ziel ist aber nötig, damit man das ganze überhaupt als konsistente universalistische Ethik verstehen kann. Das war mein ganzer Punkt. Ist aber, wie schon gesagt, hier ohnehin nur ein Nebenaspekt.

step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Letzteres ist ja schon wieder eine Verdinglichung und Verschematisierung menschlicher Beziehungen, ...

Tut mir leid, aber menschliche Beziehungen sind letztlich dinglicher Natur. Aus dem Paradies sind wir vertrieben.


Ahh, danke für die Auflärung, gut, dass mir das endlich mal jemand sagt.

step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
... wo wirklich menschliche Beziehungen herrschen, besteht kein Bedürfnis nach mathematischer exakter Interessenmaximierung ...

.
Jaja, Mathe gegen Liebe ...


Das ist nicht, was ich geschrieben habe und für deinen Mangel an Vorstellungskraft kann ich nichts

step hat folgendes geschrieben:
.
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Auch das Recht am eigenen Körper ist (glücklicherweise) nicht durch irgendeinen gesellschaftlichen Nutzen begründet.

Stimmt, zuerst war es unbegründet eingeschränkt und jetzt ist es unbegründet weiter gefaßt. Oder wie ist die jewelige Regelung begründet? Geäußerte Interessen / Präferenzen haben wohl auch eine Rolle gespielt ("mein Bauch gehört mir").


Dass so etwas gar keine Rolle spielen würde, hat auch niemand behauptet. Nur ist die utilitaristische Erklärung dieser Rolle dann halt etwas plump. Denn der relevante argumentative Bezug bleibt hier nun mal die Verwirklichung eines Grundrechts und keine Abwägung dieses Grundrechtes gegen andere Interessen.

step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
... ein Grundrecht zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es seine Existenz eben durch nichts rechtfertigen muss.

Das ist zirkelschlüssig.


Das ist kein Schluss sondern die Beschreibung einer begrifflichen Implikation. Es steht dir frei, auf den Grundrechtsbegriff zu verzichten und dafür einen utilitaristisch kompatiblen zu finden. Die "Sache" soll sich so angeblich ja eh viel stringenter begründen lassen.
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Beitrag(#2216671) Verfasst am: 02.07.2020, 12:17    Titel: Antworten mit Zitat

Zumsel hat folgendes geschrieben:
step hat folgendes geschrieben:
Viele mögen nicht eingestehen, daß Grundrechte eben keine Eigenschaften von Seelen (oder so) sind, sondern offensichtlich Zumessungen der Gemeinschaft an Individuen - denn sonst würden sie ja immer und überall gelten.
Klar, alles, was nicht utilitaristisch begründet ist, ist metaphysischer Hokuspokus. ...

Verstehe ich nicht. Sind Grundrechte denn keine Zumessungen der Gemeinschaft an Individuen? Wie kommen die denn sonst ins Gesetzbuch? Die Würde des Menschen ist ja offensichtlich antastbar. Wenn wir also (eigentlich falsch) schreiben, sie sei unantastbar, bedeutet das eigentlich so etwas wie: "Wir schwören feierlich, daß es unser Ziel ist, jedem Menschen unter allen Umständen würdig zu behandeln. Näheres regeln Ausführungsbestimmungen."

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Das diesbezügliche Problem am Utilitarismus ist halt mehr der daraus abgeleitete theoretische Anspruch, der sinnvoll eben nur auf konkrete Ziele anwendbar ist, aber nicht auf ein Ziel wie das allgemeine Glück. Ein solches Ziel ist aber nötig, damit man das ganze überhaupt als konsistente universalistische Ethik verstehen kann.

Wie gesagt, dieses Problem haben etwas generischere deontologische Ethiken genauso. Der U läßt sich aber offensichtlich häufig auch schon mit bezug auf das sehr allgemeine Ziel in der Praxis anwenden, Beispiele hatten ich und smallie genannt.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Nur ist die utilitaristische Erklärung dieser Rolle [der Interessen beim Schwangersachaftsabbruch vs. Zwangsaustragung] dann halt etwas plump. Denn der relevante argumentative Bezug bleibt hier nun mal die Verwirklichung eines Grundrechts und keine Abwägung dieses Grundrechtes gegen andere Interessen.

Das kann man im Nachhinein leicht sagen, die Mehrheit damals hat es anders gesehen, es mußte erkämpft werden. Ich denke aber sogar, daß es bis heute falsch ist. Denn grundrechtlich gesehen, und zudem nach Gesellschaften ganz unterschiedlich, ist nicht klar, welchen Status ein Embryo und ein S-Abbruch haben, nicht umsonst gibt es den $218 noch. Noch klarer sieht man es bei Themen, die offensichtlich mehr Leid als Glück schaffen, aber zu denen bisher noch gar kein Grundrecht entwickelt wurde.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
... ein Grundrecht zeichnet sich gerade dadurch aus, dass es seine Existenz eben durch nichts rechtfertigen muss.

Das ist zirkelschlüssig.
Das ist kein Schluss sondern die Beschreibung einer begrifflichen Implikation.

Die heißen doch nicht Grundrechte, weil sie immer schon da waren, sondern weil wir sie als besonders grundlegende, zentrale Rechten jeder Person zugestehen:
wikipedia hat folgendes geschrieben:
Grundrechte sind grundlegende Freiheits- und Gleichheitsrechte, die Individuen gegenüber dem Staat zugestanden werden und Verfassungsrang genießen.

Und als kritischer Mensch erwarte ich natürlich einen Diskurs und eine Bgründung, ob und warum etwa ein bestimmtes "Grund"recht neu aufgenommen oder geändert wird.
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Zumsel
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Beitrag(#2216677) Verfasst am: 02.07.2020, 15:45    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
step hat folgendes geschrieben:
Viele mögen nicht eingestehen, daß Grundrechte eben keine Eigenschaften von Seelen (oder so) sind, sondern offensichtlich Zumessungen der Gemeinschaft an Individuen - denn sonst würden sie ja immer und überall gelten.
Klar, alles, was nicht utilitaristisch begründet ist, ist metaphysischer Hokuspokus. ...

Verstehe ich nicht. Sind Grundrechte denn keine Zumessungen der Gemeinschaft an Individuen? Wie kommen die denn sonst ins Gesetzbuch?


Schon, aber der Weg dahin hat ja eine Geschichte und die kann nicht gelöst werden von dem Begriff selbst. Am prägnantesten hat es Nietzsche formuliert:

"Alle Begriffe, in denen sich ein ganzer Prozeß semiotisch zusammenfaßt, entziehn sich der Definition; definierbar ist nur das, was keine Geschichte hat."

Und Begriffe wie "Grundrechte", "Menschenrechte" usw. sind dafür nun wirklich ganz hervorragende Beispiele. Der Versuch, diese Ideen zu deuten als gewissermaßen unreflektierte utilitaristische Bestreben geht u.a. deshalb regelmäßig fehl, weil er völlig den emphatischen Aspekt dieser Begriffe verkennt. Auch wenn der mythologische Überbau als eben Mythos entlarvt wurde, macht diesen Aspekt und die Wirkung, die er entfaltet, nicht weniger real. Eine konsequente Entmythologisierung käme letztlich gar nicht umhin, diese Ideen selbst zu verwerfen (was nicht zufällig ja zum Teil auch schon passiert ist und immer wieder passiert). Das heißt nicht, stur im Mythos zu verharren, sondern es heißt, den Mythos ernst zu nehmen und die eigenen ethischen Ideale in den Kontext der Geschichte auch dieses Mythos (und seiner Grundlagen) zu stellen, da nämlich diese Ideale ansonsten gar nicht richtig verstanden werden können.
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Beitrag(#2216826) Verfasst am: 04.07.2020, 12:28    Titel: Antworten mit Zitat

Zumsel hat folgendes geschrieben:
... der Weg dahin hat ja eine Geschichte und die kann nicht gelöst werden von dem Begriff selbst ... emphatischen Aspekt dieser Begriffe ... den Mythos ernst zu nehmen und die eigenen ethischen Ideale in den Kontext der Geschichte auch dieses Mythos (und seiner Grundlagen) zu stellen ...

Mit Verlaub, das mag für einen Kulturhistoriker ein funktionierender Ansatz sein, für eine kritisch-rationale moderne Ethik ist es unbrauchbar aufgrund seiner hermeneutischen Beliebigkeit und Ziellosigkeit. Auf diese Weise kannst Du niemals begründen, warum irgendein Grundrecht überhaupt, oder gar universell, gelten sollte.

Nachdem ich die Threadausgangsfrage (wer soll kartoffelschälen) ja utilitaristisch begründet beantwortet habe: Wie würdest Du diese Frage beantworten, mittels historisch-mythischen Kontextes?

Ich kann doch nicht die Gleichberechtigung von Frauen, die Pressefreiheit, die Todesstrafe oder das Asylrecht davon abhängig machen, ob das zufällig in einem Land und seiner Geschichte einen Mythos darstellt oder ob eher das Gegenteil den Mythos darstellt. Diese Sichtweise finde ich sogar gefährlich - wenn man da nicht aufpaßt, wird der Kapitalismus am Ende noch als Weltkulturerbe unter Naturschutz gestellt. Es kommt mir auch unlogisch vor, daß diese "kulturell tradierte Präferenz" weniger unkritisch sein soll als die Summe der individuellen Präferenzen beim P-Utilitarimus.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Auch wenn der mythologische Überbau als eben Mythos entlarvt wurde, macht diesen Aspekt und die Wirkung, die er entfaltet, nicht weniger real.

Daß historische Moralsysteme und Traditionen heute noch prägend wirken, bestreitet niemand. Dazu gehören übrigens auch die Systemeigenschaften, die u.a. auch Tarvoc so gern kritisch überwunden sähe.

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Eine konsequente Entmythologisierung käme letztlich gar nicht umhin, diese Ideen selbst zu verwerfen ...

Genau, wie bei jeder kritischen Theorie. Besser gesagt, sie erstmal vom apriori-Sockel zu holen und trotz aller Tradition und Mythos als unbegründet anzusehen - viele von ihnen können dann aber durchaus, mit Begründung, eine neue Karriere starten.
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smallie
resistent!?



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Beitrag(#2216838) Verfasst am: 04.07.2020, 14:03    Titel: Antworten mit Zitat

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Der Hase liegt doch eher hier im Pfeffer:

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
step hat folgendes geschrieben:
Das deckt sich keineswegs - der Utilitarismus impliziert immer auch Konsequenzialismus, also das universelle Greater Good am Ende.

step hat folgendes geschrieben:
Es ist keineswegs gesagt, daß Präferenzutilitarismus zu einem besseren Leben für alle führt - wenn zu viele Präferenzen zu dumm und kurzsichtig sind, geht das selbstverständlich in die Hose.

Du schwimmst. Das ist entweder ein Widerspruch oder ein Eingeständnis, dass der Präferenzutilitarismus zur Beantwortung der Fragen, für die man ihn einführt, überhaupt nichts beiträgt.


Denn offensichtlich ist doch die Herbeiführung von Verhältnissen, die für dich die Voraussetzung einer utilitaristischen Gesellschaft bilden, überhaupt erst die eigentliche Herausforderung. Und sofern diese Verhältnisse erreicht wären, wären die genannten utilitaristischen Forderungen (Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse anderer usw.) im Grunde eine schiere Selbstverständlichkeit, die gar keiner eigenen theoretischen Fundierung und erst recht keiner spieltheoretischen Überlegungen und mathematischen Operationen bedürften. Letzteres ist ja schon wieder eine Verdinglichung und Verschematisierung menschlicher Beziehungen, die gerade dadurch ideologisch ihre eigenen ethischen Voraussetzungen unterminiert. Denn wo wirklich menschliche Beziehungen herrschen, besteht kein Bedürfnis nach mathematischer exakter Interessenmaximierung und wo mathematische Exaktheit als Nachweis der Angemessenheit von Maximierungsbestrebungen erforderlich ist, sind die von dir genannten Voraussetzung vermutlich nicht erfüllt.

Ich erlaube mir einen Scherz und zitiere vorweg das Fazit dieses Beitrags.

Bitte immer wieder auf den Link klicken, dann läuft sich die Diskussion bald tot. Mr. Green

smallie hat folgendes geschrieben:
FAZIT:

Ohne sich auf (unausgesprochene) utilitaristische Argumente zu stützen werden sich Menschenrechte nicht überzeugend begründen lassen.



Um die Verdinglichung und Schematisierung kommt man nicht herum, wenn man verstehen will, wie Normen und Werte überhaupt entstehen. Erst ein Gedankenexperiment aus der Biologie. Dann ein paar Beispiele aus der menschlichen Geschichte.

Vergleichen wir Pilze, Fische und Menschen.

    - Pilze vermehren sich durch tausende von Sporen.
    - Fische legen hunderte von Eiern. Einge (wenige?) Arten betreiben Brutpflege.
    - Menschen bekommen wenige Kinder, um die sie sich lange kümmern müssen.


Würden sich Menschen durch eine Laune der Natur wie Fische fortpflanzen - vermutlich hätten Menschen dann kein großes Mitgefühl für ihre Kinder. Würden wir uns wie Pilze fortpflanzen, hätten wir sicherlich kein Mitgefühl.

Wer einwendet, daß ich hier eher von Norm- und Wertinstinkten spreche - hat mich verstanden. zwinkern



Kurz Sahra Hrdy erwähnt. In Mothers and Others schreibt sie, daß Schimpansenmütter ihr Neugeborenes nie irgend jemandem anderen geben würden. Bei Menschenmüttern sei das anders, die reichen ihre Säuglinge herum, unterstützen sich gegenseitig bei der Betreuung, usw. Eine Menschenmutter, die ihren Säugling niemandem anvertraute, nicht mal hergebe, würde als sehr befremdlich empfunden werden. Ist dieses Befremden eine soziale Konvention - oder ist es ein Echo eines biologischen Instinktes, der sich in der Frühzeit der Menschheit entwickelt hat?


Zum Sozialen.

    - Ist rituelle Kindstötung ein Trolley-Problem? Bei einigen Naturvölkern gab es Kindstötungen. Eine These sagt, das geschah auf Grund von Resourcenknappheit. Falls die These stimmt, liegt sie nahe am Trolley-Problem, das Elizier Yudkowsky in Tarvocs Link angesprochen hat.

    - John Ferguson McLennan berichtet 1865 von Tötungen weiblicher Neugeborener. Was ihn zu einer Theorie über die Entstehung von Familie angeregt hat, in der er behauptet, es habe nicht mit dem Patriarchat begonnen, sondern matrilinear, promisk und polyandrisch. Wäre einen eigenen Beitrag wert.

    - In China und in Indien passieren Tötungen weiblicher Neugeborener noch heute.

    - Gegenwärtige Diskussionen um Abtreibungen. (Ohne weitere Einordnung erwähnt.)


Zu verschiedenen Zeiten gab es unterschiedliche Normen. Auch heute gibt es an verschiedenen Orten noch unterschiedliche Normen.

Einem polnischen Anhänger der PIS oder einem Ami, der Roe vs. Wade kippen will, kann man zwar sagen: "Hey, du bist nicht auf der Höhe der heutigen Menschrechte!" Wird die Leute nicht überzeugen. Genaugenommen wird diese Leute auch so etwas wie eine "utilitaristische Analyse" weder interessieren noch überzeugen.

Für meine Zwecke hätte ich diese "utilitaristische Analyse" schon gerne.

Ich weiß nicht, wie's euch geht. Trolley-Kindstötungen erscheinen mir weniger verwerflich als geschlechtsabhängige Kindstötungen. Einfach aus einem moralischen Bauchgefühl heraus. Müßte ich mein Bauchgefühl sprachlich-rational darlegen, dann wäre der passende Rahmen dazu der Utilitarismus. Ohne dieses "Rezept" (step), wüßte ich gar nicht, wo ich anfangen sollte.


FAZIT:

Ohne sich auf (unausgesprochene) utilitaristische Argumente zu stützen werden sich Menschenrechte nicht überzeugend begründen lassen. Gleichzeitig beruft sich sowohl das chinesische System des Sozialkredits wie auch das westliche, eher individualistische, System auf (unausgesprochene) utilitaristische Argumente. Hier muß man genau hinschauen, welches Argument trägt.

Dann heißt es: step schwimmt. Obwohl die "Menschenrechte" genau so schwimmig-schwammig sind, wenn ich sie global oder historisch betrachte. Wie begründest du, daß deine, meine, unsere Version der Menschenrechte besser ist als die "Chinesische"?
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Zuletzt bearbeitet von smallie am 04.07.2020, 14:57, insgesamt 2-mal bearbeitet
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Beitrag(#2216840) Verfasst am: 04.07.2020, 14:24    Titel: Antworten mit Zitat

step hat folgendes geschrieben:
Mit Verlaub, das mag für einen Kulturhistoriker ein funktionierender Ansatz sein, für eine kritisch-rationale moderne Ethik ist es unbrauchbar aufgrund seiner hermeneutischen Beliebigkeit und Ziellosigkeit.


Die Beliebigkeit zu überwinden ist ja nun eigentlich gerade Zweck des Ganzen. Das geht aber nicht, indem man einfach die Komplexität ignoriert, die in unseren moralischen Begriffen nun einmal drinsteckt. Da es ein "Wesen der Dinge" im naiven Verständnis nicht zu geben scheint, bleibt eben nur das, was Hegel mit der "Arbeit am Begriff" meinte. Und die hat bei moralischen Begriffen mit deren Interpretation als einer Art mythologisierten "Interessenausgleiches" noch nicht mal richtig angefangen.

step hat folgendes geschrieben:
Auf diese Weise kannst Du niemals begründen, warum irgendein Grundrecht überhaupt, oder gar universell, gelten sollte.


Dieses Problem besteht aber sowieso, da eine angenommene Einheit von Sein und Sollen dem aufgeklärten Bewusstsein ja wohl schwerlich als etwas anderes als Mythos erscheinen kann, oder? Die Begründung von Moral nach dem Schema der formalen Logik kann offensichtlich nicht funktionieren.

step hat folgendes geschrieben:
Nachdem ich die Threadausgangsfrage (wer soll kartoffelschälen) ja utilitaristisch begründet beantwortet habe: Wie würdest Du diese Frage beantworten, mittels historisch-mythischen Kontextes?


Ich würde sie nicht mittels eines "historisch-mythischen Kontextes" beantworten, sondern vermutlich unter Bezugnahme auf einen Gerechtigkeitsbegriff, denn das scheint mir bei dieser Frage der moralische Kernaspekt zu sein. "Gerechtigkeit" hingegen eindeutig und als gewissermaße ahistorische Gegebenheit zu bestimmen, erscheint mir tatsächlich aussichtslos.

step hat folgendes geschrieben:
Ich kann doch nicht die Gleichberechtigung von Frauen, die Pressefreiheit, die Todesstrafe oder das Asylrecht davon abhängig machen, ob das zufällig in einem Land und seiner Geschichte einen Mythos darstellt oder ob eher das Gegenteil den Mythos darstellt.


Davon war auch nicht Rede. Ich sprach ja bereits vom emphatischen Aspekt dessen, was im Begriff von Grund- und Menschenrechten zum Ausdruck kommt. Und diese Emphase ist mit dieser Art von Relativität natürlich schwer vereinbar.

step hat folgendes geschrieben:
Diese Sichtweise finde ich sogar gefährlich - wenn man da nicht aufpaßt, wird der Kapitalismus am Ende noch als Weltkulturerbe unter Naturschutz gestellt. Es kommt mir auch unlogisch vor, daß diese "kulturell tradierte Präferenz" weniger unkritisch sein soll als die Summe der individuellen Präferenzen beim P-Utilitarimus.


Das Ganze ist ja auch mehr eine Reflexionsmethode als eine zum Verfassen eines ethischen Kanons.

step hat folgendes geschrieben:
Genau, wie bei jeder kritischen Theorie. Besser gesagt, sie erstmal vom apriori-Sockel zu holen und trotz aller Tradition und Mythos als unbegründet anzusehen - viele von ihnen können dann aber durchaus, mit Begründung, eine neue Karriere starten.


Also nach den Erfahrungen der letzten hundert Jahre dürfte da in vielen Fällen wohl die Negation der Negation als hinreichende Begründung greifen.
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Zumsel
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Beitrag(#2216841) Verfasst am: 04.07.2020, 14:30    Titel: Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:
FAZIT:
Ohne sich auf (unausgesprochene) utilitaristische Argumente zu stützen werden sich Menschenrechte nicht überzeugend begründen lassen.


Dass sie es DURCH den Utilitarismus könnten, ist - im besten Fall - ein verhältnismäßig neuer mythologischer Überbau zwinkern
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zelig
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Beitrag(#2216845) Verfasst am: 04.07.2020, 15:12    Titel: Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:
"Hey, du bist nicht auf der Höhe der heutigen Menschrechte!" Wird die Leute nicht überzeugen. Genaugenommen wird diese Leute auch so etwas wie eine "utilitaristische Analyse" weder interessieren noch überzeugen.


Der Weg zu einer menschlichen Ethik führt wahrscheinlich sowieso nicht über Überzeugungsarbeit, sondern über den Prozess der Verständigung. "Erzähle mir was du denkst, und ich erzähle dir was ich denke".

Darf ich ein wüstes Szenaria zum Trolley-Problem abfragen?

Die Weichenstellerin weiß, daß ihr Kind im fast leeren Zug sitzt. Sie ist sogar im Schalthäuschen als Bahnbeamtin. Ihr Chef, der aber nicht eingreifen kann, da in einem anderen Gebäude, ist Utilitarist. Wäre es für ihn gerechtfertigt, ihr anzuweisen, den vollen Zug zu retten?

edit
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Beitrag(#2216846) Verfasst am: 04.07.2020, 15:28    Titel: Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:
Zum Sozialen.

- Ist rituelle Kindstötung ein Trolley-Problem? Bei einigen Naturvölkern gab es Kindstötungen. Eine These sagt, daß geschah auf Grund von Resourcenknappheit. Falls die These stimmt, liegt sie nahe am Trolley-Problem liegt, das Elizier Yudkowsky in Tarvocs Link angesprochen hat.


Rituelle Kindstötungen lagen i.d.R. nicht am Trolley-Problem, sondern waren in der Regel religiös begründet. Mit Menschenopfern wurde in rückständigen Gesellschaften versucht, die *Götter der Natur* u.a. gnädig zu stimmen, aber auch soziale Aggressionen von herrschaftlichen Verhältnissen umzulenken (und so zum Machterhalt der herrschenden Gruppen heimlich beizutragen).

smallie hat folgendes geschrieben:
- John Ferguson McLennan berichtet 1865 von Tötungen weiblicher Neugeborener. Was ihn zu einer Theorie über die Entstehung von Familie angeregt hat, in der er behauptet, es habe nicht mit dem Patriarchat begonnen, sondern matrilinear, promisk und polyandrisch. Wäre einen eigenen Beitrag wert.

- In China und in Indien passieren Tötungen weiblicher Neugeborener noch heute.


Der männliche Nachwuchs konnte unter früheren Produktionsverhältnissen aufgrund seiner körperlichen Konstitution mit größerer Wahrscheinlichkeit die ökonomische Existenz seiner Familie sichern.

Dies betrifft im allgemeinen solche Produktionsverhältnissem in denen schwere körperliche Arbeit zu leisten ist, im allgemeinen also in der kleinteilig organisierten Landwirtschaft.

Mit dem technologischen Fortschritt und einer erweiterten Arbeitsteilung hat diese (Un)Sitte keine ökonomische Grundlage mehr. (Trotzdem kann das Verhalten eine gewisse Zeit noch als Tradition bestehen bleiben.)

smallie hat folgendes geschrieben:
Zu verschiedenen Zeiten gab es unterschiedliche Normen. Auch heute gibt es an verschiedenen Orten noch unterschiedliche Normen.


Ja, aber nicht einfach nur so. Wie skizziert, sind *Normen* im Grunde von gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen abgeleitet, sowohl auf der unteren Ebene wie der Familienproduktionsgemeinschaft bis hin zu den gesamtgesellschaftlichen Produktionsverhältnissen.

smallie hat folgendes geschrieben:
Einem polnischen Anhänger der PIS oder einem Ami, der Roe vs. Wade kippen will, kann man zwar sagen: "Hey, du bist nicht auf der Höhe der heutigen Menschrechte!" Wird die Leute nicht überzeugen. Genaugenommen wird diese Leute auch so etwas wie eine "utilitaristische Analyse" weder interessieren noch überzeugen.


Eigentlich ist ein PISser schon auf der Höhe der "heutigen Menschenrechte", sofern es sich in erster Linie um bestimmte Eigentumsrechte handelt, also um das Menschenrecht auf privaten Profit usw. Dieses Kuckucksei hat die frühbürgerliche Revolution nun mal in die Menschenrechtslitanei hinein geschmuggelt. Smilie

Was die sogenannte "utilitaristische Analyse" betrifft, so hat die ja viel mit dem berüchtigten Peter Singer zu tun. Und der veranstaltet ja so etwas wie eine Moral-Triage.

smallie hat folgendes geschrieben:
Für meine Zwecke hätte ich diese "utilitaristische Analyse" schon gerne.


Dann besorg sie dir doch. Bei Aldi auf dem philosophischen Grabbeltisch. 1 fuffzig, glaube ich. Sehr glücklich

smallie hat folgendes geschrieben:
Ich weiß nicht, wie's euch geht. Trolley-Kindstötungen erscheinen mir weniger verwerflich als geschlechtsabhängige Kindstötungen. Einfach aus einem moralischen Bauchgefühl heraus. Müßte ich mein Bauchgefühl sprachlich-rational darlegen, dann wäre der passende Rahmen dazu der Utilitarismus. Ohne dieses "Rezept" (step), wüßte ich gar nicht, wo ich anfangen sollte.


Die religiös *begründeten* Kindstötungen dienten letzten Endes der Legitimation von Herrschaft und sind selbstverständlich sehr verwerflich.

Die geschlechtsabhängigen Kindstötungen sind Ausdruck familien-ökonomischer Verhältnisse und zeigen die Gewaltmäßigkeit der bornierten Kleinproduktion auf, etwa des Kleinbauerntums unter primitiven Bedingungen.

smallie hat folgendes geschrieben:
FAZIT:

Ohne sich auf (unausgesprochene) utilitaristische Argumente zu stützen werden sich Menschenrechte nicht überzeugend begründen lassen. Gleichzeitig beruft sich sowohl das chinesische System des Sozialkredits wie auch das westliche, eher individualistische, System auf (unausgesprochene) utilitaristische Argumente. Hier muß man genau hinschauen, welches Argument trägt.

Dann heißt es: step schwimmt. Obwohl die "Menschenrechte" genau so schwimmig-schwammig sind, wenn ich sie global oder historisch betrachte. Wie begründest du, daß deine, meine, unsere Version der Menschenrechte besser ist als die "Chinesische"?


Ich habe hier gelegentlich mal auf den Ansatz von Sam Harris verwiesen. Der liefert eine materielle Begründung von menschlichen Menschenrechten.

Die materielle Grundlage dafür sind die heute sehr weit entwickelten Produktivkräfte der Menschheit.

Ich möchte aber mal auf einen grundsätzlichen Bug der Diskussion hier bei Einigen hinweisen:

Es wird hier zum Teil formuliert, dass die Gemeinschaft, der Staat oder wer auch immer den Individuen Rechte zuweisen. Guckt man sich das mal näher an, läuft diese Vorstellung darauf hinaus, dass es Zuweiser und Zuweisungsempfänger gibt, d.h. es handelt sich hier um einen aktiven und einen passiven Part von - zwei verschiedenen Gruppen inklusive diverser Zwischengruppen vielleicht.

Anders formuliert: Würden Alle über sämtliche Mittel verfügen, die nötig sind, um Rechte zu produzieren (Recht auf Nahrung, Wohnung, Mobilität, Kommunikation, Information usw. etc.), dann wäre die Kategorie des "Zuweisens" überflüssig. Denn die Menschen würden sich dann quasi selbst alle Rechte (= Mittel und Möglichkeiten) zuweisen, die nötig sind, um ihre Menschenrechte zu erfüllen.

Der Utilitarismus sieht objektiv aus, aber im Grunde genommen lautet seine Formel: "Du bist nichts, die große Präferenzkennziffer des großen Ganzen ist Alles!"
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