"Versöhnung ist ein sehr seltenes Ereignis."
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#1: "Versöhnung ist ein sehr seltenes Ereignis." Autor: zelig BeitragVerfasst am: 23.04.2009, 21:51
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Vielleicht sieht jemand von euch auch gerade Scobel auf 3Sat zum Thema Scham.

Dort war eine Aussage von Günter Seidler zu hören, die sich auf den "Täter-Opfer-Ausgleich" bezieht, und meines Erachtens etwas sehr Wahres wiedergibt, nämlich

"Versöhnung ist möglich bei Alltagsvorgängen. Im Bereich Kriminalität lässt sich auch noch ein Handtaschendiebstahl verzeihen. Wenn aber darüber hinaus von Versöhnung gesprochen wird, kommt das häufig einer erneuten Verunglimpfung oder Kränkung des Opfers gleich", sagt Seidler.

Professor Günter Seidler hält wenig von dem populären "Täter-Opfer-Ausgleich". Er warnt vielmehr vor den weitreichenden Folgen von schweren Schamverletzungen sowohl bei militärischen Konflikten als auch in scheinbar friedlichen Alltagssituationen in unserer Gesellschaft. Seidler: "Vor einer Versöhnung steht erst einmal der Hass. Nach einer sehr hassvollen Phase kann es sehr selten so etwas wie vergessendes Versöhnen geben. Wir sollten uns aber darüber im Klaren sein, dass Versöhnung ein sehr seltenes Ereignis ist."


http://www.3sat.de/3sat.php?http://www.3sat.de/scobel/133114/index.html

Ich bin auch skeptisch gegenüber dem "Täter-Opfer-Ausgleich", wo dieser den Anschein erweckt, daß er, alleine schon durch die Erwartungshaltung an das Opfer, dessen Interessen ignoriert, und sich der an ihm begangenen Tat gewissermaßen ein weiteres Mal beugen soll.

Ist das zu wenig versöhnlich?

#2:  Autor: KonstruktWohnort: Im Barte des Propheten BeitragVerfasst am: 23.04.2009, 21:55
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Versöhnung ist für mich, wenn zwei Menschen, die sich gestritten haben, sich anschließend wieder vertragen.

Wenn jemand einem anderen aber z.B. auf die Fresse haut, so kann das Opfer höchstens verzeihen. Zum Beispiel im Sinne von Verzicht auf Konsequenzen.

Versöhnung und Verzeihung - Das ist für mich ein Unterschied.

#3:  Autor: frauschWohnort: Thoiry BeitragVerfasst am: 23.04.2009, 22:07
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Ich habe das auch gerade gesehen, und mir leuchtet das Argument ein.

Was ich beim Täter-Opfer-Ausgleich nicht weiß, ist, ob ein Opfer, sobald es sich darauf einlässt, automatisch einer Milderung der Strafe zustimmt. Oder ob das Opfer danach explizit den Erfolg des Ausgleichs bestätigen muss. Sollte es einen Automatismus geben, würde ich mich nie auf so einen Ausgleich einlassen.

#4:  Autor: GrymnerWohnort: Schleswig-Holstein BeitragVerfasst am: 24.04.2009, 12:53
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Ich habe die Sendung auch verfolgt. Spontan ist mir die Erziehungsmethode der „Schwarzen Pädagogik” eingefallen, die in den 60er/70er Jahren in Familien und Heimen eine grosse Rolle spielte.

Zu dieser Zeit wurden sehr viele Kinder und Jugendliche über einen langen Zeitraum in Familien und Heimen schwer misshandelt und gedemütigt. Je länger Misshandlungen und Demütigungen andauern, desto schwerwiegender ist das Trauma. Für die Opfer dürfte es daher sehr schwierig sein,
den Tätern zu verzeihen. Zumal die Täter sich sehr häufig auch keiner Schuld bewusst sind. Sie haben doch „nur” zum Wohle des Kindes so gehandelt. Auch beruft man sich gerne auf den so genannten Zeitgeist.

Interessant in diesem Zusammenhang ist der Ausgang des Runden Tisches für ehemalige Heimkinder. Kann und wird es eine Versöhnung oder gar eine Entschädigung geben? Mir scheint es eher so zu sein, dass sich die Verantwortlichen Organisationen aus ihrer Verantwortung herauswinden werden.

„Unausgesprochen dient die Schwarze Pädagogik der Rationalisierung von Sadismus und der Abwehr eigener Gefühle des Erziehers oder der Bezugsperson. Die Schwarze Pädagogik bedient sich dabei der Mittel des Initiationsritus (z. B. Verinnerlichung einer Todesdrohung), der Hinzufügung von Schmerz (auch seelisch), der totalitären Überwachung des Kindes (Körperkontrolle, Verhalten, Gehorsam, Verbot der Lüge etc.), der Tabuisierung der Berührung mit Hilfe eines abstrakten Erziehungsapparates, der Versagung grundlegender Bedürfnisse und eines übertriebenen bis zwanghaften Ordnungsfanatismus.“
(Quelle: Wikipedia)

http://www.tagesschau.de/inland/heimkinder100.html

http://hpd.de/node/5844
http://www.wdr.de/radio/wdr2/moma/506644.phtml

#5:  Autor: frauschWohnort: Thoiry BeitragVerfasst am: 24.04.2009, 13:12
    —
Die Schwarze Pädagogik ist für mich eher ein Beispiel, wo ich keinen Raum für eine Versöhnung sehe. Zunächst einmal müssen die Voraussetzungen für eine Verzeihung geschaffen werden. Dazu gehört ein andauerndes und vollständiges Eingeständnis der Schuld seitens der Verantworlichen. Weiterhin ein erkennbares Bemühen, die Voraussetzungen zu Schaffen, dass so etwas nicht wieder vorkommt. Ersteres ist bisher nicht geschehen. Letzteres ist nur auf äußeren Druck geschehen (Heimaufsicht). Also sind hier noch nicht mal die Voraussetzungen für ein Verzeihen geschaffen. Von einer Versöhnung kann hier nicht die Rede sein.

Generell kann man der katholischen Kirche bisher für nichts Verzeihen. Das Schuldeingeständnis der Kirche für all ihre Verbrechen (pädophile Priester, Verfolgung Andersdenkender) ist bisher weder vollständig, noch andauernd. Außerdem hat sich die Kirche selbst kaum geändert, und vor allem hat sie die Strukturen die zu solchen Verbrechen geführt haben beibehalten.

#6:  Autor: BrigitteWohnort: CCAA BeitragVerfasst am: 24.04.2009, 15:26
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frausch hat folgendes geschrieben:
Die Schwarze Pädagogik ist für mich eher ein Beispiel, wo ich keinen Raum für eine Versöhnung sehe. Zunächst einmal müssen die Voraussetzungen für eine Verzeihung geschaffen werden. Dazu gehört ein andauerndes und vollständiges Eingeständnis der Schuld seitens der Verantworlichen. Weiterhin ein erkennbares Bemühen, die Voraussetzungen zu Schaffen, dass so etwas nicht wieder vorkommt. Ersteres ist bisher nicht geschehen. Letzteres ist nur auf äußeren Druck geschehen (Heimaufsicht). Also sind hier noch nicht mal die Voraussetzungen für ein Verzeihen geschaffen. Von einer Versöhnung kann hier nicht die Rede sein.

Generell kann man der katholischen Kirche bisher für nichts Verzeihen. Das Schuldeingeständnis der Kirche für all ihre Verbrechen (pädophile Priester, Verfolgung Andersdenkender) ist bisher weder vollständig, noch andauernd. Außerdem hat sich die Kirche selbst kaum geändert, und vor allem hat sie die Strukturen die zu solchen Verbrechen geführt haben beibehalten.


Für mich bietet die "Schwarze Pädagogik" angewandt von einzelner Personen, im Nachhinein sehr wohl einen Raum für persönliche Verzeihung und auch Versöhnung. Nachdem Alice Miller (und andere) die Wirkungsweise und das Zustandkommen beschrieben hat, kann ich mir z.B. gut vorstellen, wie diejenigen erzogen/behandelt wurden, welche die "Schwarze Pädagogik" gegenüber Schutzbefohlenen anwanden.

Anders sehe ich das bei Institutionen, die auch heute noch nicht zu dem stehen können, was sie seinerzeit verbrochen haben.

#7: Re: "Versöhnung ist ein sehr seltenes Ereignis." Autor: tillich (epigonal) BeitragVerfasst am: 24.04.2009, 15:44
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zelig hat folgendes geschrieben:
Ich bin auch skeptisch gegenüber dem "Täter-Opfer-Ausgleich", wo dieser den Anschein erweckt, daß er, alleine schon durch die Erwartungshaltung an das Opfer, dessen Interessen ignoriert, und sich der an ihm begangenen Tat gewissermaßen ein weiteres Mal beugen soll.

Ist das zu wenig versöhnlich?

Nein. Verzeihung und Versöhnung darf nie vom Opfer "erwartet" werden; das hätte auch mE genau den von dir beschriebenen Effekt, dass das Opfer erneut der tat unterworfen wird.
Allerdings kann ich mir auch umgekehrt vorstellen, dass Versöhnung, die dem Opfer nicht aufgedrängt wird, sondern von diesem aus eigenem Antrieb bejaht wird, gerade ein Weg sein kann, durch den sich das Opfer von der Bindung an die Tat befreit.
Zwischem beidem zu unterscheiden, ist sicher ein schmaler Grat - zumal ja Erwartungshaltungen im ersten Sinn auch internalisiert sein können.

#8:  Autor: MahoneWohnort: Munich BeitragVerfasst am: 24.04.2009, 16:22
    —
Also so wie es bei wikipedia beschrieben wird,
ist bei diesem Täter-Opfer-Ausgleich glaube ich auch ein wesentlicher Faktor,
dass das Opfer die Gelegenheit hat, den Täter direkt mit seiner Tat zu konfrontieren,
was glaube ich schon sehr befreiend sein kann.

Finde ich ne gute Sache auf jeden Fall.

Gerade bei der genannten "schwarzen Pädagogik" z.bsp,
ist dem Opfer ein Eingeständniss das Täters dass es Unrecht war, glaube ich, sehr wichtig.

Aber ich denke auch, dass es völlig allein dem Opfer zu überlassen ist,
ober er zur Versöhnung bereit ist.
Sollte er das nicht sein, aus welchem Grund auch immer,
ist das sein gutes Recht.

#9:  Autor: Hucklebuck BeitragVerfasst am: 24.04.2009, 19:54
    —
Ich glaube, es greift zu kurz, wenn man die Kirche im Kontext der "schwarzen Pädagogik" im Vordergrund lässt.
Vielmehr war die Gesellschaft in Gänze Triebfeder dieser menschlichen Widerlichkeit, in Ost, in West, überall.

Da ich selbst letztlich Gegenstand dieser "Pädagogik" war, maße ich mir auch ein Urteil an, inwieweit "Versöhnung" im Bereich des Vorstellbaren ist.

Ich bin jedenfalls auch nach 30 Jahren nicht bereit zu verzeihen, insbesondere deswegen, weil es für Menschen in den 50ern, 60ern und 70ern durchaus unproblematisch war, zu erkennen, was ungefähr unter menschlicher, warmherziger und fördernder Erziehung zu verstehen ist.
Und ich spreche hier nicht mal von Heimerziehung oder dergleichen, sondern von direkter elterlicher "Erziehung".

Als "Betroffener" kann ich sagen, daß die vernünftigste Umgangsweise mit der Problematik das "aus dem Wege gehen" ist.
Verarbeiten kann man die eigenen problematischen Erfahrungen auch ohne Konfrontation mit den Peinigern.
Die Zeit kann da durchaus beruhigend wirken.
Würde ich zu Kontakten genötigt, und sei es nur aus zum Zwecke eines für mich zweifelhaften "Täter-Opfer-Ausgleichs", so wäre ich eine tickende Zeitbombe, die jederzeit in der Lage ist, Racheakte zu vollziehen.
Da ich mich selbst und andere davor bewahren will, habe ich sämtliche Kontaktmöglichkeiten ausgeschlossen.

#10:  Autor: MahoneWohnort: Munich BeitragVerfasst am: 24.04.2009, 20:32
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Uiuiui...
Heavy Stuff...

Versteh ich das richtig, dass du deine Eltern als kranke Sadisten betrachtest ?

Ich hatte zu meiner Stiefmutter, mit der ich zum Glück nur 5 Jahre verbracht habe,
ja auch ein recht "zweifelhaftes" Verhältniss, aber weit von dem entfernt von dem was du hier andeutest.
Aber ich würde sowas schon begrüssen, ein Eingeständniss ihrerseits,
dass das schon teilweise "nicht so cool" war was sie so gebracht hat, würde mir glaube ich schon sehr guttun.
Ausserdem ist sie halt immer noch Familie, und ich würde meinen Vater (den ich sehr liebe),
vielleicht auch mal zuhause besuchen, und nicht immer in der Arbeit. Auf den Arm nehmen

#11:  Autor: Hucklebuck BeitragVerfasst am: 24.04.2009, 22:21
    —
Mahone hat folgendes geschrieben:
Uiuiui...
Heavy Stuff...

Versteh ich das richtig, dass du deine Eltern als kranke Sadisten betrachtest ?
Weiß jetzt nicht, wie du auf diese Einschätzung kommst, gesagt habe ich das jedenfalls nicht. Ich betrachte meine Eltern als "ganz normale Leute", die "ganz normale Dinge" getan haben. Ich bin kein spezieller Härtefall im Zeitkontext, da gibts Leute, die wirklich schlimm dranne waren. Allerdings sehe ich trotzdem keinen Grund, versöhnlich gegenüber denjenigen zu sein, die schon bei Kleinkindern "Zucht und Ordnung" durchsetzen. Ich wollte da nicht unbedingt in Details gehen, eben auch aus Respekt gegenüber Menschen, die wirklich extremes durchleiden mussten...
Zitat:

Ich hatte zu meiner Stiefmutter, mit der ich zum Glück nur 5 Jahre verbracht habe,
ja auch ein recht "zweifelhaftes" Verhältniss, aber weit von dem entfernt von dem was du hier andeutest.
Aber ich würde sowas schon begrüssen, ein Eingeständniss ihrerseits,
dass das schon teilweise "nicht so cool" war was sie so gebracht hat, würde mir glaube ich schon sehr guttun.
Ausserdem ist sie halt immer noch Familie, und ich würde meinen Vater (den ich sehr liebe),
vielleicht auch mal zuhause besuchen, und nicht immer in der Arbeit. Auf den Arm nehmen


Nun, ich habe sämtliche Kontakte schon vor Jahrzehnten abgebrochen, was sich m.E. auch im Laufe der Zeit als richtig erwiesen hat.
Allerdings sollte man in der Lage sein, die Problematik nicht passiv über sich ergehen zu lassen, und immer wieder mit Freunden oder Bekannten offen über seine Vergangenheit zu reden, sonst bleibt tatsächlich eine erhebliche posttraumatische Belastungsstörung zurück.
Irgendwann ist das Ganze dann tatsächlich wie ein schlechter Traum, an den man sich nur noch schwach erinnert...

#12:  Autor: MahoneWohnort: Munich BeitragVerfasst am: 25.04.2009, 13:25
    —
Zitat:
Weiß jetzt nicht, wie du auf diese Einschätzung kommst, gesagt habe ich das jedenfalls nicht. Ich betrachte meine Eltern als "ganz normale Leute", die "ganz normale Dinge" getan haben


Sorry, wollte dir nichts unterstellen, ich hab es nur mal überspitzt gesagt, um Klarheit zu schaffen...

#13:  Autor: Hucklebuck BeitragVerfasst am: 25.04.2009, 21:36
    —
Mahone hat folgendes geschrieben:
Zitat:
Weiß jetzt nicht, wie du auf diese Einschätzung kommst, gesagt habe ich das jedenfalls nicht. Ich betrachte meine Eltern als "ganz normale Leute", die "ganz normale Dinge" getan haben


Sorry, wollte dir nichts unterstellen, ich hab es nur mal überspitzt gesagt, um Klarheit zu schaffen...


Ok, es ist halt nur einfach so, daß ich normalerweise ein altersmilder Patient geworden bin, der kein Bock hat, auf jede verbale "Zweifelhaftigkeit" zu antworten.
Ich denke aber, daß wegen "überspitzten" Formulierungen hier so manch derber Konflikt entstanden ist, der sich dann nicht mehr in Wohlgefallen auflöst.
Deswegen würde ich mir bei so manchem User hier, unabhängig von Dir, etwas mehr "verbale Sorgfalt" wünschen, um Missverständnisse zu vermeiden...

#14:  Autor: MahoneWohnort: Munich BeitragVerfasst am: 25.04.2009, 23:02
    —
Werd es mir merken.

Wie gesagt, sorry, war wohl echt unglückliche Wortwahl...

#15:  Autor: Hucklebuck BeitragVerfasst am: 26.04.2009, 00:14
    —
Mahone hat folgendes geschrieben:
Werd es mir merken.

Wie gesagt, sorry, war wohl echt unglückliche Wortwahl...


Kein Problem, mache ja auch nicht alles richtig.

#16:  Autor: jarko BeitragVerfasst am: 28.09.2016, 08:43
    —
Zitat:
würde ich einräumen, dass ich wohl nicht allzu viel von Versöhnung verstehe. Dazu fehlt mir vielleicht einfach der Glaube.

Das wird hier am Ende des Interviews gesagt:
http://www.ipg-journal.de/interviews/artikel/es-lebe-das-vergessen-1623/

Versöhnung oder Vergebung ist Glaubenssache? Ohne sagen wir einfach"Vergessen wir die Sache"?

#17:  Autor: Tarvoc BeitragVerfasst am: 28.09.2016, 09:58
    —
Gott, was für ein manipulativer Mist.

Zitat:
Und was soll daran falsch sein? Ist es nicht an der Zeit, die Opfer in den Mittelpunkt zu stellen? Wir sprechen über die Geschichte der Geschichte und über den Fokus der Geschichtsschreibung. Ist es da nicht positiv zu bewerten, wenn sich dieser Fokus jetzt zugunsten der Opfer verschiebt?

[...] Wenn es um Glorifizierung geht, werde ich als Skeptiker nervös, ganz egal, wer da verherrlicht wird. Meiner Meinung nach sollte niemand verklärt werden. Nicht der Nationalstaat und nicht die Opfer von Unrecht und Gewalt. Ob ich verstehe, dass dieser Trend einem Sinn für Gerechtigkeit entspringt und ein Ausdruck für ein entsprechendes Bewusstsein ist? Ja, natürlich, aber das ändert nichts daran, dass diese Opferverklärung bei mir genauso ein Unwohlsein verursacht wie es die Glorifizierung des Nationalstaats getan hat.


Wie bitte? Wovon zur Hölle redet der Mann da eigentlich? Wo geht es denn bei historischer Erinnerung an vergangene Verbrechen um eine Glorifizierung der Opfer? Der Interviewer hätte da echt nachhaken müssen, immerhin hat er selbst überhaupt nicht von Glorifizierung gesprochen, sondern von einer Verschiebung des Fokus. Dass Rieff hier überhaupt von "Glorifizierung" spricht, zeigt schon seine verzerrte, um nicht zu sagen tendentiöse Perspektive. Rieff will nicht mit Leuten in einen Topf gesteckt werden, die z.B. in Deutschland aus politischen Gründen oder um des eigenen Seelenfriedens willen gegen historische Erinnerung argumentieren, aber solche Aussagen bringen mich fast dazu, zu sagen: Wie man sich bettet, so liegt man. Aber vielleicht liege ich ja falsch. Zumindest hätte man erwarten können, dass für die angebliche "Glorifizierung der Opfer" ein Beispiel gebracht wird. Die Beispiele in dem Interview beziehen sich jedenfalls auf die Glorifizierung von Nationalstaatlichkeit.

Zitat:
Doch selbst wenn wir es wollten, wie können wir vergessen? Sie erwähnen in Ihrem Buch das Edikt von Nantes, mit dem Heinrich IV vergeblich versuchte, die Erinnerung zu unterdrücken und das Vergessen vergangener Gewalt sozusagen als Staatsraison vorzuschreiben ...

Natürlich kann das gelingen!


Klar kann das gelingen! Man muss nur ein Ministerium für Erinnerungssteuerung (MiniErnst) einrichten, dass sämtliche Kommunikation und öffentliche Meinungsäußerung überwacht, allein für die Gestaltung der Lehrpläne in den nicht-naturwissenschaftlichen Fächern verantwortlich ist, und die nötigen Gewaltmittel hat, alle Äußerungen, die der Politik des Vergessens widersprechen, rechtzeitig aus dem Verkehr zu ziehen bzw. mit harter Abschreckung schon im Vorraus zu verhindern. Ich empfehle auch, Personen, die einfach partout nicht vergessen wollen, gleich mit aus der Erinnerung zu entfernen. Klar, man muss sich eben aktiv darum bemühen, anders geht das nicht. Wie bei allem.

Zitat:
Ist nicht grade das Vorgehen der Türkei ein Beispiel dafür, welchen Schaden es anrichten kann, wenn versucht wird, historische Fakten zu unterdrücken? Macht einen die Wahrheit nicht frei? So steht es zumindest in der Bibel.

Ich glaube genauso wenig, dass die Wahrheit frei macht, wie ich glaube, dass Geschichte Weiterentwicklung bedeutet. Die Deutschen haben in Bezug auf den Genozid an den Armeniern das getan, was bereits eine Reihe anderer europäischer Länder vor ihnen getan hat.


Würden Sie bitte die Frage des Interviewers beantworten?

Zitat:
Das ist eine ziemlich grundsätzliche Kritik. Sie würden der Aussage, dass Wahrheit, Gerechtigkeit und Frieden zusammengehören und voneinander abhängen, also nicht zustimmen?

Nun, das ist letztlich meine wesentliche Kritik an der Menschenrechtsbewegung. Sie verfolgt eine Ideologie, gibt aber vor, über Ideologien zu stehen. Man kann hier von einer guten Ideologie sprechen, das ist also keine Beleidigung.


Von einer "guten Ideologie" kann man nur dann sprechen, wenn man von Wahrheit nichts hält. Mit den Augen rollen

Dass die Begriffe Gerechtigkeit und Frieden ideologische Begriffe sind, ist schon richtig. Nur tritt Rieff hier nicht an, um eine Kritik bürgerlicher Normativität zu machen, sondern er bewegt sich völlig im Rahmen dieser Konzepte und dissoziiert dann wild darauf los. Warum fangen wir nicht mal damit an, "Frieden" inhaltlich zu bestimmen und dann zu erklären, warum Frieden überhaupt um jeden Preis wünschenswert sein sollte. Wenn wir schon fröhlich herumdissoziieren, dann aber bitte auch richtig. Warum sollte ein früheres Opfer, das in die Position gelangt, Gerechtigkeit einfordern zu können, sich nicht für Gerechtigkeit und gegen Frieden entscheiden? Insbesondere dann, wenn der Frieden seinen eigenen Interessen zuwiderläuft und womöglich noch dem früheren Peiniger gut in den Kram passt.

Zitat:
Ja. Wenn Menschenrechtler über Frieden sprechen, dann sprechen Sie über eine platonische Friedensvorstellung. Ich bin aber kein Anhänger von Plato. Es gibt eine andere Bewegung, den Skeptizismus in seiner anglo-schottischen Ausprägung, dem fühle ich mich zugehörig.


Rieff hat immer noch nicht gesagt, warum Frieden überhaupt per se wünschenswert sein sollte.

Zitat:
Es gibt viele Beispiele für Frieden ohne Gerechtigkeit. Bosnien ist ein Beispiel hierfür. Das Abkommen von Dayton war extrem ungerecht. Es hat die Aggressoren belohnt, sowohl die kroatischen, wie auch die serbischen, und die Opfer bestraft. Aber in Bosnien herrscht Frieden.


Ob der Frieden von Dauer ist, wird sich aber erst noch zeigen. Zumindest ist gar nicht klar, in welcher Beziehung das zum Thema des Vergessens steht. Vergessen lässt sich nicht per Abkommen vorschreiben. Ob die nun noch doppelt bestraften Opfer diese Demütigung vergessen werden, bleibt fraglich. Allerdings weiss ich nicht, inwieweit sie mit Gewaltmitteln dazu gezwungen werden, zu vergessen. Aber auch das würde ja nur noch weitere schmerzhafte Erinnerungen schaffen.

Der Punkt ist doch der: Wenn die Leute sich im Konflikt zwischen Frieden und Erinnerung für den Frieden entscheiden wollen, ist das ja okay. Aber in einem solchen Falle muss man nicht dafür argumentieren oder Werbung machen. Rieffs ganzer Diskurs ist dann völlig zwecklos. Wenn sie es hingegen nicht wollen, dann bringt sein ganzer Diskurs auch nichts. Also worum geht's hier eigentlich? Was ist der Sinn von dem ganzen Quatsch?

Zitat:
Isaiah Berlin hat die philosophischen Ursprünge dieser Tradition mit seiner Theorie der Inkommensurabilität wohl am besten ausgedrückt. Das bedeutet nichts anderes, als dass bestimmte Werte untereinander nicht kompatibel bzw. inkommensurabel sind. Tatsächlich sind sie nicht nur inkommensurabel, sondern können auch in direktem Widerspruch zueinander stehen.


Wow, normative Ansprüche können in Widerspruch zueinander geraten. Ist nicht wahr! Das ist ja schön und gut, aber warum sollte dieser Widerspruch denn auf eine bestimmte Weise aufgelöst werden? Als ob Platonismus und Hobbesscher rechtsbürgerlicher Zynismus die einzigen theoretischen Optionen wären.

Zitat:
“. Es gibt Fälle, in denen es hilfreich ist, sich zu erinnern, und Fälle, in denen mehr Erinnerung angebracht wäre. [...] Im Falle Südafrikas, wo auch heute noch eine ganz grundlegende wirtschaftliche Ungleichheit herrscht, die in manchen Bereichen noch ausgeprägter ist als während der Apartheid, wäre es wohl besser, wenn man dem Erinnern einen größeren Stellenwert einräumen würde.


Ich weiss natürlich nicht, ob das in seinem Buch anders ist, aber es ist zu bemerken, dass hier überhaupt kein Kriterium dafür angegeben wird, wann Erinnern wünschenswert ist und wann nicht. Warum sollte Bosnien anders sein als Südafrika? Wenn in Südafrika eine Erneuerung der Erinnerung zu Gewaltausbrüchen und Unruhen führt, schwenkt Rieff dann spontan um und plädiert wieder für Vergessen? Das ist doch alles völlig willkürlich, wie's gerade in den eigenen politischen Kram passt. Aber dann anderen Leuten Ideologie vorwerfen. Mit den Augen rollen

#18:  Autor: WilsonWohnort: Swift Tuttle BeitragVerfasst am: 28.09.2016, 12:03
    —
ein beispiel 2015:
Lüneburger Auschwitzprozess 2015

Zitat:
Auslöser war ein Vorfall am dritten Verhandlungstag, als eine der Nebenklägerinnen, die 80 Jahre alte Eva Kor, auf den 93-jährigen Angeklagten zuging und ihn umarmte (...)

http://www.spiegel.de/panorama/justiz/auschwitz-prozess-kommentar-zur-versoehnung-mit-groening-a-1030943.html

auch:
https://www.welt.de/vermischtes/article140124718/Ich-weigere-mich-Opfer-zu-sein.html
Zitat:
Auch die heutige Gesellschaft kritisierte sie. Dort werde immer nur das Opfertum gepflegt: "Ach, du armes Seelchen", sagte Kor. Sie finde aber, „es ist nichts Glorreiches, Opfer zu sein“. Für sie selbst gelte: "Ich bin kein Opfer, ich bin Überlebende. Ich weigere mich, Opfer zu sein."



Überlebende streiten über Versöhnungsgeste
http://www.spiegel.de/panorama/justiz/auschwitz-prozess-versoehnungsgeste-von-eva-kor-sorgt-fuer-streit-a-1030852.html

#19:  Autor: Tarvoc BeitragVerfasst am: 28.09.2016, 15:11
    —
Wofür ist das jetzt ein Beispiel? Für Versöhnung? Für die Glorifizierung von Opfern?

Die Sache ist doch die: Die Überlebenden streiten sich über die Geste. Aber die Vernichteten können sich nicht mehr streiten.

#20:  Autor: WilsonWohnort: Swift Tuttle BeitragVerfasst am: 28.09.2016, 15:34
    —
Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Wofür ist das jetzt ein Beispiel? Für Versöhnung? Für die Glorifizierung von Opfern?

Die Sache ist doch die: Die Überlebenden streiten sich über die Geste. Aber die Vernichteten können sich nicht mehr streiten.


die geste beinhaltet doch aber (auch), dass die genannte den schmerzhaften verlust der schwester( und angehörigen) dem beteiligten verzeiht. also lediglich ihr eigenes leid als überlebende damit zu leben.
sie versöhnt sich mit ihm? das ist ihre sache. zumal sie weitergehend meint, ihre geste, und die damit verbundene forderung, den mann von seinen taten erzählen zu lassen in schulen und vor nazis würde künftiger "barbarei" vll vorbeugen.
damit ist es aber nicht mehr "ihre" sache. die anderen prozessbeteiligten sind davon betroffen und müssen dazu stellung beziehen, weil sie es anders sehen. man verscheibt es quasi ins persönlich- psychologische oder so.


und damit ist man wieder am anfang.Komplett von der Rolle




dem 2. zitat oben stimme ich übrigens auch nicht zu.
ich habe sie nur zitieren wollen.

#21:  Autor: Tarvoc BeitragVerfasst am: 29.09.2016, 17:58
    —
Man kann grundsätzlich nicht stellvertretend für jemand anderen Vergebung üben. Die Überlebende kann dem Täter natürlich den ihr zugefügten Schmerz vergeben, und der Schmerz über den Verlust der Schwester fällt sicher darunter. Das Unrecht, das der Täter der Schwester selbst damit angetan hat, kann sie aber nicht vergeben.

Ein Problem an Rieffs Auflösung des Widerspruchs zwischen Frieden und Gerechtigkeit zu Gunsten des Friedens besteht darin, dass damit kommuniziert wird, dass zumindest in bestimmten Fällen die Täter und Aggressoren nicht nur völlig ungeschoren davonkommen, sondern womöglich auch noch den besseren Deal bekommen (wie in seinem Bosnien-Beispiel). In der Praxis bedeutet das, nicht nur auf jede Abschreckung zu verzichten, was Kriegsverbrechen angeht, sondern überhaupt insgesamt einer Philosophie zu folgen, nach der diejenigen, die jetzt gerade das Sagen haben, generell im Recht sind und der Rest gefälligst die Fresse zu halten hat, weil das ansonsten nur zu Unfrieden führt. Walter Benjamin hat ja genau diese Form des Vergessens, um die es Rieff zu gehen scheint, bereits in seinen Thesen zum Begriff der Geschichte sehr effektiv kritisiert. Jede Verabsolutierung des Friedens als Wert nutzt letztlich den Siegern.



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