Katatonia hat folgendes geschrieben: |
Aber besteht denn zwischen Potenzialismus und Determinismus tatsächlich ein Widerspruch, wenn Letzterer als die These aufgefasst wird, dass das Eintreten sämtlicher Ereignisse vollständig und eindeutig durch vorangegangene Umstände festgelegt ist? |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||
Also wenn sich dynamis nur dadurch von energeia unterscheiden lässt, dass sie immer die Potenz zu x und zu nicht-x beinhalten muss, dann wohl ja. Wüsste nicht genau, wie du das mit Determinismus vereinbaren wolltest. |
Katatonia hat folgendes geschrieben: |
Mein Gedanke war, dass auch unter der Bedingung des Determinismus kontrafaktische Bedingungssätze nicht unsinnig zu sein scheinen. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||
Es geht aber ja nicht um kontrafaktische Sätze, sondern um Potenzialitätszuschreibungen. Zum Beispiel: Der Baumeister kann bauen. Also er hat die Fähigkeit dazu. Das will man sagen können, auch wenn er gerade nicht baut. |
TheStone hat folgendes geschrieben: |
Letztendlich bedeutet dass doch nur, dass er weiß wie's geht und nicht, dass er das in dem Moment tatsächlich kann. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: | ||
Es geht aber ja nicht um kontrafaktische Sätze, sondern um Potenzialitätszuschreibungen. Zum Beispiel: Der Baumeister kann bauen. Also er hat die Fähigkeit dazu. Das will man sagen können, auch wenn er gerade nicht baut. |
Katatonia hat folgendes geschrieben: |
Wie würde man im Rahmen des Potenzialismus "können" genauer analysieren? |
Katatonia hat folgendes geschrieben: |
Und läge darin ein Widerspruch zum kontrafaktischen Ansatz? |
Katatonia hat folgendes geschrieben: |
Würdest du sagen, der Potenzialismus widerspricht neben dem Determinismus auch dem Indeterminismus oder ist dieser eine Voraussetzung für ihn? |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Das ist kein Widerspruch, sondern einfach ein anderes Thema. Wenn man über Potenz spricht, spricht man über die Möglichkeit vor ihrer Verwirklichung, und zwar gerade unter dem Gesichtspunkt, dass sie noch nicht verwirklicht, also ihr Gegenteil noch nicht schlechthin unmöglich ist. Möglichkeit ist so gesehen nicht "kontra-wirklich", sondern einfach nur noch nicht wirklich. Kontrafaktische Sätze hingegen sagen etwas über unrealisierte Möglichkeiten nach der Verwirklichung ihres Gegenteils - also nachdem sie schon nicht mehr möglich sind. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
"Indeterminismus" ist wie alle rein durch Negation bestimmten Ausdrücke ein äußerst vager Begriff. Dazu, wie Kausalität zu verstehen ist und worauf sie sich nur beziehen kann, habe ich ja in meinem letzten Beitrag schon einiges gesagt. Du kannst das von mir aus "Indeterminismus" nennen, insofern es eben kein Determinismus ist. Aber das ist nicht unbedingt das, was die Leute üblicherweise im Kopf haben, wenn sie "Indeterminismus" sagen. |
Katatonia hat folgendes geschrieben: | ||
Hm, eigentlich ja nicht - zumindest nicht in der erwähnten Form: Wenn der gerade nicht tätige Baumeister einen Auftrag bekommen würde, würde er ihn ausführen. |
Katatonia hat folgendes geschrieben: |
Also wenn wir eine solche vage Bestimmung des Indeterminismus (das Eintreten sämtlicher Ereignisse ist nicht vollständig und eindeutig durch vorangegangene Umstände festgelegt) einmal nehmen: Wäre dies deiner Auffassung zufolge eine Voraussetzung für den Potenzialismus? |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Es geht aber ja nicht um kontrafaktische Sätze, sondern um Potenzialitätszuschreibungen. Zum Beispiel: Der Baumeister kann bauen. Also er hat die Fähigkeit dazu. Das will man sagen können, auch wenn er gerade nicht baut. |
TheStone hat folgendes geschrieben: | ||
Was bedeutet "kann" in dem Zusammenhang? |
Myron hat folgendes geschrieben: | ||
Ja, der entscheidende Punkt ist, dass Fähigkeiten oder Vermögenheiten (Potenzialitäten/Potenziale/Potenzen) keine bloßen Möglichkeiten, sondern selbst Wirklichkeiten (wirkliche Eigenschaften) sind – und zwar auch dann, wenn sie gegenwärtig keine wirkenden oder "arbeitenden" Wirklichkeiten sind, sondern ruhende. (Aristoteles' energeia ist die dynamis "bei der Arbeit".) |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Wenn du mit "Eintreten" die energeia (also die Verwirklichung der Potenz) meinst, dann eigentlich nicht. Der Potenzialismus sagt ja gerade nicht, dass die Verwirklichung irgendwie nicht verursacht sei. Im Kern sagt er nur, dass zwischen einer Potenz und ihrer Verwirklichung begrifflich unterschieden werden muss… |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Ja, genau. Daher auch bei Aristoteles das letztliche begriffliche Primat der Wirklichkeit über die Möglichkeit: Weil Möglichkeiten eben auch etwas Wirkliches sind, und zwar etwas von ihrer Realisierung verschiedenes Wirkliches. (Vielleicht noch deutlicher als bei Aristoteles wird dies übrigens im materialistischen Potenzialismus von Marx und Engels.) |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Wie gesagt bestimmt Aristoteles den Begriff von Potenz bzw. dynamis ja gerade so, dass er auch die Potenz, sich eben nicht zu realisieren, mit einschließt. |
Myron hat folgendes geschrieben: | ||
Das Wort "wirklich" bedeutet ursprünglich "wirkend", "wirksam", "eine Wirkung ausübend", "eine Einwirkung, einen Einfluss habend", "handelnd", "tätig". Die neuere und vorherrschende Bedeutung ist jedoch "real" oder "tatsächlich". Wir müssen also unterscheiden zwischen Wirklichkeit als Aktivität oder Effektivität und Wirklichkeit als Aktualität im Sinne von Realität oder Faktizität. |
Myron hat folgendes geschrieben: |
Die Rede von der Verwirklichung einer Fähigkeit, einer Vermögenheit oder einer Macht ist entsprechend doppeldeutig: Es kann einerseits gemeint sein, dass eine Potenzialität (ein Potenzial, eine Potenz) als bloße, reine Möglichkeit erst durch ihre Aktivierung (oder Manifestation) aktualisiert wird, d.h. zu etwas Realem oder Faktischem wird; und es kann andererseits gemeint sein, dass die Aktivierung (oder Manifestation) einer Potenzialität keine Aktualisierung derselben darstellt, weil auch inaktive Potenzialitäten Realitäten sind. In letzterem Sinn ist die Verwirklichung einer Fähigkeit lediglich die "Offenbarung" (Manifestation) einer offenbarungsunabhängig gegebenen Wirklichkeit.
Der wahre Gegensatz zur Potenzialität ist nicht die Aktualität (im Sinne von Realität oder Faktizität), sondern die Aktivität. Eine inaktive Potenzialität ist nicht dasselbe wie eine irreale Potenzialität! Mächte und Kräfte sind auch dann vorhanden, wenn sie gegenwärtig nichts bewirken. Auch eine ruhende Macht oder Kraft ist eine hier und jetzt daseiende Macht oder Kraft! |
Myron hat folgendes geschrieben: | ||
Vermögenheiten oder Mächte können sich nur unter bestimmten Bedingungen oder Umständen offenbaren (manifestieren); und selbst wenn jene Bedingungen erfüllt sind, kann die Offenbarung durch andere sich offenbarende Mächte verhindert werden. Wenn jedoch die Offenbarungsbedingungen einer Macht erfüllt sind und ihr keine anderen Mächte in die Quere kommen, dann muss die Offenbarung und damit eine bestimmte Wirkung notwendigerweise erfolgen, oder nicht? Wasser hat die chemische Macht, Zucker aufzulösen. Wenn ich Zucker in Wasser schütte, dann wird es den Zucker zwangsläufig auflösen, sofern nichts anderes das Wasser daran hindert, diese Macht auszuüben. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
In der Aristoteles-Interpretation wird 'energeia' eben meistens mit Akt oder Aktualität übersetzt. Das kommt ja vom Lateinischen actus bzw. agere, d.h. hat eine ähnliche Bedeutungsverschiebung durchgemacht wie im Deutschen 'Wirklichkeit'. Auch hier hatte ich es im ursprünglichen Sinne gemeint. 'Aktivität' passt im heutigen Sprachgebrauch vielleicht besser. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Hm. Sagt das mehr aus als dass auch die Verwirklichung von nicht-x (bzw. die Nichtverwirklichung der Potenz) Ursachen braucht? |
Myron hat folgendes geschrieben: |
Wenn die Manifestationsbedingungen eines Potenzials nicht erfüllt sind, dann bleibt die Manifestation aus. Die Abwesenheit der Manifestationsbedingungen ist ein Grund, aber keine Ursache im Sinne einer causa efficiens für die Nichtmanifestation des Potenzials; denn was abwesend ist, kann nichts bewirken.
Anders verhält es sich, wenn die Manifestationsbedingungen eines Potenzials gegeben sind und deren Manifestation trotzdem ausbleibt, weil sie von anderen, sich manifestierenden Potenzialen aktiv verhindert oder unterbunden wird. In diesen Fällen haben wir es mit einer Wirkursache der Nichtmanifestation zu tun. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Ja. Ich hab' das Wort hier immer im ersten Sinne gebraucht, also eben im Sinne der aristotelischen energeia. Man merkt eben doch, dass mein Denken stark von Marx und der marxistischen Tradition beeinflusst ist. Marx und Engels und viele ihrer Nachfolger haben das Wort ja wie selbstverständlich im ursprünglichen Sinne verwendet. Ich hab' ja genau deshalb auch immer von 'Verwirklichung' gesprochen. Es stimmt aber, dass das in unserer heutigen Sprache nicht mehr die einzige Verwendung ist. Wenn ich Faktizität gemeint hätte, hätte ich das gesagt. Tut mir Leid, wenn das bei einigen Leuten zu Missverständnissen geführt hat. |
Myron hat folgendes geschrieben: |
Denn ein nichtmanifestiertes (und damit inaktives) Potenzial ist ebenso wirklich (= tatsächlich) wie ein manifestiertes (und damit aktives) Potenzial. |
Myron hat folgendes geschrieben: |
Wenn die Manifestationsbedingungen eines Potenzials nicht erfüllt sind, dann bleibt die Manifestation aus. Die Abwesenheit der Manifestationsbedingungen ist ein Grund, aber keine Ursache im Sinne einer causa efficiens für die Nichtmanifestation des Potenzials; denn was abwesend ist, kann nichts bewirken.… |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Slavoj Zizek (einer der originellsten Potenzialisten der Gegenwart) vertritt übrigens die recht interessante These, dass sich das Ereignis in seiner Verwirklichung gewissermaßen seine eigenen Ursachen sucht bzw. findet. Also die Gegebenheiten, die die Ursachen eines Ereignisses bilden, sind vor diesem Ereignis bereits gegeben, aber zu Ursachen dieses Ereignisses werden sie erst in und durch seine Verwirklichung. Die Potenz wäre demnach also gewissermaßen die noch nicht abgeschlossene Suche eines möglichen Ereignisses nach geeigneten Ursachen. |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Ist das nun ein Determinismus oder ein Indeterminismus? |
Tarvoc hat folgendes geschrieben: |
Wenn du mit "Eintreten" die energeia (also die Verwirklichung der Potenz) meinst, dann eigentlich nicht. Der Potenzialismus sagt ja gerade nicht, dass die Verwirklichung irgendwie nicht verursacht sei. Im Kern sagt er nur, dass zwischen einer Potenz und ihrer Verwirklichung begrifflich unterschieden werden muss und dass diese Unterscheidung nur so funktionieren kann, dass Potenz immer Potenz zu x und zu nicht-x einschließt (denn wäre es nur das eine, fiele es eben mit seiner Realisierung logisch zusammen). Es ist eigentlich genau umgekehrt: Der Potenzialismus ist Voraussetzung für jeden deiner Definition entsprechenden Indeterminismus, aber nicht umgekehrt. |
Katatonia hat folgendes geschrieben: |
Bei mir verfestigt sich aber der Eindruck, dass sich die Fragen nach Indeterminismus/Determinismus und Potenzialismus auf unterschiedlichen Ebenen befinden. |
Katatonia hat folgendes geschrieben: |
Den Sprung zur Umkehrung hab ich nun noch nicht ganz verstanden ... bei mir verfestigt sich aber der Eindruck, dass sich die Fragen nach Indeterminismus/Determinismus und Potenzialismus auf unterschiedlichen Ebenen befinden. |
Myron hat folgendes geschrieben: |
Nun kann man zwischen deterministischen und indeterministischen Potenzialen unterscheiden:
1. Ein deterministisches Potenzial ist eines, das sich bei erfüllten Manifestationsbedingungen notwendigerweise (mit Wahrscheinlichkeit 1) manifestiert und notwendigerweise (mit Wahrscheinlichkeit 1) einen bestimmten Effekt hat. 2. Ein indeterministisches Potenzial ist… 2.1 …eines, das sich bei erfüllten Manifestationsbedingungen nicht notwendigerweise (nicht mit Wahrscheinlichkeit 1) manifestiert; aber wenn es sich tatsächlich manifestiert, dann tritt notwendigerweise ein (sein typischer) Effekt ein. 2.2 …eines, das sich bei erfüllten Manifestationsbedingungen notwendigerweise (mit Wahrscheinlichkeit 1) manifestiert, aber nicht notwendigerweise einen (seinen typischen) Effekt hat. In diesem Fall ist das Manifestieren lediglich ein Tendieren zu einem bestimmten Effekt, der eintreten kann, aber nicht muss. Es handelt sich hier sozusagen um einen mehr oder weniger starken oder kräftigen Versuch, etwas zu bewirken, der erfolgreich sein, aber auch scheitern kann. 2.3 …eines, das sich spontan (aus sich heraus) manifestiert, sodass seine Manifestation von keinen äußeren Umständen abhängt und bestimmt wird. (Beispiel: Zerfall eines radioaktiven Atoms.) |
Myron hat folgendes geschrieben: |
(Anjum, Rani Lill, and Stephen Mumford. What Tends to Be: The Philosophy of Dispositional Modality. Abingdon: Routledge, 2018. p. 9) |
Myron hat folgendes geschrieben: |
Insgesamt gibt es vier mögliche Kombinationen, eine deterministische (1) und drei indeterministische (2-4):
1. Manifestationswahrscheinlichkeit (bei erfüllten Manifestationsbedingungen) =1 & Effektwahrscheinlichkeit =1 2. Manifestationswahrscheinlichkeit (bei erfüllten Manifestationsbedingungen oder spontaner Manifestation) <1 & Effektwahrscheinlichkeit =1 3. Manifestationswahrscheinlichkeit (bei erfüllten Manifestationsbedingungen) =1 & Effektwahrscheinlichkeit <1 4. Manifestationswahrscheinlichkeit (bei erfüllten Manifestationsbedingungen) <1 & Effektwahrscheinlichkeit <1 (Genauer gesagt: 4 ist total indeterministisch, wohingegen 2+3 partiell indeterministisch sind.) |
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