Der Zeitpfeil, Entropie und das Prinzip der kleinsten Wirkung
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#1: Der Zeitpfeil, Entropie und das Prinzip der kleinsten Wirkung Autor: smallie BeitragVerfasst am: 17.10.2024, 18:45
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Mir ist gerade etwas eingefallen, bin mir noch nicht sicher, ob es stimmt.

Der Zeitpfeil wird üblicherweise mit der Entropie erklärt und dem zweiten Satz der Thermodynamik. Die Entropie nimmt nie ab. delta E >= 0


Wikipedia stellt die Sache so dar:
Zitat:
Zur Symmetrie der beiden Richtungen der Zeit

Fällt eine Keramiktasse zu Boden, so zerbricht sie in Scherben. Dass sich umgekehrt diese Scherben von selbst wieder zu einer intakten Tasse zusammenfügen, ist dagegen noch nie beobachtet worden. Ein solcher Vorgang stünde jedoch nicht prinzipiell im Widerspruch zu den Naturgesetzen. Er ist lediglich extrem unwahrscheinlich.

Der Hintergrund dieses Umstandes ist eine Wahrscheinlichkeits­überlegung, die im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik formuliert wird. Danach kann in einem abgeschlossenen System vieler Teilchen die Entropie, welche das Maß der Unordnung angibt, praktisch nur zunehmen und damit seine Ordnung abnehmen. Das Gegenteil, eine spontane Zunahme der Ordnung, ist prinzipiell nicht ausgeschlossen, aber umso weniger wahrscheinlich, je größer die Zunahme und je größer die Zahl der beteiligten Teilchen ist. Um z. B. die spontane Wiedervereinigung von Scherben zu einer Tasse erleben zu können, müsste man eine mehr als astronomische Zahl von Scherbenhaufen anlegen und beobachten.

Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik – und auch die damit zusammenhängenden Reibungsphänomene – verletzen also die Symmetrie bezüglich der beiden Richtungen der Zeit. Der Satz lässt sich daher auch nicht aus den Grundgesetzen der Physik herleiten, sondern hat die Eigenschaft eines Postulats. Die beiden Richtungen der Zeit verlieren damit ihre Gleichwertigkeit und man spricht vom thermodynamischen Zeitpfeil. Er wird als potenzielle Basis für das Fließen der Zeit von der Vergangenheit in die Zukunft angesehen, so wie wir es in unserer Alltagswelt erfahren.

Das ist jetzt nicht falsch, aber meines Erachtens fehlt da was. Der Zeitpfeil sollte sich auch anders erklären lassen. Und zwar darüber:

    Physikalische System streben nach dem Zustand der geringsten Energie.


Die Tasse fällt vom Tisch, potentielle Energie wird frei. Die Flugbahn der Tasse läßt sich anhand des Prinzips der kleinsten Wirkung berechnen. Die beim Aufprall entstehenden Kräfte lassen die Tasse zerbrechen und die Scherben mehr oder weniger weit fliegen.

Nun gibt es für die Scherben keinen physikalischen Grund, warum sie auf die Idee kommen sollten, sich wieder zu einer Tasse zu vereinigen und auf den Tisch zurückzuspringen. Ich bin leider nicht ausreichend sattelfest, um das vorzurechnen, aber wer die Formalismen der kleinsten Wirkungen beherrscht, Lagrange, die Hamiltonsche, sollte das hinkriegen. Ganz ohne Thermodynamik.

Klar, am Ende müssen beide Sichtweisen auf das gleiche hinauslaufen. Aber die Darstellung über die Entropie vergisst, dass Pfade von Teilchen den üblichen physikalischen Gesetzen gehorchen.


Weiter habe ich bei dieser Stelle aus dem Wikipedia-Artikel meine Zweifel:

Wikipedia hat folgendes geschrieben:
Oft ist in diesem Zusammenhang von einer Umkehrbarkeit oder Unumkehrbarkeit der Zeit die Rede. Dabei handelt es sich jedoch um eine sprachliche und logische Ungenauigkeit. Könnte jemand die Zeit umkehren, dann sähe er sämtliche Vorgänge nur dann rückwärts ablaufen, wenn sein eigenes, subjektives Zeitempfinden von der Umkehrung ausgenommen würde. Der umgekehrte Lauf der Zeit wäre also nur aus der Sicht eines Beobachters erkennbar, der einer Art persönlicher Zeit unterworfen ist, die weiterhin unverändert vorwärts läuft. Eine solche Spaltung der Zeit in zwei – eine, die im Gedankenexperiment umgekehrt wird, und eine zweite unveränderte – hat jedoch keinen Sinn.

Klar könnte man das erkennen, falls mein Ansatz stimmt. Wenn ein Ball eine Schräge hinunterrollt, läuft die Zeit in die eine, uns bekannte Richtung. Wenn der Ball die Schräge hinaufrollt, läuft sie in die andere Richtung.

Hab' ich einen Denkfehler? Oder ist die übliche Begründung des Zeitpfeiles zumindest nicht alternativlos?

#2: Re: Der Zeitpfeil, Entropie und das Prinzip der kleinsten Wirkung Autor: VanHanegem BeitragVerfasst am: 17.10.2024, 21:22
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smallie hat folgendes geschrieben:
...
Klar könnte man das erkennen, falls mein Ansatz stimmt. Wenn ein Ball eine Schräge hinunterrollt, läuft die Zeit in die eine, uns bekannte Richtung. Wenn der Ball die Schräge hinaufrollt, läuft sie in die andere Richtung.

Hab' ich einen Denkfehler? Oder ist die übliche Begründung des Zeitpfeiles zumindest nicht alternativlos?

Der Ball - falls reibungsfrei - wäre Umwandlung von potentieller in kinetische Energie. Das geht aber in beide Richtungen und zwar ganz von selbst. Ein Körper in einer stabilen elliptischen Umlaufbahn um eine Zentralmasse schiebt die Energie ständig zwischen potentiell und kinetisch hin und her. Erst reibungsbehaftet kann ich sowas wie einen Zeitpfeil erkennen. Da wird dann Wärme erzeugt und dann landen wir wieder bei der Entropie.

#3:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 23.10.2024, 18:27
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(Sackgassen im Gedankenfluß habe ich in Folgendem stehen gelassen.)


Als Kriterium, welche Sicht auf den Zeitpfeil richtig ist, schlage ich dieses Gedankenexperiment vor:


Der Zeitpfeil im Videobeweis

Aufgabe: Du zeigst mir ein Video eines physikalischen Vorgangs und ich muß entscheiden, ob das Video vorwärts oder rückwärts läuft. Das Video soll kurz sein, so daß Reibung keine Rolle spielt.

VanHanegem hat folgendes geschrieben:
Der Ball - falls reibungsfrei - wäre Umwandlung von potentieller in kinetische Energie. Das geht aber in beide Richtungen und zwar ganz von selbst.

Sagen wir, du zeigst du mir ein Video eines Pendels, wie es in die eine und die andere Richtung ausschlägt. Dann muß ich zugeben, nein, eine Zeitrichtung ist nicht erkennbar.

Aber Moment, da fehlen die Anfangsbedindungen. Zeig mir, wie der Experimentator zum Versuchstisch geht, das Pendel um 30° auslenkt, es losläßt, ein paar mal schwingen läßt und es schließlich anhält und in die Ausgangslage bringt. Dann ist der Zeitpfeil klar.

Bin mir nicht sicher, ob das eine zulässige Argumentation ist. Mit einem Menschen bringe ich ein hochgradig entropisch/negentropisches System ins Spiel. Das lasse ich jetzt selbst nicht gelten, ich weiß nicht, wie ich das gegen Einwände verteidigen könnte.


VanHanegem hat folgendes geschrieben:
Ein Körper in einer stabilen elliptischen Umlaufbahn um eine Zentralmasse schiebt die Energie ständig zwischen potentiell und kinetisch hin und her. Erst reibungsbehaftet kann ich sowas wie einen Zeitpfeil erkennen.

Fast. Reibung kann nicht der ausschlaggebende Punkt sein. Reibung gibt es bei Objekten in unserer Größenordnung, aber weder im Atomaren noch im Stellaren. Entropie ist mehr als nur Reibung, sonst gäbe es in diesen Bereichen keinen Zeitpfeil.

Übrigens habe ich schon mehrmals gelesen, dass der Zeitpfeil in der Quantenmechanik keinen Sinn ergibt. Ich will das nicht kommentieren, das liegt jenseits meiner Gehaltsklasse. Entropie allerdings spielt in der QM eine fundamentale Rolle für die Herleitung der ersten Arbeiten der QM. Einmal bei Planck und der Schwarzkörperstrahlung. Die bekannte Formal auf Boltzmanns Grabstein, S = k log W, stammt nicht von Boltzmann, sondern von Planck. Das zweite Mal bei Einstein, er nutzte diesen Zusammenhang in seiner Arbeit zum photoelektrischen Effekt.

Zur Umlaufbahn:

Wenn die Erde um die Sonne kreist, dann werden Gravitationswellen generiert, das System verliert Energie und der Erdorbit schrumpft. Bei der Verschmelzung von Neutronensternen oder Schwarzen Löchern sieht man das deutlicher. Die geben Gravitationswellen ab, deren Wirkung wir in den einschlägigen Detektoren messen.

Wenn ich diesen Vorgang zeitlich umdrehe, müßte ich irgendwie zeigen, dass die Erde und alle anderen Himmelskörper in einer Kugelschale synchron (!) Gravitationswellen erzeugen, die sich am Ende passend bei den Neutronensternen fokussieren und deren Orbit vergrößern.

Ich weiß, Physik ist oft eine Zumutung für den Alltagsverstand. Trotzdem, das ist mir zuviel der Zumutung.

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Hmm. Ich brauche ein Alltagsbeispiel. Bisher waren die Beispiele alle mehr oder weniger periodische Vorgänge. Bei denen ist es naturgemäß unmöglich einen Zeitpfeil alleine aus einem Filmchen abzuleiten. Das ist wie bei

    Nie Amalie lad nen Dalei Lama ein.


Ist das jetzt vorwärts oder rückwärts geschrieben? (Gut, die Groß- und Kleinschreibung verrät es in diesem Fall.)


Ein durchschlagendes Beispiel!?

Ich hole mein Großkaliber hervor und schieße damit auf ein 1 mm dickes Stahlblech. Die Kugel wird das Blech durchschlagen und einen charakteristischen Durchschußtrichter erzeugen.

Rückwärts abgespielt gibt diese Szene keinen physikalischen Sinn - behaupte ich mal.


Trübe Wässerchen entschlacken

Ich habe ein Glas trüben, schlammigen Wassers. Damit es sich klärt, lasse ich es eine Weile in Ruhe stehen, dann setzen sich die Schwebstoffe. Auch hier sieht der selbe Vorgang rückwärts abgespielt falsch aus.


Und nun?

Am Schwersten fand ich bei meinen Überlegungen, die Entropie außen vor zu lassen. Sie ist ja allgegenwärtig. Mir scheint, es läuft auf die Frage hinaus, was Ursache und was Effekt ist.

Das Wikipedia-Zitat habe ich so aufgefasst: Entropie verursacht den Zeitpfeil.

wikipedia hat folgendes geschrieben:
Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik – und auch die damit zusammenhängenden Reibungsphänomene – verletzen also die Symmetrie bezüglich der beiden Richtungen der Zeit. Der Satz lässt sich daher auch nicht aus den Grundgesetzen der Physik herleiten, sondern hat die Eigenschaft eines Postulats.


Ist das so? Noch ein Beispiel.

Ich nehme eine Behälter mit Gas, sagen wir Stickstoff, Atomgewicht 14. Mal 2 wegen N2. 28 Gramm Stickstoff sind 6 * 10^23 Molekule. 1 Kubikmeter Luft wiegt ungefähr ein Kilo. Der Kubikmeter enthielte also 10^25 Moleküle. Das sind viele Moleküle, die auf noch viel mehr Pfaden umherfliegen können - mit rasanten mittleren Geschwindigkeiten von einigen hundert Metern in der Sekunde - bis sie auf ein anderes Molekül treffen. Da ist doch klar, dass die sich entmischen, daran ist nichts Geheimnisvolles. Warum das ein Postulat sein soll, verstehe ich nicht.

Sollte tatsächlich der höchst unwahrscheinliche Fall eintreten, dass sich die Moleküle entmischen, werde ich nicht sagen: Oh! Die Zeit ist rückwärts gelaufen! Ich werde sagen: was für ein unglaublicher Zufall! Oder vielleicht sogar: Da ist was falsch im Versuchsaufbau.

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Das habe ich auch bedacht: Möglicherweise betreibe ich Wortklauberei.

    Ich: der Prozess, der auf Mikroebene Entropie erzeugt, erzeugt auch den Zeitpfeil
    Wikipedia: Wenn wir diesen Prozess Entropie nennen, kann man sagen, Entropie erzeugt den Zeitpfeil

Die Behauptung vom Postulat spricht allerdings dagegen.

So oder so ist es keine gute Idee, mich an Wikipedia-Formulierungen abzuarbeiten.

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Weiter sei die behauptete CP-Symmetrie-Verletzung erwähnt, die dafür verantwortlich gemacht wird, dass es mehr Materie als Antimaterie gibt. Hier läßt sich die Zeit nicht umdrehen.

#4: Re: Der Zeitpfeil, Entropie und das Prinzip der kleinsten Wirkung Autor: LamarckWohnort: Frankfurt am Main BeitragVerfasst am: 25.10.2024, 16:53
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Hi smallie!

smallie hat folgendes geschrieben:
Mir ist gerade etwas eingefallen, bin mir noch nicht sicher, ob es stimmt.

Der Zeitpfeil wird üblicherweise mit der Entropie erklärt und dem zweiten Satz der Thermodynamik. Die Entropie nimmt nie ab. delta E >= 0


Wikipedia stellt die Sache so dar:
Zitat:
Zur Symmetrie der beiden Richtungen der Zeit

Fällt eine Keramiktasse zu Boden, so zerbricht sie in Scherben. Dass sich umgekehrt diese Scherben von selbst wieder zu einer intakten Tasse zusammenfügen, ist dagegen noch nie beobachtet worden. Ein solcher Vorgang stünde jedoch nicht prinzipiell im Widerspruch zu den Naturgesetzen. Er ist lediglich extrem unwahrscheinlich.

[...]

Hab' ich einen Denkfehler? Oder ist die übliche Begründung des Zeitpfeiles zumindest nicht alternativlos?



Stelle Dir einen Eiswürfel in einem heißen Getränk vor. Dieser schmilzt unweigerlich. Der Übergang von einem hochgeordneten Zustand (Eis) zu einem ungeordneten Zustand (Wasser) ist als Entropie ein fundamentales Prinzip des Universums und erklärt, warum die Zeit immer vorwärts fließt. Der Vorgang wird von der Thermodynamik irreversibler Prozesse beschrieben: Du wirst niemals einen Eiswürfel finden, der sich spontan in einem Heißgetränk bildet. Auf mikrophysikalischer Ebene findet sich jedoch sehr wohl Zeitsymmetrie.

Ein schönes Gedankenexperiment gelingt mit dem Maxwellschen Dämon, der die Entropie vor informationstheoretische Herausforderungen stellt.




Cheers,

Lamarck

#5:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 31.10.2024, 09:44
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Lamarck hat folgendes geschrieben:
Stelle Dir einen Eiswürfel in einem heißen Getränk vor. Dieser schmilzt unweigerlich. Der Übergang von einem hochgeordneten Zustand (Eis) zu einem ungeordneten Zustand (Wasser) ist als Entropie ein fundamentales Prinzip des Universums und erklärt, warum die Zeit immer vorwärts fließt. Der Vorgang wird von der Thermodynamik irreversibler Prozesse beschrieben: Du wirst niemals einen Eiswürfel finden, der sich spontan in einem Heißgetränk bildet.

Das würde ich nie bestreiten, ich will ja nicht die Physik umkrepeln. zwinkern


Lamarck hat folgendes geschrieben:
Auf mikrophysikalischer Ebene findet sich jedoch sehr wohl Zeitsymmetrie.

Richtig, physikalische Vorgänge lassen sich im Allgemeinen umkehren, wenn man Richtungen und Ladungen vertauscht.

Ich frage mich aber gerade, ob hinter dieser Umkehrung ein physikalisch sinnvoller Vorgang steht. Klar, wenn ich mir ein Spielzeugproblem vorstelle, ein System aus zwei Teilchen oder zwei Himmelskörpern, dann ist es einfach, die Anfangsbedinungen passend hinzudrehen, ohne auf äußerst unwahrscheinliche Zustände zurückgreifen zu müssen. Im Folgenden ist das nicht so einfach.


Lamarck hat folgendes geschrieben:
Ein schönes Gedankenexperiment gelingt mit dem Maxwellschen Dämon, der die Entropie vor informationstheoretische Herausforderungen stellt.

Ein Heißgetränk und ein Eiswürfel sind leicht herstellen. Das liegt daran, dass man sich nicht darum kümmern muß, in welcher Konfiguration (= Zustände im Phasenraum) die Moleküle im heißen Getränk und im Eiswürfel vorliegen.

Der umgekehrte Fall, ein Gemisch aus Heißgetränk mit geschmolzenem Eiswürfel so zu präpariern, dass die Impulse der einzelnen Moleküle wieder einen Eiswürfel hervorbringen, das geht vielleicht im Gedankenexperiment. Ich wüßte nicht, wie man das technisch umsetzen sollte. Da hätte der Dämon einiges zu tun.

Solche Startbedingungen sind höchst unwahrscheinlich, deshalb beobachten wir sie nie. Wenn du jetzt sagst, damit habe ich Entropie durch die Hintertür wieder hereingebracht, ja, stimmt. Um Entropie kommt man nicht herum.

Nach all diesen Überlegungen kann ich meinen Einwand gegen das Eingangszitat hoffentlich etwas genauer formulieren:

Entropie - ist keine spukhafte Fernwirkung

Entropie ist ein Maß für Zustände in einem Ensemble. Nun weiß ein Molekül in einem Gas oder einem Heißgetränk aber nicht, was die anderen Teilchen gerade machen. Deshalb kann es nicht sagen: "Oh, ich muß jetzt diese Bahn nehmen, damit die Entropie zunimmt." Stattdessen ergibt sich Entropie zwanglos (ahmm, zwangsläufig?) aus den Gesetzen der Physik und den Gesetzen der großen Zahl.

#6:  Autor: LamarckWohnort: Frankfurt am Main BeitragVerfasst am: 02.11.2024, 10:16
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Hi smallie!

smallie hat folgendes geschrieben:

Entropie - ist keine spukhafte Fernwirkung

Entropie ist ein Maß für Zustände in einem Ensemble. Nun weiß ein Molekül in einem Gas oder einem Heißgetränk aber nicht, was die anderen Teilchen gerade machen. Deshalb kann es nicht sagen: "Oh, ich muß jetzt diese Bahn nehmen, damit die Entropie zunimmt." Stattdessen ergibt sich Entropie zwanglos (ahmm, zwangsläufig?) aus den Gesetzen der Physik und den Gesetzen der großen Zahl.


Der 2. HS ist statistisch definiert: Ein Mikrozustand ist gegeben durch einen Vektor im Hilbertraum und die Mikrozustände folgen einer Verteilungsfunktion. Die Entropie ergibt sich dann über die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Mikrozustände im Makrozustand. Aufgefasst als Informationsentropie ist dies ein Maß für die Information, die einem durch Kenntnis des Makrozustands zum Mikrozustand fehlt.




Cheers,

Lamarck

#7:  Autor: VanHanegem BeitragVerfasst am: 03.11.2024, 16:18
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smallie hat folgendes geschrieben:
Reibung gibt es bei Objekten in unserer Größenordnung, aber weder im Atomaren noch im Stellaren.

im Mikrobereich würde ich electronic stopping als ne Art Reibung interpretieren, aber bei stellaren Objekten denke ich in erster Linie an Gezeitenreibung, denk an en Mond (u.v.a.), der in einer gebundenen Rotation steckengeblieben ist.

Nochmal zur Bewegungsgleichung: Die Literatur stresst immer, dass man den Zeitpfeil umdrehen könne. Verlustlos, mit nur Termen 2-ter Ordnung läßt sich der Zeitpfeil ja auch ohne Änderung umdrehen. Jedoch bei Reibungstermen (1-ter Ordnung) führt die Transformation t -> -t auf einen Vorzeichenwechsel. Damit wird ein stabiles System instabil bzw. chaotisch. Was ja auch Sinn macht, schließlich wird aus einer exponentiell abklingenden Schwimgung beim Umkehrung des Zeitpfeils eine exponentiell aufklingende Schwingung. Womit wir in letzter Konsequenz auch wieder bei theromdynamischer (bzw. wahrscheinlichkeitstheoretischer) Argumentation landen dürften.

#8:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 04.11.2024, 21:53
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Hi Lamarck,

mit deinem Beitrag hast du mich auf eine Verständnislücke meinerseits gebracht.


Lamarck hat folgendes geschrieben:
Der 2. HS ist statistisch definiert: Ein Mikrozustand ist gegeben durch einen Vektor im Hilbertraum und die Mikrozustände folgen einer Verteilungsfunktion. Die Entropie ergibt sich dann über die Wahrscheinlichkeiten der einzelnen Mikrozustände im Makrozustand.

Das ist eine sehr moderne Darstellung.

Kurzer Exkurs in die Wissenschaftsgeschichte. Was Clausius, Kelvin, Maxwell und Boltzman gesagt haben. Was als Problem der Wärmelehre begann - noch bevor die Existenz von Atomen anerkannt war -, wandelte sich in statistische Betrachtung von Gasen und wurde am Ende zur Grundlage der Quantenmechanik.


Bei Rudolf Clausius und Lord Kelvin ging der zweite Hauptsatz noch so:

Clausius hat folgendes geschrieben:
Es kann nie Warme aus einem kälteren Körper [in einen wärmeren] übergehen, wenn nicht gleichzeitig eine andere damit zusammenhangende Aenderung eintritt.’


Kelvin hat folgendes geschrieben:
It is impossible, by means of inanimate material agency, to derive mechanical effect from any portion of matter by cooling it below the temperature of the coldest of the surrounding objects


Bei Maxwell und Boltzmann tauchen Kinematik und das Gesetz der großen Zahl auf:
Maxwell hat folgendes geschrieben:
[The second law is a] statistical not a mathematical truth for it depends on the fact that the bodies we deal with consists of millions of molecules and we can never get hold of single molecules


Maxwell hat folgendes geschrieben:
the second law of thermodynamics has the same degree of truth as the statement that if you throw a cup of water into the sea you cannot get the same cup of water out again.

Das gefällt mir. Sehr glücklich

Boltzmann hat folgendes geschrieben:
in the game of lotto any individual set of five numbers is just as improbably as a set {1, 2, 3, 4, 5} ... only because there are many more uniform distributions than non-uniform ones that the distribution of states will become uniform in the course of time.



Stephen Wolfram hat eine sehr gründliche Zusammenfassung der Geschichte des zweiten Hauptsatzes geschrieben. How Did We Get Here? The Tangled History of the Second Law of Thermodynamics. Ich konnte bisher nicht alles lesen. Am Ende findet sich diese Darstellung, die deiner entspricht. Moderne Darstellung nach Fred Reif


Hier kommt meine Verständnislücke zum Vorschein. Diskrete Zustände sind einfach zu zählen. Siehe Boltzmanns Lotto-Beispiel. Oben habe ich den Phasenraum angesprochen. Eine einmal gezogene Lottokugel ist ortsfest und seine Phasenraumdarstellung nicht sehr aufregend. (Der Phasenraum beschreibt zusätzlich zum Ort, den ein Teilchen in x, y, z-Richtung hat auch den Impuls in den drei Raumrichtungen.)

Wie zählt man Zustände bei kontinuierlichen Variablen? Zum Beispiel die Geschwindigkeitsverteilung in einem Gas:



Planck hatte bei der Herleitung des Schwarzkörperspektrums das selbe Problem kontinuierlicher Größen. Was hat er gemacht? Er hat sie quantisiert.

Zitat:
If E is considered to be a continuously divisible quantity, this distribution is possible in infinitely many ways. We consider, however—this is the most essential point of the whole calculation—E to be composed of a well-defined number of equal parts and use thereto the constant of nature h = 6.55x10E-27 erg sec.

Link



Lamarck hat folgendes geschrieben:
Aufgefasst als Informationsentropie ist dies ein Maß für die Information, die einem durch Kenntnis des Makrozustands zum Mikrozustand fehlt.

Da steckt sicher mehr dahinter, als ich gerade überblicke. zwinkern

Meine erste Assoziation ist das Galton-Brett [youtube-Video]. Man kann nicht sagen, in welchem Abteil des Bretts eine Kugel landet, aber man kann die Varianz angeben, mit der Kugeln vom Durchschnitt abweichen.

Geht das halbwegs in die Richtung des gemeinten oder liege ich komplett daneben?

#9:  Autor: VanHanegem BeitragVerfasst am: 26.11.2024, 11:16
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smallie hat folgendes geschrieben:
...Planck hatte bei der Herleitung des Schwarzkörperspektrums das selbe Problem kontinuierlicher Größen. Was hat er gemacht? Er hat sie quantisiert.
...

Also da hätte ich jetzt schon ein komisches Gefühl, wenn man für Energien, nur weil einem stetige Werte nicht in die theoretische Betrachtung passen, so ganz einfach postulieren würde, dass die nur diskrete Werte annehmen "dürfen".

Der Schritt von der Betrachtung stetiger Größen zu diskreten Größen geht m.W. immer über ein Eigenwertproblem. Das gilt von der (makroskopischen) Baumechanik bis runter auf (mikroskopische) Teilchenebene. Oder anders gesagt: Von Eigenwerten der elastomechanischen Gleichungen bis zu den Eigenwerten der Schrödingergleichung.


Kleine Notiz am Rande: obige Überlegung war aber vermutlich schon eine Motivation der Atomisten nach den Paradoxa des Zenon (alle ca. 500 v.Chr. rum) ein diskretes Weltbild einzuführen

#10:  Autor: stepWohnort: Germering BeitragVerfasst am: 26.11.2024, 12:42
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VanHanegem hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
...Planck hatte bei der Herleitung des Schwarzkörperspektrums das selbe Problem kontinuierlicher Größen. Was hat er gemacht? Er hat sie quantisiert. ...
Also da hätte ich jetzt schon ein komisches Gefühl, wenn man für Energien, nur weil einem stetige Werte nicht in die theoretische Betrachtung passen, so ganz einfach postulieren würde, dass die nur diskrete Werte annehmen "dürfen". ...

Naja, es gab bereits einen belastbaren Kontext, in dem Planck diesen Schritt vornahm:

1) Die Einfügung des Terms für hohe Frequenzen in das Strahlungsgesetz war durch die experimentellen Resultate erzwungen. Die theoretische Deutung erfolgte erst nachträglich.
2) Planck kannte die Vorgehensweise von Boltzmann, der schon früher die Energie in winzige, diskrete Portionen teilen mußte, damit er statistische Physik betreiben konnte. Planck mochte diesen Ansatz nicht, hat ihn aber letztendlich doch benutzt.

Übrigens war Planck sich anfangs der radikalen theoretischen Implikationen seines Ergebnisses nicht bewußt, und hat diese, als die ihm klarer wurden, auch noch ein paar Jahre lang abgelehnt - erst Einsteins berühmte Veröffentlichungen von 1905 brachten die Wende. Manche Forscher meinen, den Ausschlag für Planck hätte gegeben, daß das Wirkungsquanum h relativistisch invariant war - Planck liebte absolute Naturkonstanten. Mit ~1905 war Planck aber immer noch früher dran als andere berühmte Physiker, die die Quantenphysik selbst nach 1925 noch ablehnten.

#11:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 01.12.2024, 14:22
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Der Umkehreinwand

Ich hätt's ahnen sollen, dass über mein Eingangsthema schon seit 150 Jahren geschrieben wird und es einen Namen und einen Wikipedia-Eintrag hat. Allerdings keinen deutschen. Tsk.

Zitat:
Loschmidt's paradox

In physics, Loschmidt's paradox (named for J.J. Loschmidt), also known as the reversibility paradox, irreversibility paradox, or Umkehreinwand (from German 'reversal objection'), is the objection that it should not be possible to deduce an irreversible process from time-symmetric dynamics. This puts the time reversal symmetry of (almost) all known low-level fundamental physical processes at odds with any attempt to infer from them the second law of thermodynamics which describes the behaviour of macroscopic systems. Both of these are well-accepted principles in physics, with sound observational and theoretical support, yet they seem to be in conflict, hence the paradox.

https://en.wikipedia.org/wiki/Loschmidt%27s_paradox



Das Rätsel der Anfangsbedingungen

Kurz erzählt, wie ich auf das Thema gekommen bin. Auslöser war dieses Arte-Video: Das Ende der Urknalltheorie - Leben wir in einem Schwarzen Loch? Darin geht es um die Idee des Nikodem Poplawski, unser Universum hätte in einem Schwarzen Loch begonnen. Die ersten fünf oder zehn Minuten halte ich für ganz miesen Wissenschaftsjournalismus. Abschied vom Urknall? Moment, Poplawski und jedes andere Modell müssen am Ende die bekannte Hintergrundstrahlung hervorbringen. Das Video versäumt zu sagen, welchen Fakt Poplawskis Modell erklärt.

Wünschenswert wären Antworten auf diese Frage: Wenn die Entropie immer zunimmt und im Anfang niedrige Entropie herrschte, aus welchem Zustand noch niedriger Energie könnte unser Universum hervorgegangen sein?

Von daher stammt meine Vorstellung von einem Anfangszustand, der sich "mit der Zeit" nach den Gesetzen der Natur fortentwickelt. Warum Entropie den Zeitpfeil festlegen soll, leuchtet mir nach wie vor nicht ein.

(Erstaunlich finde ich, dass mir zur "Entropiebilanz" bei kosmischer Inflation bisher nichts untergekommen ist. Das ließe sich leicht durch meinen endlichen Aufmerksamkeits-Horizont erklären - aber der einschlägige Wikipedia-Artikel erwähnt Entropie auch nicht.)


So frustrieren wir den Dämon

Der Umkehreinwand und der Maxwellsche Dämon stammen aus Zeiten, in denen man nichts von Quantenmechanik wußte. Meines Erachtens hat sich die Umkehrfrage mit der QM erledigt.

Der Dämon möge eine physikalische Umkehraufgabe lösen. Damit es nicht zu einfach wird, wähle ich den radioaktiven Zerfall. So ein Beta-Zerfall sollte leicht umkehrbar sein - der Dämon muß nur Ort und Impuls der Zerfallsteilchen feststellen, sie umkehren und dann läuft der Vorgang rückwärts.

Was aber prinzipiell nicht geht, wie man seit Heisenberg weiß.

#12:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 01.12.2024, 14:25
    —
step hat folgendes geschrieben:
2) Planck kannte die Vorgehensweise von Boltzmann, der schon früher die Energie in winzige, diskrete Portionen teilen mußte, damit er statistische Physik betreiben konnte.

Warum Boltzmann das gemacht hat ist mir bisher entgangen. Das wäre wohl die Antwort auf meine obige Verständnislücke.

Stephen Wolfram fasst Boltzmanns Vorgehen so zusammen, nur in Auszügen zitiert:

Stephen Wolfram hat folgendes geschrieben:
But first he’s going to take a break and show that his derivation doesn’t need to assume continuity. In a pre-quantum-mechanics pre-cellular-automaton-fluid kind of way he replaces all the integrals by limits of sums of discrete quantities (i.e. he’s quantizing kinetic energy, etc.): [...]

He says that this discrete approach makes everything clearer, and quotes Lagrange’s derivation of vibrations of a string as an example of where this has happened before. But then he argues that everything works out fine with the discrete approach, and that H still decreases, with the Maxwell distribution as the only possible end point.

And this is where he “goes discrete” again—allowing (“cellular-automaton-style”) only discrete possible velocities for each molecule:


He says that upon colliding, two molecules can exchange these discrete velocities, but nothing more.


Klarer ist mir die Sache jetzt nicht.

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Kurzer Abstecher zum Begriff der "lebendigen Kräfte" und zu Mme Du Chatelet, die mehr als nur Fußnotenstatus verdient hätte.

Von toten und lebendigen Kräften zur Energieerhaltung

Ich bin immer wieder erstaunt, wie jung so mancher Begriff und so manche Einsicht in der Physik ist. Was Arbeit und was Energie ist, wurde erst 1829 in der modernen Form beschrieben.

Newton und Descartes interessierten sich hauptsächlich für die tote Kraft. Heute würde man Impuls sagen, also Masse mal Geschwindigkeit = mv. Leibniz hingegen sprach vom vis viva, die lebendige Kraft und meinte damit mv². Beide Lager betrachten ihre jeweiligen Größen als Erhaltungsgrößen. Der Streit wurde von der französischen Newton-Übersetzerin Emilie du Chatelet geklärt. Sie soll behauptet haben, Licht müsse masselos sein, sonst würde ein einzelner Lichtstrahl die Erde zerstören. (Ich konnte dafür nur diesen Beleg finden, der letzte Kommentar auf der Seite. )

Der Begriff Energie wurde erst 1807 von Thomas "Doppelspalt" Young eingeführt, in einer Vorlesung die sich an Laien und Frauen richtete. Erst 1829 kam Coriolis auf die moderne Darstellung der kinetischen Energie mit dem Faktor 1/2 vor dem mv². 1850 hat Clausius erstmals in klarer Form die Energieerhaltung, den ersten Hauptsatz der Thermodynamik formuliert.

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Zurück zu Boltzmann und Co.

Hätte Boltzmann den Big Bang vorhersagen können?

Immerhin schrieb er:

Stephen Wolfram hat folgendes geschrieben:
[Boltzmann:] Of course, we cannot expect natural science to answer the question as to why the bodies surrounding us currently exist in a highly improbable state, just as we cannot expect it to answer the question as to why there are any phenomena at all and why they adhere to certain given principles.

Damit hat Boltzmann recht, wie ich finde. Aber er hat es sich in der Unmöglichkeit, Letztfragen zu beantworten etwas zu gemütlich gemacht. Die Feststellung, dass unser Universum fernab eines thermodynamischen Gleichgewichts ist, bedeutet, dass wir in einem jungen Universum leben. Im Nachhinein läge es nahe, deshalb einen Big Bang zu behaupten.


PS: In eigener Sache. Fand ich witzig, dass Boltzmann eine Arbeit geschrieben hat, die zum Threadtitel passt:

Stephen Wolfram hat folgendes geschrieben:
in 1871 Boltzmann ... published another paper entitled simply “On the Priority of Finding the Relationship between the Second Law of Thermodynamics and the Principle of Least Action



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