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Ieldra Außerirdischer Techno-Magier
Anmeldungsdatum: 12.12.2007 Beiträge: 156
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(#1330715) Verfasst am: 18.07.2009, 15:37 Titel: |
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Telliamed hat folgendes geschrieben: | Selbst der arme de Sade wäre entsetzt gewesen, wenn er gesehen hätte, was in Europa in den 1930/40er Jahren in der Wirklichkeit angerichtet wurde. |
Meinst Du? Vielleicht ist den SS-Schergen ja auch einer abgegangen, als sie der Menschenvernichtung zusahen. Wenn man De Sade folgt, hätte das die Sache wieder gerechtfertigt.
Um es auf einen polemischen Punkt zu bringen: diejenigen, die an De Sade unbedingt etwas finden wollen, weil sie meinen, das sei cool, können auch gleich Konzentrationslager cool finden.
@Baudelaire:
Wenn das eine "Grammatik der Sexualität" ist, dann bin ich mit Sexualität in meinem Leben bisher nicht konfrontiert worden. In der Regel, behaupte ich einfach mal, trachten wir nicht danach, die Menschen, die wir begehren, zu verbrauchen, noch haben wir Orgasmen bei deren Tötung und Folterung. SM-Spielarten der Sexualität leben von der Simulation - das Bewusstsein, die Sache beenden zu können, wenn man will, d.h. eben *nicht* der Willkür ausgeliefert zu sein, ist Teil des Spiels.
Was den Ekel betrifft: da gibt es Szenen, in denen, neben der ohnehin schon übelkeiterregenden Erniedrigung, Blut und Exkremente nur so spritzen - in beliebigem Mix. Wie man das *nicht* ekelhaft finden kann, erschließt sich mir nicht. Wie bereits erwähnt, man kann sich distanzieren, wenn man das unbedingt cool finden will... siehe oben.
_________________ Faith is the truth of passion. Since no passion is more true than another, faith is the truth of nothing – aus “The Darkness that comes before”, von R. Scott Bakker
When we remember we are all mad, the mysteries disappear and life stands explained. - Mark Twain
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jagy Herb Derpington III.
Anmeldungsdatum: 26.11.2006 Beiträge: 7275
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(#1330727) Verfasst am: 18.07.2009, 15:48 Titel: |
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Ieldra hat folgendes geschrieben: |
Um es auf einen polemischen Punkt zu bringen: diejenigen, die an De Sade unbedingt etwas finden wollen, weil sie meinen, das sei cool, können auch gleich Konzentrationslager cool finden.
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Ich finde Horrorfilme über Psychokiller cool - muss ich deswegen auch Ted Bundy, Jeffry Dahmer etc. in der realen Welt cool finden?
_________________ INGLIP HAS BEEN SUMMONED - IT HAS BEGUN!
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nocquae diskriminiert nazis
Anmeldungsdatum: 16.07.2003 Beiträge: 18183
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(#1330749) Verfasst am: 18.07.2009, 16:14 Titel: |
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jagy hat folgendes geschrieben: | Ieldra hat folgendes geschrieben: |
Um es auf einen polemischen Punkt zu bringen: diejenigen, die an De Sade unbedingt etwas finden wollen, weil sie meinen, das sei cool, können auch gleich Konzentrationslager cool finden.
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Ich finde Horrorfilme über Psychokiller cool - muss ich deswegen auch Ted Bundy, Jeffry Dahmer etc. in der realen Welt cool finden? |
Einmal das. Das ist aber nichtmal der Hauptpunkt: Die Leute, die de Sade lesen und/oder interessant finden, tun das i.d.R. nicht, weil sie das Dargestellte „cool“ finden.
In 1984 heißt es „If you want a vision of the future, imagine a boot stamping on a human face - forever.“ Das muss ich auch nicht „cool“ finden, um 1984 zu lesen.
_________________ In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, als viel gefährlicher, als derjenige, der den Schmutz macht.
-- Kurt Tucholsky
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Xamanoth auf eigenen Wunsch deaktiviert
Anmeldungsdatum: 07.04.2006 Beiträge: 7962
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(#1330831) Verfasst am: 18.07.2009, 17:40 Titel: |
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Ein sehr guter Film (der auch ein Bild der irrsinnigen Stimmung der 1790er Jahre in Frankreich vermittelt) ist: "Sade- Folge deiner Lust". Er zeigt inen kurzen Abschnitt aus Sades Leben, zeitgleich des Sturzes Robbespierres.
Interessant fand ich dort (das wusste ich vorher noch nicht) dass Sade durchaus liberalen und humanen Staatsvorstellungen anhing, den jakobinischen Terror verabscheute (eine junge Frau sagt in dem Film zu ihm, dass er das doch toll finden müsste, er darauf: "Mord aufgrund abstrakter Prinzipien - das ist widerlich!". Auch war Sade kurzfristig wohl als Revolutionsrichter eingesetzt - und so gnädig wie kaum einer sonst.
Man bekommt leicht ein zu einseitiges Bild von ihm.
edit: zwei gute links:
http://www.zeit.de/1952/12/Sade-ueber-die-Sadisten
http://www.zeit.de/1949/29/War-Sade-ein-Sadist?page=3
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Cyborg Eukaryot
Anmeldungsdatum: 28.08.2008 Beiträge: 136
Wohnort: Wien
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(#1331697) Verfasst am: 20.07.2009, 19:50 Titel: |
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Wie de Sade getickt hat lässt sich im Film "Il Marchese De Sade" mit Rocco Siffredi nachvollziehen.
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tiny Feminella breva
Anmeldungsdatum: 29.12.2008 Beiträge: 170
Wohnort: Nürnberg
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(#1332034) Verfasst am: 21.07.2009, 14:18 Titel: Re: de Sade: Macht, Gewalt und Sexualität |
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Ieldra hat folgendes geschrieben: | Was im übrigen die weiter oben implizierte leichtere Akzeptanz von Gewalt durch ihre Verbindung mit Sexualität betrifft, so konnte ich bei der Lektüre feststellen, dass mich Willkür immer wütend macht, unabhängig davon, ob Sex im Spiel ist oder nicht. | De Sade zu interpretieren ist sicher nicht leicht, aber ich glaube, das ist Absicht. Ich denke, es hat ihm sicher Spaß gemacht, gewalttätige Szenen zu schreiben, und er hatte ganz sicher ein Problem mit seiner Sexualität. Es würde de Sade aber nicht gerecht, wenn man es aufgrund dieser beiden Punkte vernachlässigt, in seinem Werk nach einer feinsinnigeren Aussage zu suchen.
Nach dem, was ich bis jetzt von und über de Sade gelesen habe, stellt er den Menschen mit seiner Literatur in ein Spannungsfeld aus gewalttätigen Trieben und moralischen Bestrebungen. Die Willkür, die dich in de Sades Geschichten so wütend macht, ist die Willkür jeglicher Art von Strafe auf Basis irgendwelcher Gesetze. De Sade ist radikal gegen jede Form von Strafe; in seiner Zeit als hohes Tier in der Revolution war er als 'moderat' verschrien, ungeliebt, weil er adelig war, er schrieb Pamphlete, in denen er für direkte Wahlen warb, und der Legende nach hat er auf seinem Posten in der Judikative nicht ein einziges Todesurteil unterschrieben, nichtmal das seiner Schwiegermutter, obwohl sie diejenige war, die dafür gesorgt hatte, dass er in die Bastille kam. Er wurde aus all diesen Gründen, die eigentlich dazu taugen, ihn sympathisch wirken zu lassen, wieder eingesperrt und - wait for it... waaait... - zum Tode verurteilt...
De Sade hätte sein eigenes Leben schreiben können, und - so verstehe ich das zur Zeit jedenfalls - wenn man seine Übertreibungen als Stilmittel und Zaunpfähle interpretiert, hat er mit seinem Gesamtwerk eine extreme Kulturkritik geschrieben, die man nicht verstehen darf, sofern man sich als Mensch unter Menschen weiterhin sicher fühlen will.
Supervert formuliert es so: "If you can't read Sade to the end, you lose — and somehow even if you do, you still lose." Zitat: | Vielleicht ist den SS-Schergen ja auch einer abgegangen, als sie der Menschenvernichtung zusahen. | Nein. Weil: http://de.wikipedia.org/wiki/Milgram-Experiment Zitat: | Um es auf einen polemischen Punkt zu bringen: diejenigen, die an De Sade unbedingt etwas finden wollen, weil sie meinen, das sei cool, können auch gleich Konzentrationslager cool finden. | Glückwunsch, du hast soeben verloren. http://en.wikipedia.org/wiki/Godwins_law
Telliamed hat folgendes geschrieben: | Der Interpretation solcher Szenen sei Tür und Tor geöffnet, aber nicht nur die Zeitgenossen waren an den Grenzen sämtlichen Verständnisses angelangt. | Soweit ich das verstanden habe, stellt er die gesamte Kultur in Frage, die sich darauf stützt, dass Menschen übereinander verfügen. Er entlarvt und zerstört genüsslich alles, was einer Gesellschaft Struktur gibt.
Hucklebuck hat folgendes geschrieben: | Wer sich für (ziemlich sicher) reale Vorgänge interessiert, die in dieser Schnittmenge liegen, sollte mal versuchen, "Satanismus in Deutschland" (Untertitel `Zwischen Kult und Gewalt`)von Rainer Fromm zu lesen. | Äh... Das ist jetzt OT, aber kurze Recherche bringt mich zu dem Schluss, dass Rainer Fromm die Schocker in seinem Bericht von Suggestionsopfern bekommt. Also, Leuten, denen ihre Psychologen nach und nach Schauergeschichten eingeredet haben. Ist ein bekanntes Phänomen, das allerdings in den USA mit Rechtsmitteln stärker verfolgt wird als in D-Land.
Ahriman hat folgendes geschrieben: | Interessant ist an ihm vielleicht noch, daß er versucht hat, seine Neigung irgendwie philosophisch zu untermauern oder gar zu rechtfertigen. | Das glaube ich eben nicht. De Sade war sicher in sexueller Hinsicht gestört, aber ich denke, dass er seine Bücher als Kritik gedacht hat, und nicht als Rechtfertigung seiner sexuellen Neigung.
jagy hat folgendes geschrieben: | Ich finde Horrorfilme über Psychokiller cool - muss ich deswegen auch Ted Bundy, Jeffry Dahmer etc. in der realen Welt cool finden? | Faszinierend aber schon, oder? Vor allem der Vergleich von Realität und Fiktion kann ziemlich überraschend sein, und man kann aus diesen Fallbeispielen doch das eine oder andere über die Möglichkeiten und Grenzen der menschlichen Psyche erfahren.
Besonders Dahmers Geschichte finde ich spannend, weil sich seine Entwicklung mit ganz einfachen Mitteln erklären lässt und sein Zusammenbruch hätte verhindert werden können, wenn sich jemand die Mühe gemacht hätte, sich in seiner Kindheit auf ihn einzulassen.
EDIT: Sogesehen kann man Dahmer sogar als Kritik der Realität an sich selbst verstehen. Die Kultur, in der er gelebt hat, hat in Dahmers Andersartigkeit eine Dynamik losgetreten; wäre er in einem weniger konformistischen Milieu aufgewachsen, hätte er möglicherweise nie angefangen zu saufen und gemeingefährliche Symptome zu entwickelt.
Xamanoth hat folgendes geschrieben: | Ein sehr guter Film (der auch ein Bild der irrsinnigen Stimmung der 1790er Jahre in Frankreich vermittelt) ist: "Sade- Folge deiner Lust". Er zeigt inen kurzen Abschnitt aus Sades Leben, zeitgleich des Sturzes Robbespierres. | Klingt gut, was du so beschreibst.
Hat eigentlich jemand die Verfilmung mit Joaquin Phoenix und Kate Winslet gesehen? Keine Ahnung, wie realitätsnah die so war, aber ich fand sie so als Geschichte ziemlich gelungen. Und die Interpretation der Rezeption von de Sade, die der Charakter von Kate Winslet verkörpert, fand ich auch ganz interessant.
_________________ "Ich schreibe, was ich sehe: Die endlose Prozession zur Guillotine." ~ de Sade
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Ieldra Außerirdischer Techno-Magier
Anmeldungsdatum: 12.12.2007 Beiträge: 156
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(#1332706) Verfasst am: 22.07.2009, 15:49 Titel: Re: de Sade: Macht, Gewalt und Sexualität |
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tiny hat folgendes geschrieben: | Ieldra hat folgendes geschrieben: | Was im übrigen die weiter oben implizierte leichtere Akzeptanz von Gewalt durch ihre Verbindung mit Sexualität betrifft, so konnte ich bei der Lektüre feststellen, dass mich Willkür immer wütend macht, unabhängig davon, ob Sex im Spiel ist oder nicht. | De Sade zu interpretieren ist sicher nicht leicht, aber ich glaube, das ist Absicht. Ich denke, es hat ihm sicher Spaß gemacht, gewalttätige Szenen zu schreiben, und er hatte ganz sicher ein Problem mit seiner Sexualität. Es würde de Sade aber nicht gerecht, wenn man es aufgrund dieser beiden Punkte vernachlässigt, in seinem Werk nach einer feinsinnigeren Aussage zu suchen. |
Ich muss zugeben, dass die gelegentlichen politisch/philosophischen Passagen in seinen Büchern interessant sind. Ich würde es nur vorziehen, mich dazu nicht durch eine Aneinanderreihung von Scheußlichkeiten quälen zu müssen.
tiny hat folgendes geschrieben: | Nach dem, was ich bis jetzt von und über de Sade gelesen habe, stellt er den Menschen mit seiner Literatur in ein Spannungsfeld aus gewalttätigen Trieben und moralischen Bestrebungen. Die Willkür, die dich in de Sades Geschichten so wütend macht, ist die Willkür jeglicher Art von Strafe auf Basis irgendwelcher Gesetze. De Sade ist radikal gegen jede Form von Strafe; in seiner Zeit als hohes Tier in der Revolution war er als 'moderat' verschrien, ungeliebt, weil er adelig war, er schrieb Pamphlete, in denen er für direkte Wahlen warb, und der Legende nach hat er auf seinem Posten in der Judikative nicht ein einziges Todesurteil unterschrieben, nichtmal das seiner Schwiegermutter, obwohl sie diejenige war, die dafür gesorgt hatte, dass er in die Bastille kam. Er wurde aus all diesen Gründen, die eigentlich dazu taugen, ihn sympathisch wirken zu lassen, wieder eingesperrt und - wait for it... waaait... - zum Tode verurteilt... |
Da sehe ich die Parallelen nicht. Strafe unterscheidet sich in einem wesentlichen Merkmal von Willkür: sie ist - jedenfalls in der Regel - durch Gesetze festgelegt und geraden eben *nicht* willkürlich, aus einer Laune heraus auferlegt. Man weiß *vorher*, was man als Konsequenz inetwa zu erwarten hat. Das mag in vielen Fällen ungerecht sein, aber selbst wenn man de Sade in seiner grundsätzlichen Ablehnung von Strafe folgt: es ist verlässlich. Und Verlässlichkeit ist ganz extrem wichtig im menschlichen Sozialverhalten. Willkür ist das genaue Gegenteil.
Zitat: | De Sade hätte sein eigenes Leben schreiben können, und - so verstehe ich das zur Zeit jedenfalls - wenn man seine Übertreibungen als Stilmittel und Zaunpfähle interpretiert, hat er mit seinem Gesamtwerk eine extreme Kulturkritik geschrieben, die man nicht verstehen darf, sofern man sich als Mensch unter Menschen weiterhin sicher fühlen will.
Supervert formuliert es so: "If you can't read Sade to the end, you lose — and somehow even if you do, you still lose." |
Wie man auch immer über seine politische Philosophie denken mag, so scheinen mir die sexuellen Scheußlichkeiten in den Büchern doch eher das konsequente zu-Ende-Denken seiner eigenen Neigungen zu sein. Inwieweit das kulturkritisch zu verstehen ist, ist die Frage. In einer Welt ohne Strafe wird schließlich der Willkür freie Bahn geschaffen.
Das eine schließt das andere nicht aus, meine ich.
tiny hat folgendes geschrieben: | Ieldra hat folgendes geschrieben: | Um es auf einen polemischen Punkt zu bringen: diejenigen, die an De Sade unbedingt etwas finden wollen, weil sie meinen, das sei cool, können auch gleich Konzentrationslager cool finden. | Glückwunsch, du hast soeben verloren. http://en.wikipedia.org/wiki/Godwins_law |
Das war mir durchaus bewusst - ich dachte mir schon, dass jemand es bringen würde. Egal. Ich wollte damit nicht sagen, dass alle, die etwas an de Sade finden, ihn cool finden, sondern ich sehe manchmal eine gewisse Neigung, ihn cool finden zu wollen und ihn deshalb in nicht ausreichend reflektierter Art und Weise zu verteidigen. Dagegen habe ich polemisiert.
Was die Serienkiller-Filme angeht: *interessant* ist das Thema, gerade auch aufgrund der Tatsache, dass uns immer wieder deutlich gemacht wird, dass es eben auch menschlich ist, die Grenzen des Menschlichen zu überschreiten. Wenn ich es nicht interessant finden würde, das menschliche jenseits der Grenzen des Menschlichen zu erkunden, dann hätte ich de Sades Bücher gar nicht erst gekauft. Auch eine gewisse Faszination ist da. Aber solche Sachen *cool* zu finden, ist schon eine andere Kategorie. Etwas cool zu finden, heißt, es zu respektieren, und das kann ich - bei Serienmördern wie bei gewissen Charakteren in de Sades Büchern - nicht nachvollziehen.
tiny hat folgendes geschrieben: | Telliamed hat folgendes geschrieben: | Der Interpretation solcher Szenen sei Tür und Tor geöffnet, aber nicht nur die Zeitgenossen waren an den Grenzen sämtlichen Verständnisses angelangt. | Soweit ich das verstanden habe, stellt er die gesamte Kultur in Frage, die sich darauf stützt, dass Menschen übereinander verfügen. Er entlarvt und zerstört genüsslich alles, was einer Gesellschaft Struktur gibt. |
Mag sein. Nur übersieht er dabei, dass der Wegfall jeder Struktur zu Zuständen führen würde, die noch weniger akzeptabel sind, jedenfalls für eine Mehrheit der Menschen. Der Wegfall von organisierter Verfügbarkeitmachung von Menschen würde nur in einer unorganisierten Variante desselben resultieren, die, weil weniger verlässlich und mehr willkürbehaftet, weniger akzeptabel ist. Sofern de Sade das nicht übersieht, rechtfertigt er es, was im übrigen auch in seinem berühmten Satz anklingt, dass das Töten aus Leidenschaft verständlich, aber das Töten aufgrund abstrakter Rechtsprinzipien unbegreiflich sei. Ich sehe es völlig anders: einen Mord aufgrund von rationalem Eigeninteresse kann man bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, das Töten aus reiner Willkür jedoch nicht. Deshalb wirkt Letzeres auch bedrohlicher und unterminiert *jegliches* menschliche Zusammenleben fundamental, egal ob strukturiert oder nicht.
_________________ Faith is the truth of passion. Since no passion is more true than another, faith is the truth of nothing – aus “The Darkness that comes before”, von R. Scott Bakker
When we remember we are all mad, the mysteries disappear and life stands explained. - Mark Twain
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Telliamed registrierter User
Anmeldungsdatum: 05.03.2007 Beiträge: 5125
Wohnort: Wanderer zwischen den Welten
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(#1332875) Verfasst am: 22.07.2009, 21:58 Titel: |
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@tiny
Angenommen, ich wäre ein Hochschullehrer und würde die Literatur der Aufklärungszeit durchnehmen; also ich hätte eine Hemmschwelle, in einer Lehrveranstaltung Studentinnen zur Lektüre de Sades zu veranlassen.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau freiwillig de Sade liest, höchstens daß sie das Buch nach wenigen Seiten wieder angewidert aus der Hand legen würde.
Nun habe ich bereits oben angedeutet, dass ich nach 1990 mit Frauen gesprochen habe, die seine Romane gelesen haben. Da war allerdings berufsbedingtes Interesse dahinter anzunehmen, wie auch aus den bibliographischen Angaben der de Sade-Forschung hervorgeht, dass es durchaus Forscherinnen gibt, die sich mit seinen Werken beschäftigt haben.
Nun bin ich Angehöriger einer mittel-ältlichen Generation, die in der DDR weitgehend ohne derartige Literatur aufgewachsen ist. De Sade wurde nicht verlegt, und ich hatte vor 1989 auch keinen Antrieb, an die "Giftschränke" der Bibliotheken herankommen zu wollen, in denen auch die Werke von Freud, Lukacz, Jung, Marcuse oder Adorno lagen, die ebenfalls in den 70er/80er Jahren nicht im Handel waren, um mich ausgerechnet wegen de Sade verdächtig zu machen.
Um es auf die Frage zu bringen: ist nicht für eine Leserin bei de Sade eine enorme Ekelschwelle zu überwinden, um so einen Roman bis zum Ende durchzustehen? oder macht sie das, weil irgendein Literaturmensch das für ein Seminar verlangt oder liest sie doch rein aus Interesse an der Literatur und lässt das Dargestellte emotional gar nicht weiter an sich herankommen.
Es ist durchaus möglich, dass ich hier, in einer familiär und von Staats wegen prüden und verklemmten Umgebung aufgewachsen (Honecker sah sich im abgeschirmten Wandlitz höchstens Schulmädchenreport-Filme der 1970er Jahre an) , hoffnungslos veraltete Vorstellungen habe.
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#1332925) Verfasst am: 22.07.2009, 23:08 Titel: |
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@Telliamed
Ich bin auch Angehöriger der älteren Generation, im Westen aufgewachsen und habe de Sade auch nie gelesen. Gewalt und Sexualität sind für mich zwei Dinge, die nicht zusammengehören.
Was die Ekelschwelle von jungen Frauen heute angeht, dürfte sie die unsere wohl weit überschreiten. Da gehören wir wohl wirklich zum alten Eisen, nur hab ich damit kein Problem.
_________________ "Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen ... Alles aber ist geworden;
es gibt keine ewigen Tatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten gibt."
Friedrich Nietzsche
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Chilisalsa registrierter User
Anmeldungsdatum: 21.12.2008 Beiträge: 1907
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(#1333003) Verfasst am: 23.07.2009, 01:36 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | @Telliamed
Ich bin auch Angehöriger der älteren Generation, im Westen aufgewachsen und habe de Sade auch nie gelesen. Gewalt und Sexualität sind für mich zwei Dinge, die nicht zusammengehören.
Was die Ekelschwelle von jungen Frauen heute angeht, dürfte sie die unsere wohl weit überschreiten. Da gehören wir wohl wirklich zum alten Eisen, nur hab ich damit kein Problem. |
Dito.
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Ieldra Außerirdischer Techno-Magier
Anmeldungsdatum: 12.12.2007 Beiträge: 156
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(#1333048) Verfasst am: 23.07.2009, 09:25 Titel: |
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Telliamed hat folgendes geschrieben: | Es ist durchaus möglich, dass ich hier, in einer familiär und von Staats wegen prüden und verklemmten Umgebung aufgewachsen (Honecker sah sich im abgeschirmten Wandlitz höchstens Schulmädchenreport-Filme der 1970er Jahre an) , hoffnungslos veraltete Vorstellungen habe. |
Nun, ich bin in einer etwas offeneren Umgebung aufgewachsen, und argumentiere im allgemeinen gern und mit Leidenschaft gegen verklemmte Moralvorstellungen. Aber ich finde viele Szenen in de Sades Werken ebenso ekelhaft.
Das Problem bei de Sade ist nicht die Sexualität, sondern ihre Verbindung mit *echter* Willkür. Die SM-Szene heute spielt mit Macht, aber letztlich wird gemacht, was allen Beteiligten gefällt, und sei es auch noch so abstoßend für andere. Das ist akzeptabel. Mir muss es ja nicht gefallen, und solange es nicht in meinem Wohnzimmer stattfindet, sage ich: leben und leben lassen.
Bei de Sade hingegen ist die Willkür echt. Einige mögen versucht sein, darum herumzuinterpretieren, aber bei Verstümmelung und mutwilliger Tötung kann man davon ausgehen, dass das Einverständnis aufhört. Gewalt und Sexualität gehören zwar zusammen (deskriptiv gesprochen, leider), aber sie gehören nicht zusammen (als moralische Forderung).
De Sade trampelt nicht auf *verklemmter* Moral herum, sondern auf Moral überhaupt. Mit seiner Darstellung weist er, scheint mir, auf die Natur des Menschen als böse hin, und die Moral als künstlich von der Kultur aufgepropft. Das geht u.a. gegen Leute wie Rousseau, die behaupten, der Mensch sei von Natur aus gut. Beide Sichtweisen sind aus meiner Sicht ziemlich eindimensional und können inzwischen als widerlegt gelten - aber das ist ein Thema für einen anderen Thread.
_________________ Faith is the truth of passion. Since no passion is more true than another, faith is the truth of nothing – aus “The Darkness that comes before”, von R. Scott Bakker
When we remember we are all mad, the mysteries disappear and life stands explained. - Mark Twain
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Ahriman Tattergreis
Anmeldungsdatum: 31.03.2006 Beiträge: 17976
Wohnort: 89250 Senden
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(#1333121) Verfasst am: 23.07.2009, 12:28 Titel: |
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Teliamed hat folgendes geschrieben: | Um es auf die Frage zu bringen: ist nicht für eine Leserin bei de Sade eine enorme Ekelschwelle zu überwinden, um so einen Roman bis zum Ende durchzustehen? |
Du verstehst nichts von Frauen.
Viele Frauen träumen sich gern als Opfer sexueller Gewalt - mehr oder weniger. Wobei sie natürlich die Realisation solcher Wachträume strikt ablehnen. Gespielte Gewalt wird darum ganz gern angenommen, in der SM-Szene gibt es nicht nur Männer und Dominas!
"Die Geschichte der O" wurde von einer Frau geschrieben, und wenn du das Glück hast, eine Ausgabe der "Dornröschen-Trilogie" von Anne Roquelaure auftreiben zu können, dürften dir die Augen übergehen.
Ich habe einige Zeit in einem Gynophagen-Forum mitgelesen und da auch gewaltig gestaunt. Da sind tolle Geschichten zu lesen gewesen, die von Frauen geschrieben wurden. Die Vorstellung, lebendig auf einen Bratspieß gesteckt zu werden macht viele Frauen an.
Allerdings wird da auch ausdrücklich immer wieder betont, daß das alles nur "Kopfkino" ist.
_________________ ...und suche mich nicht in der Unterführung...
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Telliamed registrierter User
Anmeldungsdatum: 05.03.2007 Beiträge: 5125
Wohnort: Wanderer zwischen den Welten
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(#1333129) Verfasst am: 23.07.2009, 12:46 Titel: |
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@Ahriman
Wollte ja eigentlich nur mal abwarten, ob sich hier eine echt "freiwillige" Sade-Leserin ("aus reinem Interesse") äußern würde ...
Ich weiß auch nicht, ob Du jetzt wegen Deiner Kenntnisse über auf "natürliche Weise" sado-masochistisch veranlagte Frauen eine drübergezogen bekommst, ich halte mich da mangels Erfahrung, die Du mir ja auch bescheinigst, lieber zurück.
Ich könnte mir vorstellen, daß man auch solche Beobachtungen als "verkappte Männerphantasien" hinstellen könnte, wie sie in den schwülstigen Romanen des Leopold von Sacher-Masoch festgehalten sind ... aber vielleicht gibt es tatsächlich so etwas, worüber man dann verständlicherweise nur nicht in der Öffentlichkeit spricht bzw. was aus Gründen mangelnder Überprüfbarkeit auch noch nicht in allgemein zugänglichen Forschungsstudien zu finden ist.
Zitat: | Viele Frauen träumen sich gern als Opfer sexueller Gewalt | Kann ich mir echt nicht vorstellen, dass es sowas gibt.
edit. und noch zu den Veröffentlichungen, auch wenn sie wirklich von Frauen sein sollten, wenn der Mammon in Gestalt von Honoraren lockt, kann tatsächlich das eine oder andere Tabu durchbrochen werden.
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astarte Foren-Admin

Anmeldungsdatum: 13.11.2006 Beiträge: 46545
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(#1333133) Verfasst am: 23.07.2009, 12:55 Titel: |
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Ahriman hat folgendes geschrieben: | Teliamed hat folgendes geschrieben: | Um es auf die Frage zu bringen: ist nicht für eine Leserin bei de Sade eine enorme Ekelschwelle zu überwinden, um so einen Roman bis zum Ende durchzustehen? |
Du verstehst nichts von Frauen.
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Aber du, ja?
_________________ Tja
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nocquae diskriminiert nazis
Anmeldungsdatum: 16.07.2003 Beiträge: 18183
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(#1333140) Verfasst am: 23.07.2009, 13:13 Titel: |
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Telliamed hat folgendes geschrieben: | Zitat: | Viele Frauen träumen sich gern als Opfer sexueller Gewalt | Kann ich mir echt nicht vorstellen, dass es sowas gibt.
edit. und noch zu den Veröffentlichungen, auch wenn sie wirklich von Frauen sein sollten, wenn der Mammon in Gestalt von Honoraren lockt, kann tatsächlich das eine oder andere Tabu durchbrochen werden. |
Irgendwo hier im Forum (oder im alten FGH oder Denkerforum) hatte mal bei ähnlicher Gelegenheit eine Statistik präsentiert, nach der 70% aller Frauen zumindest einmal in ihrem Leben auf eine Vergewaltigungsfantasie masturbiert haben. Wobei ich mir persönlich kaum vorstellen kann, dass man bei solchen Umfragen (auch, wenn sie anonym sind) irgendwelche realistischen Zahlen erhält. (Und an dieser Stelle muss man leider darauf hinweisen, dass Vergewaltigungsfantasien und Vergewaltigungen zwei völlig verschiedene Paar Schuhe sind. Die Empörung über „Verherrlichung sexueller Gewalt“ dürfen also alle sehr gerne stecken lassen. )
Meine persönliche Interpretation wäre, dass das Folge einer repressiven sexuellen Sozialisation ist: wenn ich mich dazu gezwungen fühle, meine eigenen sexuellen Wünsche zu verneinen, dann geben mir Gewaltfantasien die Möglichkeit, die Verantwortung dafür zurückzuweisen. Demzufolge würde das eher Personen betreffen, die ansonsten eher sexuell „verklemmt“ sind als solche, die das innere „Instrumentarium“ haben, ihre Sexualität freier ausleben zu können. Und das würde auch erklären, warum das häufiger Frauen als Männer betrifft: Männern wird von der Gesellschaft traditionell eher eine eigene Sexualität zugestanden, als Frauen.
Das würde sich nicht nur mit meiner persönlichen Erfahrung decken, das bietet auch einen Ansatzpunkt zum Verständnis de Sades: Ich habe bei ihm ständig seine Aussage im Hinterkopf, dass [politisch] repressive Systeme notwendig zur Existenz „kranker Geister“ – wie ihm – führen. Auch hier wäre also die Kernaussage, dass Repression erst zu Problemen führt.
Warum haben ausgerechnet die prüden USA die höchste Rate an Teenagerschwangerschaften unter allen Industrieländern? Warum rangieren die bei der Rate sexuell übertragbarer Krankheiten irgendwo zwischen Gabun und Südafrika?
_________________ In Deutschland gilt derjenige, der auf den Schmutz hinweist, als viel gefährlicher, als derjenige, der den Schmutz macht.
-- Kurt Tucholsky
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tiny Feminella breva
Anmeldungsdatum: 29.12.2008 Beiträge: 170
Wohnort: Nürnberg
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(#1333387) Verfasst am: 23.07.2009, 23:22 Titel: |
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Ieldra hat folgendes geschrieben: | Ich muss zugeben, dass die gelegentlichen politisch/philosophischen Passagen in seinen Büchern interessant sind. Ich würde es nur vorziehen, mich dazu nicht durch eine Aneinanderreihung von Scheußlichkeiten quälen zu müssen. | Eine 'saubere' Version, in der die sexuelle Gewalt einführend in ihrer literarischen und philosophischen Bedeutung erklärt und ansonsten rausgeschnitten ist, wäre für die Breitenrezeption von de Sade sicher nicht schlecht, da bin ich ganz deiner Meinung.
Ich überlege allerdings, ob nicht die Selbstbeobachtung des Lesers während der Gewaltszenen wichtig für den Erkenntnisprozess und das 'richtige' Verständnis von de Sades Philosophie sein könnte. Er zielt ja nun in die Praxis und nicht in die Theorie, und dazu ist es nötig, dem Leser einen emotionalen Andockpunkt zu geben, von dem aus er die Relevanz von de Sades Gedanken für seine eigene Person reflektieren kann.
(sorry, ich formulier mich grad in Grund und Boden, aber meine Hirnwindungen sind voller Unischeiß und ich kann das grad nicht abstellen -.-) Zitat: | Da sehe ich die Parallelen nicht. Strafe unterscheidet sich in einem wesentlichen Merkmal von Willkür: sie ist - jedenfalls in der Regel - durch Gesetze festgelegt und geraden eben *nicht* willkürlich, aus einer Laune heraus auferlegt. | Deine Definition von 'Willkür' ist etwas eng für mein Verständnis.
Ich halte es für Willkür, wenn ein Kinderschänder für drei Jahre in den Knast kommt, ein Musikpirat aber für zehn. Und ich halte es für Willkür, dass einige Bundesländer jeden unter 21 nach dem JGG verknacken, während andere zwischen 18 und 21 ein Gutachten machen lassen und wieder andere nur in Ausnahmefällen einen über 18 *nicht*dem StGB zuordnen. Und das sind nur zwei Beispiele aus dem Strafgesetz. Wenn wir uns den Steuergesetzen zuwenden, wird es richtig bunt.
Du sprichst auch von der Antizipierbarkeit von Strafe, aber in meinen Augen rechtfertigt es Strafe nicht, dass man vorher wusste, dass sie auf einen zukommen kann. Zitat: | Wie man auch immer über seine politische Philosophie denken mag, so scheinen mir die sexuellen Scheußlichkeiten in den Büchern doch eher das konsequente zu-Ende-Denken seiner eigenen Neigungen zu sein. Inwieweit das kulturkritisch zu verstehen ist, ist die Frage. In einer Welt ohne Strafe wird schließlich der Willkür freie Bahn geschaffen. | Darauf kann ich dir leider keine stichhaltige Erwiderung geben. Aber wenn ich endlich wieder Zeit für Spaß habe, werde ich mich umfassend in de Sade einlesen und dir dann sagen, ob ich deine Interpretation für zutreffend halte oder nicht, und warum. Zitat: | Ich wollte damit nicht sagen, dass alle, die etwas an de Sade finden, ihn cool finden, sondern ich sehe manchmal eine gewisse Neigung, ihn cool finden zu wollen und ihn deshalb in nicht ausreichend reflektierter Art und Weise zu verteidigen. Dagegen habe ich polemisiert. | Ah, jetzt verstehe ich. Ok. In der Hinsicht bin ich ganz deiner Meinung.
Ich halte de Sade zwar nicht für gefährlich - außer in den Händen von Menschen, die sich eh nach Jenseits-jeder-Vernunft begeben hätten - aber sich de Sade als modisches Statement ans Revers zu hängen, ohne sich weiterführende Gedanken dazu gemacht zu haben, finde ich auch etwas dämlich. Zitat: | Aber solche Sachen *cool* zu finden, ist schon eine andere Kategorie. Etwas cool zu finden, heißt, es zu respektieren, und das kann ich - bei Serienmördern wie bei gewissen Charakteren in de Sades Büchern - nicht nachvollziehen. | Ok, gut... Ich muss sagen, ich gebe mir große Mühe, die Gedankengänge und Motive von Gewalttätern nachzuvollziehen und ihnen insofern Respekt zu zollen, dass ich den Menschen in ihnen suche. Mit einigen - z.B. Jeffrey Dahmer - kann ich mich auch identifizieren, und dann versuche ich rauszufinden, was das über mich und über diesen Mörder aussagt.
Ich bin der Meinung, dass es keine böse Menschen gibt, sondern nur kranke. Kranke Menschen zu verurteilen, bringt nichts (Quarantäne muss natürlich trotzdem sein). Aber wenn man sich die Mühe macht, sie zu verstehen und Mitgefühl selbst mit den perversesten, empathielosesten Schwergestörten zu entwickeln, kann man an der Krankheit anderer wachsen.
Blörgh. Ich glaub ich hab Buddhitis -.- Zitat: | Nur übersieht er dabei, dass der Wegfall jeder Struktur zu Zuständen führen würde, die noch weniger akzeptabel sind, jedenfalls für eine Mehrheit der Menschen. Der Wegfall von organisierter Verfügbarkeitmachung von Menschen würde nur in einer unorganisierten Variante desselben resultieren, die, weil weniger verlässlich und mehr willkürbehaftet, weniger akzeptabel ist. | Darauf kann ich derzeit auch noch nichts erwidern.
Zitat: | (...) dass das Töten aus Leidenschaft verständlich, aber das Töten aufgrund abstrakter Rechtsprinzipien unbegreiflich sei. Ich sehe es völlig anders: einen Mord aufgrund von rationalem Eigeninteresse kann man bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen, das Töten aus reiner Willkür jedoch nicht. | Er spricht von Leidenschaft, nicht von Willkür. Leidenschaft bedeutet Affekt. Ich war schon mehrmals so wütend auf meinen Freund, dass die einzige Möglichkeit, mich selbst davon abzuhalten, auf ihn loszugehen, darin bestand, dass ich gegen die Wand geschlagen habe, bis mir die Knöchel geblutet haben. Etwas Dummes, Falsches, Grausames aus einem Affekt heraus zu tun, halte ich persönlich für sehr verständlich.
Aber bei ruhigem Blut, einfach nur aus Prinzip, einem Menschen Gewalt anzutun? Das bedeutet Todesstrafe und Körperstrafen! Und so etwas würde ich nicht gutheißen, nicht solange ich ruhig und emotional distanziert bin. Denn wenn ich ruhig bin, spricht mein moralisches Gespür die Urteile, und das lehnt jede Form von realer Gewalt ab.
Telliamed hat folgendes geschrieben: | Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau freiwillig de Sade liest, höchstens daß sie das Buch nach wenigen Seiten wieder angewidert aus der Hand legen würde. | Uhm, also, ich hab de Sade freiwillig gelesen, als Teil meiner andauernden privaten Studien über das Erleben und Verhalten von Homo sapiens sapiens. Zum Thema 'Sexualität: Pornographie' sehr aufschlussreich ist übrigens das Tagbuch True Pron Clerk Stories von Ali Davis; nur so am Rande...
Aber ich habe de Sade freiwillig gelesen und ihn nicht weggelegt, weil mich die Gewalt angeekelt hat, sondern weil sie derart cartoonmäßig überzogen war, dass ich dauernd lachen und den Kopf schütteln musste, was mit meiner Absicht, den Kram ernsthaft zu lesen, irgendwie kollidiert ist. Beunruhigt oder abgestoßen hat mich nichts; ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern. Dazu muss ich aber sagen, dass ich mich vor nichts ekle, das nicht gerade aus der Mülltonne zu mir hochdampft (was mich bei meinem Bestatterpraktikum selbst überrascht hat, aber tote Menschen sind wirklich angenehme Zeitgenossen). Zitat: | Es ist durchaus möglich, dass ich (...) hoffnungslos veraltete Vorstellungen habe. | Kann sein. Vielleicht wird auch nur offener darüber gesprochen bzw. nachgedacht, ohne dass sich an der Normalverteilung des Ekelgefühls etwas Grundlegendes verändert hätte.
Ahriman hat folgendes geschrieben: | Viele Frauen träumen sich gern als Opfer sexueller Gewalt - mehr oder weniger. Wobei sie natürlich die Realisation solcher Wachträume strikt ablehnen. | Gabs da nicht diese Geschichte von der Frau, die ihrem Mann diese Phantasien gestanden hat, und er hat durchblicken lassen, dass er zu gegebener Zeit darauf zurückkommen würde? Dann wurde die Frau in der Tiefgarage überfallen; sie dachte, der Täter wäre ihr Mann, und hat mitgespielt. Aber irgendwann ist ihr bewusst geworden, dass der Kerl gar nicht riecht wie ihr Mann. In dem Moment ist ihr kotzübel geworden und sie hat angefangen, sich ernsthaft zu wehren. Am Ende kam raus, dass ihr Mann anderes Rasiewasser benutzt hat, um die Täuschung perfekt zu machen. Die Frau hat sich kurz darauf scheiden lassen, weil sie es nicht mehr über sich bringen konnte, mit ihrem Mann zu schlafen.
Die Kontrolle über eine Situation abgeben zu können, oder umgekehrt einmal für eine begrenzte Zeit die volle Kontrolle zu besitzen, ist reizvoll, aber Sex ohne Konsens geht einfach nicht. Keine Ahnung, ob de Sade das in seinem Leben so umgesetzt hat, aber er wird wohl nicht ohne Grund von seiner Schwiegermutter in die Bastille gesteckt worden sein.
EDIT:
NOCQUAE hat folgendes geschrieben: | Warum haben ausgerechnet die prüden USA die höchste Rate an Teenagerschwangerschaften unter allen Industrieländern? Warum rangieren die bei der Rate sexuell übertragbarer Krankheiten irgendwo zwischen Gabun und Südafrika? | Das liegt an der fehlenden Aufklärung.
Deiner Überlegung, dass sexuelle Gewaltphantasien aus einer repressiven Gesellschaftsstruktur heraus entstehen, habe ich glaub ich schonmal zugestimmt. Allerdings würde ich dieses Statement jetzt gern etwas revidieren, bzw. mal die Frage in den Raum stellen, ob nicht eher das große Theater, das um de Sades Fiktion gemacht wurde, ein Zeichen für die repressive Struktur ist.
Ich meine, ich habe hier neben mir die Necrophila Variations von Supervert liegen - die nicht so witzig sind wie die Pressestimmen sagen - und ich wage mal zu behaupten, dass dieses Buch noch in den 50ern zu einem großen Aufschrei geführt hätte und sofort auf irgend einem Index gelandet wäre. Das bedeutet nicht, dass Nekrophilie heutzutage als weniger abstoßend oder falsch empfunden wird, als zu dieser Zeit, oder dass es heute mehr Nekrophile gibt als damals, sondern dass sich die gesellschaftliche Vorstellung dessen verändert hat, was ein verderblicher Einfluss ist und was ein gesunder Mensch verkraften kann. Man hat nicht mehr so viel Angst vor Sexualität und vor devianten Phantasien.
Gleich anfügen muss ich aber - vielleicht hab ich die schon erwähnt... - dass ich mir einbilde, über eine Studie gelesen zu haben, die zeigt, dass reale sexuelle Gewalt abnimmt, je freier die Fiktion sexueller Gewalt zugänglich ist. Wenn ich Zeit hab, muss ich das nochmal suchen.
_________________ "Ich schreibe, was ich sehe: Die endlose Prozession zur Guillotine." ~ de Sade
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Ahriman Tattergreis
Anmeldungsdatum: 31.03.2006 Beiträge: 17976
Wohnort: 89250 Senden
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(#1333400) Verfasst am: 23.07.2009, 23:47 Titel: |
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Teliamed hat folgendes geschrieben: | Kann ich mir echt nicht vorstellen, dass es sowas gibt. |
Glaub es nur. Allerdings mußt du bedenken, daß zwischen so einem Traum und der Realität himmelweite Unterschiede liegen. Und bei "Gewalt" gibt es ja auch noch beträchtliche Abstufungen von der subtilen feinen Überlegenheit bei kultivierten SM-Paaren bis herunter zur brutalen Machtausübung des Herrn Marquis.
Ich nehme doch an, daß du weißt, was eine Domina ist und daß es "Domina-Studios" gibt, die sogar ganz gut laufen. Warum kannst du dir nicht vorstellen, daß sowas auch in umgekehrter Richtung möglich ist? Im einschlägigen Handel gibt es nicht nur "Peniskerker", sondern auch den bösen alten Keuchheitsgürtel. Falls du mal nach Hamburg kommst: Auf der Reeperbahn gibt es ein großes Geschäft, da wird auf zwei Etagen SM-Spielzeug angeboten. Da bleibt dem "Normalo" glatt die Spucke weg.
_________________ ...und suche mich nicht in der Unterführung...
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Querdenker registrierter User
Anmeldungsdatum: 27.05.2005 Beiträge: 1830
Wohnort: NRW
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(#1333469) Verfasst am: 24.07.2009, 07:12 Titel: |
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Teliamed hat folgendes geschrieben: | Kann ich mir echt nicht vorstellen, dass es sowas gibt. |
Da gabs vor ein paar Tagen ne News, die das Thematisiert hat:
liebezweipunktnull.at hat folgendes geschrieben: | Eva Longoria hat (...) bekannt (...): Sie steht auf sanften Fesselsex mit Seidentüchern. Und damit ist sie längst nicht allein:
92 Prozent der Frauen, aber nur 54 Prozent der Männer träumen von spielerischen Fesselungen und soften SM-Inszenierungen. |
Als Quelle wird folgendes angegeben:
liebezweipunktnull.at hat folgendes geschrieben: | Diese Ergebnisse stammen aus einer Umfrage der Partner- und Seitensprungagentur www.lovepoint.de über erotische Phantasien unter 1.288 Teilnehmern. |
Na gut, das ist zwar nicht ganz das, was hier angesprochen wurde, aber es hat die Tendenz in diese Richtung.
_________________ Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, es müsse sich dabei doch auch was denken lassen. (Johann Wolfgang von Goethe)
Die Bibel: Ein Buch, sie zu knechten, sie alle zu finden, Ins Dunkel zu treiben und ewig zu binden (frei nach Tolkien)
Reinhard Mey - Sei wachsam (live)
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Telliamed registrierter User
Anmeldungsdatum: 05.03.2007 Beiträge: 5125
Wohnort: Wanderer zwischen den Welten
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(#1333493) Verfasst am: 24.07.2009, 09:35 Titel: |
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@Querdenker
Danke für den Verweis
Na ja, so ein "sanftes Fesselspiel" mit vorheriger gegenseitiger Vereinbarung ist doch noch etwas anderes als eine Kopfkino-Vergewaltigung oder gar genossenes Rösten am Spieß.
Vielleicht ist meine Vorstellung, dass in so einem von @Ahriman erwähnten Forum von der Zahl der "Frauen" noch einmal etliche männliche Fakes abzuziehen sind, auch nicht mehr gegenwärtigen Verhältnissen entsprechend.
Von einem Domina-Studio habe sogar ich etwas gehört und dass sich in der SM-Szene auch Frauen austoben - aber eben jeweils im Einverständnis.
Irgendwann hatte ich auch einmal einen amerikanischen Film mit einem Fesselspiel und letalem Ausgang für den Mann gesehen, in dem eine ziemlich lang gewachsene Agentin eine Rolle spielte (Titel vergessen); die mich am meisten darin erschreckende Szene war allerdings die ins Auto praktizierte Giftschlange, weil ich diese Viehcher auf den Tod nicht ab kann, auch nicht im Film. Und die Schlange ist auch, wie wir aus der Bibel wissen, traum-symbolbeladen.
@tiny
Ich glaube Dir das schon mit dem Interesse an der Lektüre, wenngleich ich mir wiederum nicht vorstellen kann, wie man sich bei de Sade amüsiert, höchstens vielleicht in dem Sinne: "Der Schriftsteller hat ja einen fürchterlichen Knall weg!" Na ja, eben andere Zeitläufte, wobei @Ahriman mutig mit der Zeit Schritt hält.
Das mit dem Ehemann und dem falschen Parfüm ist eine Mordsstory. Ich wechsele auch manchmal unbeabsichtigt die Duftsorte, wenn ich im Dunkeln nach irgendeiner gerade greifbaren Flasche angele, aber meine Frau deutet es auch so richtig (wie man auch manchmal zwei paar verschiedene Schuhe anziehen kann, wobei davon auszugehen ist, dass man zu Hause dann eben noch ein Paar davon hat), aber so ...
Du bist also offenbar studienhalber an den Umgang mit menschlichen Körpern gewöhnt. Wie etliche meiner Rezensionen unter der Rubrik "Kultur" im FGH zeigen, beschäftige ich mich eher viel mit den tugendsamen und anmuthigen Frauen des 18. Jahrhunderts, so dass ich mich bald frage, was ich eigentlich im de Sade-Thread verloren habe. Denn ganz so ahnungslos ist die Justine ja doch nicht, nachdem sie ein paarmal brav mitgemacht hat.
Jedenfalls sehe ich das so wie mehrere männliche Exemplare der Gattung homo sapiens hier, dass für unsere Begriffe Sexualität und - Lustgewinn aus Erniedrigung durch unerwünscht zugefügte Gewalt (schöne Substantivitis) nicht miteinander vereinbar sind.
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astarte Foren-Admin

Anmeldungsdatum: 13.11.2006 Beiträge: 46545
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(#1333498) Verfasst am: 24.07.2009, 09:53 Titel: |
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Mir reicht jedenfalls der Thread hier aus, und ich weiß, dass ich mir die Lektüre der Bücher ersparen werde.
_________________ Tja
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Ahriman Tattergreis
Anmeldungsdatum: 31.03.2006 Beiträge: 17976
Wohnort: 89250 Senden
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(#1333508) Verfasst am: 24.07.2009, 10:35 Titel: |
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Ja, Astarte, an Unterhaltungswert bieten de Sades Schriften kaum etwas. Ich habe das Zeug teilweise schon gelesen, als es noch verboten war und konnte darum oft genug feststellen, daß die Leute keine Ahnung hatten, die darüber redeten.
Teliamed, dir empfehle ich "Die Geschichte der O" von Pauline Reage. Müßte es billig antiquarisch geben. Es wird dich erstaunen, wie weit Frauen bei einverständlichem SM-Sex gehen können. Den Film kannst du dir sparen, der ist Mist. Immerhin wurde das Buch schon 1954 veröffentlicht, da gab es bei uns noch einen "Volkswartbund", der solche Sachen am liebsten verbrannt hätte, und auch bei den Franzosen war man damals wesentlich verklemmter, als man bei uns gemeinhin glaubte. Mehr über die Autorin bei Wiki unter "Reage".
Was die " tugendsamen und anmuthigen Frauen des 18. Jahrhunderts" betrifft, solltest du immer das kluge Wort Wilhelm Buschs beachten:
Tugend ist die meiste Zeit
nur Mangel an Gelegenheit.
_________________ ...und suche mich nicht in der Unterführung...
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Ieldra Außerirdischer Techno-Magier
Anmeldungsdatum: 12.12.2007 Beiträge: 156
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(#1333516) Verfasst am: 24.07.2009, 11:31 Titel: |
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tiny hat folgendes geschrieben: | Zitat: | Da sehe ich die Parallelen nicht. Strafe unterscheidet sich in einem wesentlichen Merkmal von Willkür: sie ist - jedenfalls in der Regel - durch Gesetze festgelegt und geraden eben *nicht* willkürlich, aus einer Laune heraus auferlegt. | Deine Definition von 'Willkür' ist etwas eng für mein Verständnis.
Ich halte es für Willkür, wenn ein Kinderschänder für drei Jahre in den Knast kommt, ein Musikpirat aber für zehn. Und ich halte es für Willkür, dass einige Bundesländer jeden unter 21 nach dem JGG verknacken, während andere zwischen 18 und 21 ein Gutachten machen lassen und wieder andere nur in Ausnahmefällen einen über 18 *nicht*dem StGB zuordnen. Und das sind nur zwei Beispiele aus dem Strafgesetz. Wenn wir uns den Steuergesetzen zuwenden, wird es richtig bunt.
Du sprichst auch von der Antizipierbarkeit von Strafe, aber in meinen Augen rechtfertigt es Strafe nicht, dass man vorher wusste, dass sie auf einen zukommen kann. |
Das sind zwei unterschiedliche Probleme. Zunächst zur Willkür. Staatliche Willkür ist das Gegenteil von Rechtssicherheit. Diese wiederum bedeutet, dass man ungefähr wissen kann, worauf man sich einlässt. Persönliche Willkür ist das Gegenteil von Verlässlichkeit. Es gibt wenig, was Vertrauen mehr unterminiert, als unvorhersehbares Verhalten, bereits dann, wenn es nicht bedrohlich ist. Und auf Vertrauen basiert letztlich jede Gesellschaftsordnung zu einem gewissen Grad.
Die Legitimation von Strafe ist ein davon unabhängiges Problem. In der Regel sind wir uns ja darüber einig, dass für gewisse Vergehen Konsequenzen erzwungen werden müssen, egal ob das man das nun als Strafe, Resozialisierung, Heilung etc. verstehen will. Ich halte die übertriebene Bestrafung von Eigentumsdelikten im Vergleich zu Vergehen, die Schaden an Personen verursachen, auch für ungerecht und kurz gesagt, einen Schandfleck unserer Rechtssprechung. Sie ist interessengeleitet und wäre vermutlich bei einer Direktabstimmung nicht mehrheitsfähig, aber es handelt sich nicht um staatliche Willkür.
Zitat: | Ich bin der Meinung, dass es keine böse Menschen gibt, sondern nur kranke. Kranke Menschen zu verurteilen, bringt nichts (Quarantäne muss natürlich trotzdem sein). Aber wenn man sich die Mühe macht, sie zu verstehen und Mitgefühl selbst mit den perversesten, empathielosesten Schwergestörten zu entwickeln, kann man an der Krankheit anderer wachsen. |
Ich halte diese Annahme für einen Verstoß gegen die Menschenwürde. Ich will, verdammt noch mal, die Freiheit haben, Böse sein zu können. Würde ich in voller geistiger Klarheit einen Mord begehen, dann wäre es für mich beleidigend, als krank angesehen zu werden - wiewohl praktisch zur Vermeidung von Strafe. Totalitäre Regime haben das Paradigma "Straftäter sind krank" systematisch benutzt, um ihren Begriff von Normalität als Norm durchzusetzen. Kurz gesagt, Verrückte haben weniger Menschenrechte als Verbrecher. Letztere nimmt man zumindest ernst.
Ich will nicht abstreiten, dass es Grenzfälle gibt, wo der Begriff "Krankheit" angemessen erscheint, aber ich wäre damit lieber sehr vorsichtig. Wer weiß, wo wir sonst landen.
Wo wir schon bei der Terminologie sind, ich meine auch, dass es weder "Böse Menschen" noch "Gute Menschen" gibt, sondern dass jeder Mensch prinzipiell zu allem fähig ist, im Guten wie im Bösen. Ich stimme ebenfalls zu, dass es sinnvoll ist, all diese Facetten zu verstehen. Aber Verstehen und Verständnis sind verschiedene Dinge. Um Verständnis aufbringen zu können, muss man die Dinge in sich selbst finden können. Es gibt jede Menge interessante und unerfreuliche Dinge, die ich mir selbst finde, aber eben auch solche, die ich nicht finde. Da endet dann das Verständnis.
Zitat: | Etwas Dummes, Falsches, Grausames aus einem Affekt heraus zu tun, halte ich persönlich für sehr verständlich.
Aber bei ruhigem Blut, einfach nur aus Prinzip, einem Menschen Gewalt anzutun? Das bedeutet Todesstrafe und Körperstrafen! Und so etwas würde ich nicht gutheißen, nicht solange ich ruhig und emotional distanziert bin. Denn wenn ich ruhig bin, spricht mein moralisches Gespür die Urteile, und das lehnt jede Form von realer Gewalt ab. |
Nur handeln die Charaktere in de Sades Büchern eben nicht "im Affekt", es ist nicht so, oder zumindest scheint nicht so, dass sie keine Kontrolle über ihre Handlungen haben, sondern sie erheben die Lust zum Handlungsprinzip, auch wenn sie auf Kosten anderer geht. Es wird gar nicht erst der Versuch unternommen, einen anderen Weg zu gehen.
Im wirklichen Leben bin ich zwar gegen die Todesstrafe, weil ich sie für in der Praxis nicht auf moralisch vertretbare Weise durchführbar halte, und Körperstrafen sind entwürdigend. Aber ich bin im Großen und Ganzen kein Pazifist. Ich halte es für vertretbar, beispielsweise gegen Psychoterror mit Gewalt vorzugehen, auch mit Berechnung. Und was ich persönlich mit Erpressern tun würde, das beschreibe ich am besten hier nicht (aber OK, da kommt dann wieder die Leidenschaft ins Spiel).
_________________ Faith is the truth of passion. Since no passion is more true than another, faith is the truth of nothing – aus “The Darkness that comes before”, von R. Scott Bakker
When we remember we are all mad, the mysteries disappear and life stands explained. - Mark Twain
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zelig Kultürlich
Anmeldungsdatum: 31.03.2004 Beiträge: 25405
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(#1333617) Verfasst am: 24.07.2009, 15:16 Titel: |
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Das freiwillige Spiel von Macht und Ohnmacht, Kontrolle und Kontrollabgabe kann sexuelle Stimulanz für beide Beteiligte innerhalb einer gleichberechtigten Partnerschaft bedeuten. Das scheint mir bei Gewalt nicht so zu sein. Gewalt kann sexualisert sein, geht aber nur in eine Richtung. Machterlangung mit den Mitteln der Gewalt ist kein fluktuierendes Spiel mit wechselnden Rollen.
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fox registrierter User
Anmeldungsdatum: 24.02.2004 Beiträge: 327
Wohnort: Schweiz
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kalkant registrierter User
Anmeldungsdatum: 16.08.2005 Beiträge: 698
Wohnort: München
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(#1336236) Verfasst am: 30.07.2009, 10:23 Titel: |
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fox hat folgendes geschrieben: | AntagonisT hat folgendes geschrieben: | Ich habe „Justine oder vom Missgeschick der Tugend“ und „Juliette oder die Vorteile des Lasters“ gelesen und - man, hat mich das wuschig gemacht! |
Was bedeutet "wuschig"...? |
Wuschig ist ein relativ neues Wort mit einer etwas uneinheitlichen Bedeutung. Es kann u.a. bedeuten: nervös, konfus, geil.
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vrolijke Bekennender Pantheist

Anmeldungsdatum: 15.03.2007 Beiträge: 46732
Wohnort: Stuttgart
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(#1336244) Verfasst am: 30.07.2009, 10:36 Titel: |
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Ahriman hat folgendes geschrieben: | Ja, Astarte, an Unterhaltungswert bieten de Sades Schriften kaum etwas. Ich habe das Zeug teilweise schon gelesen, als es noch verboten war und konnte darum oft genug feststellen, daß die Leute keine Ahnung hatten, die darüber redeten.
Teliamed, dir empfehle ich "Die Geschichte der O" von Pauline Reage. Müßte es billig antiquarisch geben. Es wird dich erstaunen, wie weit Frauen bei einverständlichem SM-Sex gehen können. Den Film kannst du dir sparen, der ist Mist. Immerhin wurde das Buch schon 1954 veröffentlicht, da gab es bei uns noch einen "Volkswartbund", der solche Sachen am liebsten verbrannt hätte, und auch bei den Franzosen war man damals wesentlich verklemmter, als man bei uns gemeinhin glaubte. Mehr über die Autorin bei Wiki unter "Reage".
Was die " tugendsamen und anmuthigen Frauen des 18. Jahrhunderts" betrifft, solltest du immer das kluge Wort Wilhelm Buschs beachten:
Tugend ist die meiste Zeit
nur Mangel an Gelegenheit. |
Kann ich nur teilweise zustimmen. Den habe ich zweimal gesehen. Das erste mal als er frisch rausgekommen war in Belgien. Original französisch mit Untertittel. Ich war ganz begeistert.
Das zweite mal vor ein paar jahre im Fernsehen. Ich war so was von entäuscht. Wobei ich nicht weiss, ob es der kleine Bildschirm, die Synchronisation oder die Verklärung aus der Vergangenheit war, die meine Auffassung veränderte.
Eine Figur sprach z.B. Französisch mit einem schweren englishem Akzent. Die Figur konnst echt knicken, in der Synchronisation vol daneben.
_________________ Glück ist kein Geschenk der Götter; es ist die Frucht der inneren Einstellung.
Erich Fromm
Sich stets als unschuldiges Opfer äußerer Umstände oder anderer Menschen anzusehen ist die perfekte Strategie für lebenslanges Unglücklichsein.
Grenzen geben einem die Illusion, das Böse kommt von draußen
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NiH xenomorph
Anmeldungsdatum: 02.04.2009 Beiträge: 812
Wohnort: Duisburg
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(#1336516) Verfasst am: 30.07.2009, 19:07 Titel: |
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Ahriman hat folgendes geschrieben: |
Ich habe einige Zeit in einem Gynophagen-Forum mitgelesen und da auch gewaltig gestaunt. Da sind tolle Geschichten zu lesen gewesen, die von Frauen geschrieben wurden. Die Vorstellung, lebendig auf einen Bratspieß gesteckt zu werden macht viele Frauen an.
Allerdings wird da auch ausdrücklich immer wieder betont, daß das alles nur "Kopfkino" ist. |
Habe vorhin aus reinem Interesse mal nach einigen einschlägigen Begriffen gesucht und bin auch sehr schnell fündig geworden. Eigentlich hätte ich so was in irgendwelchen "Underground"-Foren erwartet, aber teilweise wird das ganz offen in diversen Newsgroups diskutiert. Was jetzt Fake ist und was nicht, ist schwierig zu sagen, aber manche scheinen es schon ernster zu nehmen und es nicht nur bei "Kopfkino" belassen zu wollen.
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blackdahlia Ungläubige Katholikin
Anmeldungsdatum: 05.08.2009 Beiträge: 66
Wohnort: Europa
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(#1349385) Verfasst am: 26.08.2009, 01:50 Titel: |
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Ich suche ein Zitat von de Sade, in dem es sinngemäß heisst, er wünschte, es gäbe einen Gott,
damit er ihm lästern könne.
Wer kann meinen Schmerz lindern?!
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tiny Feminella breva
Anmeldungsdatum: 29.12.2008 Beiträge: 170
Wohnort: Nürnberg
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(#1391738) Verfasst am: 14.11.2009, 15:46 Titel: |
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Ieldra hat folgendes geschrieben: | Die Legitimation von Strafe ist ein {von der Frage der Willkür} unabhängiges Problem. In der Regel sind wir uns ja darüber einig, dass für gewisse Vergehen Konsequenzen erzwungen werden müssen, egal ob das man das nun als Strafe, Resozialisierung, Heilung etc. verstehen will. Ich halte die übertriebene Bestrafung von Eigentumsdelikten im Vergleich zu Vergehen, die Schaden an Personen verursachen, auch für ungerecht und kurz gesagt, einen Schandfleck unserer Rechtssprechung. Sie ist interessengeleitet und wäre vermutlich bei einer Direktabstimmung nicht mehrheitsfähig, aber es handelt sich nicht um staatliche Willkür. | Was ist denn daran *nicht* Willkür, wenn eine Rechtsprechung eine Staffelung von Strafen festlegt, die weder bei einer Direktabstimmung durchkäme, noch die Hierarchie der verletzten Rechtsgüter widerspiegelt?
Willkür, so wie ich den Begriff verstehe, ist das Gegenteil von kausal zwingender Notwendigkeit. Es gibt eine notwendige Beziehung zwischen einer Tat, die erhebliche Rechtsgüter verletzt, und dem Umstand, dass einem Menschen, der eine solche Verletzung durchgeführt hat, für einen Zeitraum X sein Recht auf Freiheit verliert. Diese Beziehung besteht aber *nur*, wenn 1. der Freiheitsentzug einzig mit der Motivation geschieht, die Allgemeinheit von dem Täter zu schützen, 2. während des Freiheitsentzuges gezielt Schritte unternommen werden, die Gefährlichkeit des Täters für die Allgemeinheit nachhaltig zu reduzieren und 3. die Dauer von Zeitraum X nur an den entsprechenden Fortschritten des Täters festgemacht wird. Jede andere Regelung von 'Strafe' ist meiner Ansicht Willkür, weil eben die Notwendigkeit in der Beziehung Tat-Strafe fehlt.
Zitat: | Ich halte diese Annahme für einen Verstoß gegen die Menschenwürde. Ich will, verdammt noch mal, die Freiheit haben, Böse sein zu können. Würde ich in voller geistiger Klarheit einen Mord begehen, dann wäre es für mich beleidigend, als krank angesehen zu werden - wiewohl praktisch zur Vermeidung von Strafe. | Aber ist es denn Zeichen einer gesunden Psyche, eines gesunden Verstandes und einer gesunden Beziehung einer Person zu ihren Mitmenschen und der Welt, wenn sie nicht nur das Töten eines anderen Menschen als Mittel zur Erreichung eines Ziels akzeptiert, sondern auch noch darauf besteht, dass das auf jeden Fall ein gesundes Verhalten ist und in Beziehung zu ihrer Menschenwürde steht?
Zitat: | Totalitäre Regime haben das Paradigma "Straftäter sind krank" systematisch benutzt, um ihren Begriff von Normalität als Norm durchzusetzen. Kurz gesagt, Verrückte haben weniger Menschenrechte als Verbrecher. Letztere nimmt man zumindest ernst. | Dass ein Paradigma missbraucht werden kann, bedeutet nicht, dass es falsch ist (Argument from Consequence).
In unserer freien, demokratischen Kultur haben 'Verrückte' die gleichen Rechte wie 'Nicht-Verrückte'. Die in der zivilen Kultur zu findenden Vorbehalte intellektuell oder psychisch beeinträchtigten Menschen gegenüber finden sich im übrigen *nicht* in der professionellen Sicht auf die Beeinträchtigten wieder, und auch nicht in der Gesetzgebung oder Rechtsprechung wenn es um die Straftaten von Beeinträchtigten geht. Im Gegenteil, es sind viele Mechanismen eingerichtet worden, die die Rechte Beeinträchtigter schützen, und diesen Schutz gegen Missbrauch durch Tätern absichern, deren Beeinträchtigung nach derzeitigem Stand keine Einweisung in die Psychiatrie o.ä. rechtfertigt.
Ich sollte vielleicht definieren, was ich mit 'böse' meine und was mit 'krank'.
'Böse' ist alles, was unnötig schadet. 'Krank' ist alles, was dazu führt, dass jemand unnötig schadet.
Auch gibt es Fälle, in denen das 'kranke' Verhalten Einzelner ein Symptom dafür ist, dass die Gesellschaft 'krank' ist, z.B. in der Form, dass sie manchen Menschen nicht ausreichend versorgen kann und diese dann stehlen, um sich zu ernähren, bzw. ihre Statusbedürfnisse zu befriedigen.
Macht das die Sache irgendwie klarer?
'Krank' bedeutet nicht zwingend, dass jemand nicht weiß, was er tut, sondern vor allem, dass jemand ein Ziel auf einem Weg zu erreichen versucht, der anderen Menschen unnötigen Schaden zufügt. Und es sei mal dahingestellt, ob das jetzt daran liegt, dass der Mensch ein dysfunktionales Menschen- und Gesellschaftsbild als Grundlage seiner Entscheidungsfindung verwendet, oder dass er einfach keine andere Möglichkeit hat, seinem eigenen Lebensentwurf nahe zu kommen oder die notwendigen materiellen Mittel zu erlangen, um einen für ihn angenehmen sozialen Status zu bekommen. Rechtsverletzungen bedeuten immer, dass da etwas schief läuft, entweder im Menschen oder in der Gesellschaft. Und wenn in einem menschlichen Organismus etwas schief läuft, nennt man das gewöhnlich 'Krankheit'.
Zitat: | Wo wir schon bei der Terminologie sind, ich meine auch, dass es weder "Böse Menschen" noch "Gute Menschen" gibt, sondern dass jeder Mensch prinzipiell zu allem fähig ist, im Guten wie im Bösen. | Abhängig von dem Umständen. Kein gesunder Mensch würde gehorchen, wenn jemand auf der Straße zu ihm käme, ihm eine Knarre geben und sagen würde 'Erschieß mal die Oma da.' Hält man dem Menschen dabei eine Knarre an den Kopf, bedroht seine Familie, bereitet ihn durch bestimmte Maßnahmen auf Gehorsam vor o.ä. sieht das schon wieder ganz anders aus.
Und dieser Kontext ist es, der die moralische Wertigkeit des Verhaltens bestimmt. Jemanden zu töten, um nicht selbst getötet zu werden, oder um seine Familie zu schützen, ist nicht böse, sondern ein kranker Menschen oder ein krankes System erzwingt dieses Verhalten. Es ist auch nicht böse, jemanden zu töten, den man für die Wurzel allen Übels in der Welt hält. Es ist ein krankes Mindset, das einem zu dem Schluss geführt hat, dass eine bestimmte Gruppe Menschen die Wurzel allen Übels ist, und dass es der beste Weg ist, das Problem zu beheben, indem man diese Menschen umbringt.
Zitat: | Ich stimme ebenfalls zu, dass es sinnvoll ist, all diese Facetten zu verstehen. Aber Verstehen und Verständnis sind verschiedene Dinge. Um Verständnis aufbringen zu können, muss man die Dinge in sich selbst finden können. Es gibt jede Menge interessante und unerfreuliche Dinge, die ich mir selbst finde, aber eben auch solche, die ich nicht finde. Da endet dann das Verständnis. | Vielleicht ist das nur eine Frage der Vorstellungskraft.
Zitat: | Etwas Dummes, Falsches, Grausames aus einem Affekt heraus zu tun, halte ich persönlich für sehr verständlich.
Aber bei ruhigem Blut, einfach nur aus Prinzip, einem Menschen Gewalt anzutun? Das bedeutet Todesstrafe und Körperstrafen! Und so etwas würde ich nicht gutheißen, nicht solange ich ruhig und emotional distanziert bin. Denn wenn ich ruhig bin, spricht mein moralisches Gespür die Urteile, und das lehnt jede Form von realer Gewalt ab. Zitat: | Nur handeln die Charaktere in de Sades Büchern eben nicht "im Affekt", es ist nicht so, oder zumindest scheint nicht so, dass sie keine Kontrolle über ihre Handlungen haben, sondern sie erheben die Lust zum Handlungsprinzip, auch wenn sie auf Kosten anderer geht. Es wird gar nicht erst der Versuch unternommen, einen anderen Weg zu gehen. |
| De Sade schreibt eine Gesellschaftskritik, die sich gegen die Strafgeilheit der Obrigen richtet, die sich bewusst und absichtlich daran befriedigen, ihre Widersacher zu quälen und ihre Überlegenheit zu demonstrieren.
De Sade hat nichtmal das Todesurteil für die Frau unterschrieben, die seinerzeit dafür gesorgt hat, dass er in der Bastille landet.
Zitat: | Im wirklichen Leben bin ich zwar gegen die Todesstrafe, weil ich sie für in der Praxis nicht auf moralisch vertretbare Weise durchführbar halte, und Körperstrafen sind entwürdigend. Aber ich bin im Großen und Ganzen kein Pazifist. Ich halte es für vertretbar, beispielsweise gegen Psychoterror mit Gewalt vorzugehen, auch mit Berechnung. Und was ich persönlich mit Erpressern tun würde, das beschreibe ich am besten hier nicht (aber OK, da kommt dann wieder die Leidenschaft ins Spiel). | Da ist jetzt aber die Frage, was willst du mit diesem Vorgehen erreichen, und was erreichst du tatsächlich?
Erreichst du, dass der Täter erkennt, dass er einen Fehler gemacht hat, dass er anerkennt, dass er ein Rechtsgut verletzt hat, dass er anerkennt, dass er das in Zukunft nicht noch einmal tun sollte? Oder erreichst du, dass sich eine Hierarchie etabliert, in der es den Underdog gibt, der das Gefühl hat, sich gegen die scheinheilige Gewalt der Obrigkeit wehren zu müssen, indem er auf ihren ach so edlen Prizipien herumtrampelt?
Du darfst nicht vergessen, deine Reaktion aus der Sicht des Täters zu betrachten, und das Phänomen der Reaktanz ist ganz und gar nicht dein Freund.
_________________ "Ich schreibe, was ich sehe: Die endlose Prozession zur Guillotine." ~ de Sade
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