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kolja der Typ im Maschinenraum

Anmeldungsdatum: 02.12.2004 Beiträge: 16631
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(#574435) Verfasst am: 29.09.2006, 09:22 Titel: |
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AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Er sagt sogar explizit, dass ein Inderminismus alleine "keine hinreichende Begründung für Willens- oder Entscheidungsfreiheit" sei. |
Na und? Das sagt er einige Seiten weiter unten. Gerade deswegen wird völlig unverständlich, warum er weiter oben noch schwurbelnderweise versuchte zu zeigen, dass deterministisches Verhalten bewusster neuronaler Vorgänge unbewiesen und unbeweisbar wäre. Der Typ ist ein Dualist und Inkompatibilist, er versteckt es nur halbwegs geschickt.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Meinst Du die Zitate von Roth und Singer seien nicht richtig? |
Sie sind aus dem Kontext herausgerissen, in dem die Begriffe präziser erklärt wurden, so dass sich die Begriffe leichter fehlinterpretieren lassen. Eigentlich könnte man dem Autor mit einiger Berechtigung die Dekonstruktion von Strohmännern vorwerfen. Die gleiche Taktik habe ich Dir schon ein paar Seiten früher angekreidet und bin in diesem Beitrag darauf eingegangen.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Roth scheint hier unter dem "Ich" nur das bewusste Ich zu verstehen (sagt das aber nicht explizit) |
Klaro, wenn man die Stellen wegschneidet, in denen er es explizit gesagt hat ...
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | und zweitens behauptet er, dass die Entscheidungen des bewussten Ichs nicht von diesem getroffen würden, sondern vom limbischen System und von diesem wiederum dem bewussten Ich nachträglich unbemerkt Pseudogründe untergeschoben würden. Er berücksichtigt keine Rückkopplung zwischen bewussten und unbewussten Vorgängen im Gehirn, was mir sehr seltsam vorkommt. |
Oh, natürlich berücksichtigt er diese Rückkopplungen, er geht auch ausführlich darauf ein, warum seine Schlussfolgerung im Wesentlichen dennoch Bestand haben. Natürlich müsste man seine Erklärungen komplett gelesen haben, um das zu bemerken.
Dieser Typ argumentiert jedenfalls unredlich, denn seine Kritik ist bereits entkräftet, wenn man die kritisierten Autoren komplett statt nur auszugsweise liest, und meinen Vorwurf, heimlich einen Dualismus zu vertreten, erhalte ich aufrecht. Wie gesagt, er ist Theologe und schreibt für ein christliches Blättchen, er muss doch für seine Schäfchen irgendwie den Seelenglauben retten ...
_________________ Hard work often pays off after time, but laziness always pays off now.
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enpassant registrierter User
Anmeldungsdatum: 20.07.2005 Beiträge: 522
Wohnort: leipzig
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(#574581) Verfasst am: 29.09.2006, 14:35 Titel: |
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AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Eine Ursache wird normalerweise materialistisch gesehen, ein Grund ist ideell. Die Ursache, warum ich hier tippe, sind neuronale Aktionen in meinem Gehirn, die meine Finger diese Sätze eintippen lassen. Der Grund, warum ich hier schreibe, ist, dass mich das Thema interessiert. |
Aha, und das "Ideelle" ist etwas gaaaanz anderes als das "Materialistische"??? Ein Schelm, wer da nicht die transzendenten Spekulationen an der Hintertür heftig klopfen hört. Oder glaubst du etwa, das "Ideelle" wäre irgend etwas anderes ("besonderes") als ein Teil des Materiellen samt aller seiner Gesetzmäßigkeiten?
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Kann eine Überlegung, bzw. Abwägung der Grund für eine Handlung sein? |
Lach! Bei dir ist das wohl nicht so???
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Eine Kugel hat keinen Grund, warum sie diese Bahn nimmt, es gibt aber eine Ursache dafür, nämlich den Stoß, der ihr versetzt wurde. Ein Mensch hingegen hat für willentliche bewusste Entscheidungen auch Gründe. |
Da ist schon wieder die willkürlich und unsinnige Unterscheidung zwischen Ursache und Grund. Dass der Stoß einer Kugel ein ungleich simplerer Vorgang ist als das Zusandekommen eines menschliche Willensaktes bestreitet ja doch niemand. Dass Letzteres allerdings nach grundsätzlich anderen Gesetzmäßigkeiten zustande käme als Ersteres, nämlich denen von hinreichenden Ursachen/Gründen für notwendige Folgen/Wirkungen ist absurd. Genau darauf aber läuft die eigentümliche Begriffsirreführung hinaus, welche zwischen Ursache (als der bloß materiellen Welt angehörig) und Grund (als der vorgeblich völlig anders funktionierenden "Ideellen Welt") unterscheiden zu können vorgibt.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Hätte der Mensch sich aber vorher anders entschieden, dann hätte er anders gehandelt. Hier muss die oben erwähnte Kugel passen, da sie sich überhaupt nicht entscheiden kann. |
Die Aussage "wenn der Mensch sich vorher anders entschieden hätte" ist völlig gleichbedeutend mit der Aussage "wenn die Kugel anders gestoßen worden wäre"!
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | enpassant hat folgendes geschrieben: | Selbst das bewusste Ich, die denkende, urteilende und entscheidende Individualität ist ja doch nichts anderes als eine Funktion des Gehirnes! |
Na und? Was schließt Du daraus? |
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Was genau sind denn eigentlich nun diese ominösen "einzig möglichen Schlussfolgerungen"? |
Dass dein Bewusstsein, deine Individualität, deine Emotionen, deine Überlegungen, deine Entscheidungen - also dein ganzes Ich nichts anderes ist als eine Funktionserscheinung der Materie und ihrer Daseins- und Wirkungsgesetze - und deine Annahme, du hättest dich in einem gegebenen Fall auch anders entscheiden können als du es getan hast, eine große Täuschung!
Wenn ich nun aber Bemerkungen wie diese lese: AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Es ist einfach ziemlich merkwürdig, zu sagen, nicht "wir" würden handeln, sondern "unser Gehirn" würde handeln. |
...dann wird klar, dass du diese Schlussfolgerung, die eigentlich ganz unausweichlich auf der Hand liegt, nicht ziehen magst, weil dir dann die Einbildung deines werten "ICHs", als etwas Besonderm, Übermateriellem u. dgl. samt den damit verbundenen liebgewordenen Bewertungs- undUrteilsmaßstäben entglitte - und du das eben auf keinen Fall willst, komme was da wolle. Ganz genau das Gleiche, was so "beeindruckend" in der Lücke-Abhandlung vorexerziert wird.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Falls Du dem widersprechen willst, dann hat sich diese Diskussion automatisch erübrigt, denn den dann unbegründeten Einwand kann ich leider nicht gelten lassen. |
...
_________________ Was das ewige Leben ist, weiß ich nicht - aber das gegenwärtige ist ein schlechter Spaß! (Voltaire)
Zuletzt bearbeitet von enpassant am 29.09.2006, 20:54, insgesamt einmal bearbeitet |
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AgentProvocateur registrierter User
Anmeldungsdatum: 09.01.2005 Beiträge: 7851
Wohnort: Berlin
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(#574719) Verfasst am: 29.09.2006, 20:13 Titel: |
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Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Hier ist übrigens mal ein Link zu einem PDF, das im Wesentlichen meinem Standpunkt entspricht. |
In dem Text wird doch durchwegs unmissverständlich von einem Gegensatz zwischen Determinismus und Freiheit gesprochen und deshalb gegen den Determinismus und nicht gegen den Inkompatibilismus, denn der Autor ja mit Singer/Roth teilt, argumentiert. |
Nein, das ist nicht so. Er bezweifelt lediglich den von Singer / Roth postulierten absoluten Determinismus. Er ist aber kein Indeterminist, sondern ein Kompatibilist.
Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | Abgesehen davon, dass ich denke, dass der Begriff der Freiheit höchstens in einer deterministischen Welt Sinn macht, dass der Determinismus also notwendige Bedinung für ein Freiheitsverständnis, das ich sinnvoll nennen würde, ist; kannst Du dem Text in dieser Hinsicht doch nicht ganz zustimmen? |
Stimmt, einer inkompatibilitischen Sicht kann ich nicht zustimmen, jedoch sehe ich eine solche bei dem Autoren nicht.
Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | Im Wesentlichen Deinem Standpunkt entsprechendes PDF hat folgendes geschrieben: | Auch wenn jeder mentale Prozeß mit einem neuronalen verbunden ist ...
... mentale Interventionen ...
Eine wissenschaftliche Theorie, die mentale Phänomene aus neuronalen Gegebenheiten erklären
möchte, ist selbst ein mentales Phänomen ... |
Weiter ein eindeutig dualistisches Verständnis von mentalen Vorgängen. Etwas, von dem Du Dich, wenn ich mich richtig erinnere, auch schon distanziert hast. |
Wie kommst Du bloß darauf, dass dies ein dualistisches Verständnis wäre? Der erste zitierte Satz widerspricht dieser Einschätzung doch ziemlich eindeutig.
Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | Zitat: | Wenn das Ich aber, wie Roth sagt, ein Traum oder eine Fiktion des Gehirns ist,
also keine Instanz einer letzten Verantwortlichkeit, dann kann auch das fiktionale
Ich-Konstrukt des Gehirns, das sich Auschwitz oder den Archipel Gulag ausgedacht
hat, nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Auch Ereignisse dieser Art werden
zu einer bloßen, schuldfreien Verkettung unglücklicher Umstände, insofern ein letzter
Schuldiger, das Ich nämlich, sich in die subjektlose Anonymität neurophysiologischer
Zwangsläufigkeiten zurückziehen kann. |
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Hm, Deinen Daumenhoch verstehe ich hier nicht. Dir ist schon klar, dass der Autor diese Sichtweise angreift? Er greift sie deswegen an, und ich stimme ihm hier zu, weil diese Interpretation keinen Raum mehr für ein abwägendes und urteilendes Ich mehr lässt. Negiert man ein solches Ich völlig, dann werden alle Argumente, alle Moral, alle rationalen gesellschaftlichen Übereinkünfte und überhaupt alle Erkenntnis, aus der Folgerungen gezogen werden, null und nichtig.
Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | Zitat: | Aber daß etwas so geschieht, wie es geschieht, bedeutet nicht, daß es nicht auch anders hätte geschehen können; denn das, was geschehen ist und das, was hätte geschehen können, bergen in sich Zufallsmomente. |
Hat Zufall irgend etwas mit Freiheit zu tun? Das siehst Du doch soweit ich weiss auch so, oder (dass aus Zufälligkeit in der Entstehung eines Willens nicht dessen Freiheit folgt)? |
Ja, Zufall hat etwas mit dem freien Willen zu tun und zwar derart, dass ein reiner Zufall einen solchen ausschließt. Du scheinst hier irgendwie davon auszugehen, dass der Autor das anders sieht. Mir ist aber nicht klar, wie Du darauf kommst.
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AgentProvocateur registrierter User
Anmeldungsdatum: 09.01.2005 Beiträge: 7851
Wohnort: Berlin
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(#574735) Verfasst am: 29.09.2006, 20:35 Titel: |
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kolja hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Er sagt sogar explizit, dass ein Inderminismus alleine "keine hinreichende Begründung für Willens- oder Entscheidungsfreiheit" sei. |
Na und? Das sagt er einige Seiten weiter unten. Gerade deswegen wird völlig unverständlich, warum er weiter oben noch schwurbelnderweise versuchte zu zeigen, dass deterministisches Verhalten bewusster neuronaler Vorgänge unbewiesen und unbeweisbar wäre. Der Typ ist ein Dualist und Inkompatibilist, er versteckt es nur halbwegs geschickt. |
Einen Nachweis darüber bist Du bisher schuldig geblieben.
kolja hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Meinst Du die Zitate von Roth und Singer seien nicht richtig? |
Sie sind aus dem Kontext herausgerissen, in dem die Begriffe präziser erklärt wurden, so dass sich die Begriffe leichter fehlinterpretieren lassen. Eigentlich könnte man dem Autor mit einiger Berechtigung die Dekonstruktion von Strohmännern vorwerfen. Die gleiche Taktik habe ich Dir schon ein paar Seiten früher angekreidet und bin in diesem Beitrag darauf eingegangen. |
Na schön, fassen wir mal diese Erkenntnisse zusammen: man kann das Ich nicht trennen von unbewussten Vorgängen und Prägungen. Es gibt keine Entscheidungen, Überlegungen, Abwägungen, die vom Unterbewusstein unabhängig getroffen werden können. Dem wird wohl kaum jemand wiedersprechen wollen.
kolja hat folgendes geschrieben: | Die Vorstellung von einem die Handlungen lenkenden "bewussten Ich" ist somit eine Überschätzung und Fehlinterpretation der tatsächlichen Funktionen des Bewusstseins. |
Falls jemand tatsächlich glauben sollte, es gäbe ein kleines Männches im Kopf, das er dann das "bewusste Ich" nennt und dann glauben sollte, dieses kleine Männchen könnte unabhängig von der realen Welt agieren, dann wäre diese Vorstelllung in der Tat ziemlich seltsam. Wer aber glaubt solches? Ich jedenfalls nicht.
kolja hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Roth scheint hier unter dem "Ich" nur das bewusste Ich zu verstehen (sagt das aber nicht explizit) |
Klaro, wenn man die Stellen wegschneidet, in denen er es explizit gesagt hat ... |
Gut, dann hat er das also explizit gesagt. Diese Darstellung ist es aber, die ich ihm ankreide, denn das Ich umfasst mMn selbstverständlich auch unbewusste Elemente. Eine Reduzierung des "Ichs" auf das "bewusste Ich" ist unsinnig und führt daher zu falschen Schlussfolgerungen.
kolja hat folgendes geschrieben: | Dieser Typ argumentiert jedenfalls unredlich, denn seine Kritik ist bereits entkräftet, wenn man die kritisierten Autoren komplett statt nur auszugsweise liest, und meinen Vorwurf, heimlich einen Dualismus zu vertreten, erhalte ich aufrecht. |
Du meinst, man darf über Aussagen (insbesondere auch deren Zusammenfassungen / Schlussfolgerungen) von Autoren nichts sagen, wenn man nicht deren komplettes Werk gelesen hat? Kommt mir irgendwie seltsam vor. Das nenne ich Immunisierung gegen Kritik.
kolja hat folgendes geschrieben: | Wie gesagt, er ist Theologe und schreibt für ein christliches Blättchen, er muss doch für seine Schäfchen irgendwie den Seelenglauben retten ... |
Wie gesagt, das ist ein unglaublich plumpes ad hominem und Deiner eigentlich nicht würdig...
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AgentProvocateur registrierter User
Anmeldungsdatum: 09.01.2005 Beiträge: 7851
Wohnort: Berlin
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(#574743) Verfasst am: 29.09.2006, 21:05 Titel: |
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enpassant hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Eine Ursache wird normalerweise materialistisch gesehen, ein Grund ist ideell. Die Ursache, warum ich hier tippe, sind neuronale Aktionen in meinem Gehirn, die meine Finger diese Sätze eintippen lassen. Der Grund, warum ich hier schreibe, ist, dass mich das Thema interessiert. |
Aha, und das "Ideelle" ist etwas gaaaanz anderes als das "Materialistische"??? Ein Schelm, wer da nicht die transzendenten Spekulationen an der Hintertür heftig klopfen hört. Oder glaubst du etwa, dass das "Ideelle" wäre irgend etwas anderes ("besonderes") als ein Teil des Materiellen samt aller seiner Gesetzmäßigkeiten? |
Es ist eine andere Ebene, eine andere Kategorie. Das Ideelle ist abhängig von dem Materiellen und existiert also nicht unabhängig davon. Trotzdem ist es für bestimmte Interpretationen eines Geschehens unabdingbar, auf die ideelle Ebene zurückzugreifen.
enpassant hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Eine Kugel hat keinen Grund, warum sie diese Bahn nimmt, es gibt aber eine Ursache dafür, nämlich den Stoß, der ihr versetzt wurde. Ein Mensch hingegen hat für willentliche bewusste Entscheidungen auch Gründe. |
Da ist schon wieder die willkürlich und unsinnige Unterscheidung zwischen Ursache und Grund. |
Hm, willkürlich? Das entspricht meinem Sprachverständnis. Wenn für Dich Ursache und Grund dasselbe ist, dann hast Du eben ein anderes Sprachverständnis. Deswegen ist mein Sprachverständnis aber noch lange nicht unsinnig. Wir können übrigens auch gerne statt "Grund" "Motiv" sagen, wenn Dir das lieber ist.
enpassant hat folgendes geschrieben: | Dass der Stoß einer Kugel ein ungleich simplerer Vorgang ist als das Zusandekommen eines menschliche Willensaktes bestreitet ja doch niemand. Dass Letzteres allerdings nach grundsätzlich anderen Gesetzmäßigkeiten zustande käme als Ersteres, nämlich denen von hinreichenden Ursachen/Gründen für notwendige Folgen/Wirkungen ist absurd. Genau darauf aber läuft die eigentümliche Begriffsirreführung hinaus, welche zwischen Ursache (als der bloß materiellen Welt angehörig) und Grund (als der vorgeblich völlig anders funktionierenden "Ideellen Welt") unterscheiden zu können vorgibt. |
Ja, ich sehe schon einen fundamentalen Unterschied zwischen diesen "Welten". Auf der einen Seite ist die materielle Welt, die unabhängig von uns existiert und auf der anderen Seite ist das Modell, das wir uns mithilfe unserer Wahrnehmungen von dieser Welt machen. Dazu müssen wir sie ordnen, kategorisieren und interpretieren.
enpassant hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Hätte der Mensch sich aber vorher anders entschieden, dann hätte er anders gehandelt. Hier muss die oben erwähnte Kugel passen, da sie sich überhaupt nicht entscheiden kann. |
Die Aussage "wenn der Mensch sich vorher anders entschieden hätte" ist völlig gleichbedeutend mit der Aussage "wenn die Kugel anders gestoßen worden wäre"! |
Nein, ist sie nicht. Sie wäre es nur dann, wenn Du keinen Unterschied sehen könntest zwischen einer Handlung eines Menschen, die er selber verursacht hat und einer Handlung, die von einem anderen Menschen verursacht wurde.
Beispiel: 1. Mensch B stößt Mensch C vor die U-Bahn. 2. Mensch A stößt Mensch B, worauf dieser auf Mensch C prallt und dieser fällt vor die U-Bahn.
enpassant hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Was genau sind denn eigentlich nun diese ominösen "einzig möglichen Schlussfolgerungen"? |
Dass dein Bewusstsein, deine Individualität, deine Emotionen, deine Überlegungen, deine Entscheidungen - also dein ganzes Ich nichts anderes ist als eine Funktionserscheinung der Materie und ihrer Daseins- und Wirkungsgesetze - und deine Annahme, du hättest dich in einem gegebenen Fall auch anders entscheiden können als du es getan hast, eine große Täuschung! |
Das Ich ist von der Materie direkt abhängig. Ohne Materie kein Ich. Das hat ja wohl noch niemand bestritten.
Kann ich mich anderes entscheiden, als ich mich entscheide? Die Frage wäre doch eher: warum sollte ich mich überhaupt anders entscheiden, wenn diese Entscheidung begründet war? Das wäre doch ziemlich sinnlos.
enpassant hat folgendes geschrieben: | Wenn ich nun aber Bemerkungen wie diese lese: AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Es ist einfach ziemlich merkwürdig, zu sagen, nicht "wir" würden handeln, sondern "unser Gehirn" würde handeln. |
...dann wird klar, dass du diese Schlussfolgerung, die eigentlich ganz unausweichlich auf der Hand liegt, nicht ziehen magst, weil dir dann die Einbildung deines werten "ICHs", als etwas Besonderm, Übermateriellem u. dgl. samt den damit verbundenen liebgewordenen Bewertungs- undUrteilsmaßstäben entglitte - und du das eben auf keinen Fall willst, komme was da wolle. Ganz genau das Gleiche, was so "beeindruckend" in der Lücke-Abhandlung vorexerziert wird. |
Beweis durch Behauptung. Wenig hilfreich.
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kolja der Typ im Maschinenraum

Anmeldungsdatum: 02.12.2004 Beiträge: 16631
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(#574886) Verfasst am: 30.09.2006, 01:06 Titel: |
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AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Nein, das ist nicht so. Er bezweifelt lediglich den von Singer / Roth postulierten absoluten Determinismus. |
Die beiden postulieren keinen absoluten Determinismus im von Dir sogenannten "philosophischen Sinne". In welchem Sinne der Begriff Determinismus in Bezug auf das Gehirn gemeint ist, wurde in diesem Forum bereits zigfach mit Deiner Beteiligung durchdiskutiert. Dieser Strohmann nervt langsam echt.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Er sagt sogar explizit, dass ein Inderminismus alleine "keine hinreichende Begründung für Willens- oder Entscheidungsfreiheit" sei. |
kolja hat folgendes geschrieben: | Na und? Das sagt er einige Seiten weiter unten. Gerade deswegen wird völlig unverständlich, warum er weiter oben noch schwurbelnderweise versuchte zu zeigen, dass deterministisches Verhalten bewusster neuronaler Vorgänge unbewiesen und unbeweisbar wäre. Der Typ ist ein Dualist und Inkompatibilist, er versteckt es nur halbwegs geschickt. |
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Einen Nachweis darüber bist Du bisher schuldig geblieben. |
Ich habe ein Argumentationsmuster bei ihm gezeigt (er bestreitet, bewusste Hirnprozesse seien ebenso deterministisch wie unbewusste), das meinem Verständnis nach aus Sicht eines Kompatibilisten völlig sinnlos sein müsste, und sich bei Kompatibilisten nach meiner bisherigen Lektüre auch sonst nicht findet. Das halte ich für ein deutliches Indiz. Deus Ex Machina hat weitere derartige Stellen gezeigt.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Na schön, fassen wir mal diese Erkenntnisse zusammen: man kann das Ich nicht trennen von unbewussten Vorgängen und Prägungen. Es gibt keine Entscheidungen, Überlegungen, Abwägungen, die vom Unterbewusstein unabhängig getroffen werden können. Dem wird wohl kaum jemand wiedersprechen wollen. |
Nö, dieser Zusammenfassung stimme ich nicht zu, weil sie wesentliche Details weglässt. Werde ich hier aber nicht wiederholen, kann ja jeder oben nachlesen.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Falls jemand tatsächlich glauben sollte, es gäbe ein kleines Männches im Kopf, das er dann das "bewusste Ich" nennt und dann glauben sollte, dieses kleine Männchen könnte unabhängig von der realen Welt agieren, dann wäre diese Vorstelllung in der Tat ziemlich seltsam. Wer aber glaubt solches? Ich jedenfalls nicht. |
Noch eine grobe Vereinfachung, keinen Bock auf diesen Diskussionsstil. Wenn Du meine Darstellung kritisieren willst, dann gehe konkret darauf ein, wenn sie unverständlich / unpräzise / unvollständig ist, dann stelle Fragen. Wenn Du sie auf Strohmanngröße eindampfen und dann zerfetzen willst, dann mach das mal alleine.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Roth scheint hier unter dem "Ich" nur das bewusste Ich zu verstehen (sagt das aber nicht explizit) |
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Klaro, wenn man die Stellen wegschneidet, in denen er es explizit gesagt hat ... |
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Gut, dann hat er das also explizit gesagt. Diese Darstellung ist es aber, die ich ihm ankreide, denn das Ich umfasst mMn selbstverständlich auch unbewusste Elemente. Eine Reduzierung des "Ichs" auf das "bewusste Ich" ist unsinnig und führt daher zu falschen Schlussfolgerungen. |
Roth reduziert nicht, sondern differenziert. Dein Vorwurf hängt sich nur an den dafür gewählten Begriffen auf und ignoriert die dazu gehörenden Erklärungen, also letztlich die Bedeutung, die die Begriffe im Kontext haben.
Aber abgesehen davon finde ich Deine Argumentation seltsam. Wenn Du Deinen Freiheitsbegriff vertrittst, dann spielt die Bewusstheit einer Entscheidung immer eine wesentliche Rolle für den Freiheitsgrad. Du hast auch mehrfach betont, dass für Dich das Bewusstsein einen wesentlichen Anteil an dem hat, was Du als Persönlichkeit bezeichnest. Wenn jedoch gezeigt werden soll, dass der bewusste Anteil gering ist und überwiegend falsch eingeschätzt wird, dann weichst Du dem aus, indem Du den unbewussten Anteil als selbstverständlich dem Ich / der Persönlichkeit zugehörig bezeichnest. Das ist widersprüchlich.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Du meinst, man darf über Aussagen (insbesondere auch deren Zusammenfassungen / Schlussfolgerungen) von Autoren nichts sagen, wenn man nicht deren komplettes Werk gelesen hat? |
Nein, das war nicht meine Aussage. Ich warf dem Autor vor, sinnentstellend zu zitieren und zu kommentieren. Und ich sagte, dass diese Strategie insofern geschickt ist, als dass sie bei denen aufgehen könnte, die den Kontext selber nicht kennen.
kolja hat folgendes geschrieben: | Wie gesagt, er ist Theologe und schreibt für ein christliches Blättchen, er muss doch für seine Schäfchen irgendwie den Seelenglauben retten ... |
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Wie gesagt, das ist ein unglaublich plumpes ad hominem und Deiner eigentlich nicht würdig... |
Ich sehe darin ein Indiz, welches zu den weiter oben von Deus und mir gezeigten Argumentationsmustern passt, die nach meinem Verständnis nur aus Sicht eines Inkompatibilisten Sinn machen. Aber im Vergleich dazu ist es ein eher unwichtiges Indiz.
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Zuletzt bearbeitet von kolja am 30.09.2006, 12:28, insgesamt einmal bearbeitet |
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AgentProvocateur registrierter User
Anmeldungsdatum: 09.01.2005 Beiträge: 7851
Wohnort: Berlin
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(#574983) Verfasst am: 30.09.2006, 12:25 Titel: |
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kolja hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Nein, das ist nicht so. Er bezweifelt lediglich den von Singer / Roth postulierten absoluten Determinismus. |
Die beiden postulieren keinen absoluten Determinismus im von Dir sogenannten "philosophischen Sinne". In welchem Sinne der Begriff Determinismus in Bezug auf das Gehirn gemeint ist, wurde in diesem Forum bereits zigfach mit Deiner Beteiligung durchdiskutiert. Dieser Strohmann nervt langsam echt. |
Ein Determinismus, egal welcher Art, ob philosophisch absolut oder im Sinne von "näherungsweise berechenbar" ist insgesamt für die Frage, ob es Entscheidungs- und Handlungsfreiheit gibt, unwesentlich und daher lediglich eine Nebelgranate. Euer Versuch, den von mir zitierten Text darauf zu reduzieren, ist zwar nett, wird diesem aber in keinster Weise gerecht.
Da Du Dich aber nun entschlossen hast, den Text als Ganzes pauschal als heimlich dualistische schwurbelnde Sophisterei eines Theologen (die ja bekanntlich strunzdumm sind und keine richtigen Argumente haben können) abzuqualifizieren und auch alle seine Zitate von Roth / Singer nicht gelten lassen willst, würde es wohl wenig Sinn ergeben, weiter über den Text zu reden.
kolja hat folgendes geschrieben: | Aber abgesehen davon finde ich Deine Argumentation seltsam. Wenn Du Deinen Freiheitsbegriff vertrittst, dann spielt die Bewusstheit einer Entscheidung immer eine wesentliche Rolle für den Freiheitsgrad. Du hast auch mehrfach betont, dass für Dich das Bewusstsein einen wesentlichen Anteil an dem hat, was Du als Persönlichkeit bezeichnest. Wenn jedoch gezeigt werden soll, dass der bewusste Anteil gering ist und überwiegend falsch eingeschätzt wird, dann weichst Du dem aus, indem Du den unbewussten Anteil als selbstverständlich dem Ich / der Persönlichkeit zugehörig bezeichnest. Das ist widersprüchlich. |
Nein, das ist nicht wiedersprüchlich. Natürlich sind für mein Menschenbild das Bewusstsein und die bewussten Entscheidungen wichtig. Diese sehe ich aber nicht als absolut unabhängig von unterbewussten Prägungen an. Das weiß man spätestens seit Freud. Ich denke auch nicht, dass ich das falsche einschätze.
Nehmen wir noch einmal Deine Aussage von weiter oben:
kolja hat folgendes geschrieben: | Aber auch in den Fällen, in denen eine Handlung bewusst vorbereitet wurde, zeigt sich, dass das Bewusstsein nicht die Rolle des vernunftbegabten Entscheiders spielt, wie es die Kompatibilisten gerne sehen würden. Eher ist es so, dass das Bewusstsein die Funktion eines Planers und Beraters hat, der vom ontogenetisch älteren limbischen System, dem zentralen emotionalen Bewertungs- und Handlungssteuerungssystem, für besonders komplexe und neuartige Entscheidungssituationen herangezogen wird. Doch das limbische System begrenzt, welche Handlungen überhaupt möglich sind, und seine emotionale Bewertung legt fest, was uns "vernünftig" vorkommt und unserer "Persönlichkeit" entspricht.
Die Vorstellung von einem die Handlungen lenkenden "bewussten Ich" ist somit eine Überschätzung und Fehlinterpretation der tatsächlichen Funktionen des Bewusstseins. |
Vielleicht verstehe ich einfach noch nicht so ganz, wie das genau gemeint ist. Ich würde das gerne an einem Beispiel erläutert sehen.
Nehmen wir einmal einen beliebigen Text, zum Beispiel diesen hier von Wolf Singer. Es geht mir erst mal nicht um den Inhalt des Textes (dazu eventuell später), sondern nur um die Frage, inwieweit dieser Text vom "bewussten Ich" geschrieben wurde und inwieweit er vom limbischen System geschrieben wurde. Sind also die aufgelistete Darstellung und die darin enthaltenen Argumente bewusst oder unbewusst entstanden? Inwiefern war bei der Erstellung des Textes das "bewusste Ich" nur ein Berater? Hat das limbische System hier Argumente gegen das Votum des "bewussten Ichs" eingebracht und andere abgelehnt, ist also nicht immer dem Ratschlag des "Beraters" gefolgt?
Und wenn das "Bewusstsein nicht die Rolle des vernunftbegabten Entscheiders spielt", wer dann? Ist das limbische System ein "vernunftbegabter Entscheider"? Wohl kaum, denn Unterbewusstsein kann keine Vernunft haben, oder? Gibt es also gar keine Vernunft? Zumindest würde Deine Aussage oben bedeuten, dass wir bewusst keine Vernunft erkennen könnten, da uns dies komplett vom Unterbewusstsein vorgegeben wurde.
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
Wohnort: Germering
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(#575048) Verfasst am: 30.09.2006, 14:14 Titel: |
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Jetzt habe ich mir den Lüke-Text doch tatsächlich auch angetan, und ich bin sehr enttäuscht. Seine Argumentation ist unlogisch, geht am Kern vorbei und wird den Argumenten der Hirnforscher nicht gerecht.
Die "zur Vorwarnung" in der Einleitung hingerotzten Schlagwörter sind allesamt nicht geeignet, die Folgen der naturalistischen Grundannahme für das Konzept des Freien Willens anzugreifen:
- Experimente betreffen derzeit nur Kurzvorgänge
- quantenmechanische Beobachter-System Wechselwirkung (das gibt Lüke auf S.10 dann auch endlich zu)
- genauen Vorgänge beim Denken noch nicht bekannt, inclusive neuer noch zu entdeckender emergenter Phänomene
Im nächsten Abschnitt wird die Argumentation Singers falsch wiedergegeben und dann auch noch unlogisch dagegen argumentiert:
Lüke hat folgendes geschrieben: | Singers Argumentation geht von der grundlegenden Gleichheit der neuronalen Prozesse bei bewußten und unbewußten Entscheidungen aus und folgert unter der Annahme, daß unbewußte Entscheidungen deterministisch und damit unfrei ablaufen, daß dann auch die bewußten Entscheidungen deterministisch und nur scheinbar frei ablaufen müssen. |
So folgert Singer das überhaupt nicht. Sein Hauptargument ist unabhängig von der Grenze zwischen bewußtem und unbewußten Handeln. Allein aus der naturalistischen Annahme (Physikalität des Gehirns) folgt die naturgesetzliche Unfreiheit bewußter wie unbewußter Prozesse, ohne daß man die genauen Vorgänge verstanden haben muß. Es bleibt maximal Platz für eine emergente Interpretation, also etwa ein Gefühl der Wahl zwischen Alternativen mangels reflektiver Kenntnis der physikalisch-neurologischen Vorgänge bei der Bewertung.
Lüke hat folgendes geschrieben: | Aus der angenommenen (aber letztlich noch nirgends nachgewiesenen) völligen Gleichheit der neuronalen Prozesse ergeben sich also völlig ungleiche, nämlich sowohl bewußte als auch unbewußte Entscheidungen. |
Was ist so besonders daran, daß verschiedenen neuronalen Gesamtvorgängen dieselbe Physik zugrundeliegt?
Lüke hat folgendes geschrieben: | Das aber führt zu der Frage, warum dann nicht auch freie und unfreie Entscheidungen resultieren können? |
Dieser Gedankengang ist komplett unlogisch. Auf emergenter Ebene können die verschiedensten Phänomene entstehen, aber eben keine, die dem rein naturgesetzlichen Ablauf widersprechen.
Lüke hat folgendes geschrieben: | Wenn nun das, was Singer den neuronalen Determinismus nennt, zu Bewußtem und Unbewußtem führen kann, dann läßt sich aus der Gleichheit der zugrundeliegenden neuronalen Prozesse nicht ableiten, daß zwangsläufig nur gleiche Konsequenzen daraus folgen könnten, ... |
"nur gleiche Konsequenzen" wird nirgends behauptet.
Lüke hat folgendes geschrieben: | ... also alles, Bewußtes wie Unbewußtes, determiniert sein müsse. |
Jemand Anderes Behauptung damit widerlegen, daß sie aus irgendetwas selbstausgedachtem Falschen nicht folge ... ts ts ts
Es folgt ein Abschnitt über Roth, der allerdings sehr auf das (beschränkt aussagekräftige) Libet-Experiment fokussiert. Auch hier kein Argument für eine wirkliche Willensfreiheit.
Dann kommt Spannung auf: "Kritik an der neuronalen oder neuromentalen Determinismusbehauptung"
Buchheims Argument (Das ICH im Entscheidungsprozeß ist nicht vernünftig abgegrenzt) betrifft nur die Befürworter eines Freien Willens. Lüke versäumt es aber, daruaf hinzuweisen.
Das Argument von Höffe bzw. Kant widerlegt Lüke zum Glück gleich selber.
Das Argument von Lutz Wingert ist mir völlig unverständlich:
Wingert hat folgendes geschrieben: | Frei ist man in seinem Tun, wenn man auch anders handeln könnte, gesetzt den Fall, man hätte einen Grund dafür, anders zu handeln. Da ein rechtfertigender Grund mit einem Urteil seiner Anerkennungswürdigkeit
verbunden ist, bindet er nicht blind. Denn Urteile stoßen uns nicht zu, sondern werden von uns gefällt. |
Da die Urteilsfällung selbst ja wieder naturgesetzlich abläuft, verstehe ich nicht, inwiefern das ein Argument gegen Singer/Roth sein soll.
Wingert hat folgendes geschrieben: | Es gibt keine durchweg neurophysiologischen funktionalen Äquivalente für Gründe und für die mit ihnen verbundenen Abwägungsprozesse. |
Man kennt - zumindest momentan - keine, weil sie sicher sehr komplex und unhandlich wären. Aber letztlich ist das kein besseres Argument, als wenn man etwa sagen würde: "Es gibt keine durchweg physikalischen funktionalen Äquivalente für die Form eines Baumes." Daraus würde nämlich keineswegs folgen, daß die Form von Bäumen prinzipiell auch unphysikalische Determinanten hat.
Die Kritik von juristischer Seite spielt hier keine Rolle, da sie sich bedarfslogisch am Wünschenswerten orientiert (einfache Schuldzuweisung).
Dann folgt ein sogenannter "moraltheologischer" Einwand, der aber letztlich auch wieder nur anführt, daß man Gründe bisher nicht eindeutig auf physikalische Ursachen zurückführen könne - was zwar stimmt, aber kein Argument ist. Ähnlich lasssen sich uch viele körperliche Ausprägungen (noch) nicht explizit auf Gene zurückführen, aber das ist kein Argument dafür, sie seien nicht genetisch bestimmt.
Und noch ein schlechtes Argument von Schockenhoff:
Schockenhoff hat folgendes geschrieben: | Eine reduktionistische Theorie des Bewußtseins, die dessen Eigenständigkeit durch die Rückführung auf basale Vorgänge oder Ereignisse auflösen möchte, beruht auf einer petitio principii. Das zu erklärende (das menschliche Bewußtsein) wird im Vollzug des Erklärens (durch das Aufstellen einer reduktionistischen Theorie) als Bedingung seiner Möglichkeit bereits vorausgesetzt. Das Bewußtsein ist der Ausgangspunkt, nicht das Ergebnis des Erklärens; es kann daher auch nicht ,wegerklärt‘ oder auf noch ursprünglichere Phänomene zurückgeführt werden.“ |
Das Argument wäre nur eins, wenn eine wesentliche Abhängigkeit vom Beobachter gezeigt werden könnte. Ansonsten zählt nur der Vorhersageerfolg der Theorie.
Zudem fällt dieses Argument sofort in sich zusammen, wenn man auf der physikalischen statt der neurologischen Reduktionsebene argumentiert.
Lüke hat folgendes geschrieben: | So hält Gerd Kempermann zwar fest, daß es – selbstredend – ohne Gehirn keinen freien Willen gäbe, aber umgekehrt ein freier Wille eben nicht restlos biologisch zu erfassen und zu erklären sei, weil er aus der lebenslänglichen Interaktion zwischen biologischer Disposition und Lebensgeschichte resultiert. |
Schon wieder dieselbe falsche Figur wie oben: Diese lebenslängliche Interaktion verkompliziert zwar etwaige Berechnungen, betrifft aber nicht das Wesen der Singer/Roth-Argumentation, da die Interaktionen selbst wieder determiniert (oder zufällig) sind.
Dann kommt wieder ein Abschnitt, der zum 1000. Mal die eingeschränkte Aussagefähigkeit des Libet-Experiments hervorhebt, was aber von niemand bestritten wird.
In der Schlußbilanz auch nichts neues, was Willensfreiheit bzw. Handlungsfreiheit denn nun sein soll, außer letztlich determnierten Prozessen. Lustig finde ich:
Lüke hat folgendes geschrieben: | Roth versucht auch eine Beweislastumverteilung, weg von den Vertretern der Determinations- und hin zu denen einer relativen Willensfreiheitsthese:
„Für das Anderskönnen hat niemand einen plausiblen Beweis liefern können, denn hier müßte zu identischen Bedingungen etwas völlig rätselhaftes, nicht Nachweisbares hinzukommen. Auch liefe das bloße Anderskönnen auf eine Art Würfeln hinaus, das niemand ernsthaft für willensfrei hält.“
Roth unterstellt hier seinen Kritikern, sie müßten etwas empirisch Nichtnachweisbares postulieren, wenn sie an Willensfreiheit festhielten. Damit versucht er, sie in die Ecke des Obskurantismus zu stellen. |
Genauso ist es, und auch ich sehe die Beweislast (für die Annahme, etwas nicht physikalisch / neurologisch determiniertes geschehe im Bewußtsein) bei den Kritikern der naturalistischen Hypothese.
Zum Schluß wird Lüke dann noch polemisch ("Hochstapelei", "Erschleichung eines Weltbildes") - was aber sehr peinlich wirkt, weil sich die Realität einen Dreck um die Lieblingsweltbilder von Theologen schert.
_________________ Was ist der Sinn des Lebens? - Keiner, aber Leere ist Fülle für den, der sie sieht.
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kolja der Typ im Maschinenraum

Anmeldungsdatum: 02.12.2004 Beiträge: 16631
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(#575076) Verfasst am: 30.09.2006, 14:52 Titel: |
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AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Ein Determinismus, egal welcher Art, ob philosophisch absolut oder im Sinne von "näherungsweise berechenbar" ist insgesamt für die Frage, ob es Entscheidungs- und Handlungsfreiheit gibt, unwesentlich und daher lediglich eine Nebelgranate. |
Das magst Du aus Deiner kompatibilstischen Sicht so sehen, ich stimme dem aber nicht zu, insbesondere dann nicht, wenn mit dem Freiheitsbegriff auch Schuld begründet werden soll.
Aber abgesehen davon gibst Du damit doch indirekt zu, dass die Argumentation des Autors gegen den Determinismus aus kompatibilistischer Perspektive witzlos ist. Warum macht es der Autor dann?
Und was die von Deus zitierte Passage betrifft: diese Argumentation läuft darauf hinaus, dass einer wissenschaftlichen Betrachtungsgweise die Wesenseigenschaften mentaler Phänomene prinzipbedingt verborgen bleiben müssen, ebenfalls mit dem Ziel, das deterministische Verhalten bewusster neuronaler Prozesse in Frage stellen zu können. Das ist eine typisch dualistische Argumentation.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Euer Versuch, den von mir zitierten Text darauf zu reduzieren, ist zwar nett, wird diesem aber in keinster Weise gerecht. |
Dein Vorwurf ist falsch, denn ich bin auch auf die Teile des Textes eingegangen, in denen er nicht verdeckt dualistisch, sondern durch sinnentstellendes Zitieren argumentiert.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Da Du Dich aber nun entschlossen hast, den Text als Ganzes pauschal als heimlich dualistische schwurbelnde Sophisterei eines Theologen (die ja bekanntlich strunzdumm sind und keine richtigen Argumente haben können) abzuqualifizieren und auch alle seine Zitate von Roth / Singer nicht gelten lassen willst, würde es wohl wenig Sinn ergeben, weiter über den Text zu reden. |
Ich stelle fest, dass Du meine Polemik als willkommenen Anlass für einen geordneten Rückzug benutzt, ohne meine konkreten Einwände entkräften zu können.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | [...] Und wenn das "Bewusstsein nicht die Rolle des vernunftbegabten Entscheiders spielt", wer dann? Ist das limbische System ein "vernunftbegabter Entscheider"? |
Keines von beidem.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Wohl kaum, denn Unterbewusstsein kann keine Vernunft haben, oder? |
Nein, aber auch das Bewusstsein kann keine "Vernunft haben".
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Gibt es also gar keine Vernunft? |
Genau, es gibt gar keine "Vernunft" als Ausfluss des Bewusstseins. Es gibt auch keinen Dialog zwischen Bewusstem und Unbewusstem, wobei das Bewusste "die Vernunft" repräsentieren würde.
Es gibt aber Entscheidungen, die dazu geignet sind, bestimmte Ziele zu erreichen, oder bestimmte Motive und Bedürfnisse zu befriedigen. Handlungen können daher nur in Bezug auf Motive und Ziele "vernünftig" sein. Die grundlegenden Motive und emotionalen Bedürfnisse entstammen aber letztlich dem Unbewusstem, selbst unsere langfristigen und bewussten Ziele verfolgen wir letztlich zur Befriedigung unbewusster Motive und zur Wahrung emotional bevorzugter Zustände. Das Bewusstein spielt die Rolle des Planers, der die Handlungsmöglichkeiten und Konsequenzen hypothetisch durchspielt, aber keine direkte Kontrolle über die Motive hat, sich ihrer teilweise nicht mal bewusst ist. Es ist unsinnig, das Bewusstein als Entscheider zu betrachten, weil die den Entscheidungen zugrundliegenden Motive nicht bewusst gewählt werden. Es hat auch keine willentliche Kontrolle über das Vorwissen, das während der Abwägung in den Sinn kommt, auch dieser Input wird vom unbewussten Hirnregionen geliefert.
Der Wissenschaftler, der einen Text schreibt, wird natürlich durch sehr langfristige Ziele dazu motiviert. Eines seiner bewussten Ziele ist hoffentlich die Absicht, eine möglichst zutreffende und überprüfbare Darstellung der beschriebenen Sachverhalte abzuliefern. Auf welche letztlichen unbewussten Motive diese Ziele zurückgehen, ist schwer zu sagen, aber auch nicht so wichtig. Mag sein, dass die Ausführungen des Wissenschaftlichers in einem kompatibilistischen Sinne hochgradig "frei" genannt werden können. Das ist aber ziemlich irreführend in Bezug auf die Frage, inwieweit sich mit diesem Freiheitsbegriff die Schuld im Strafrecht stützen lässt. Viel interessanter wäre z.B. die Frage, wie "frei" die Handlungsentscheidung von Gewalttätern zustande kommen. Darauf hier weiter einzugehen wird mir jetzt zuviel, da müsste ich selber nochmal nachlesen. Nur soviel sei dazu gesagt: wenn man den kompatibilistischen Freiheitsbegriff ernst nimmt und ihn nicht nur rein zweckorientiert vertritt, dann wird schnell klar, dass er zur Begründung des Schuldbegriffs im praktischen Strafrecht ziemlich untauglich ist.
_________________ Hard work often pays off after time, but laziness always pays off now.
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Zumsel registrierter User
Anmeldungsdatum: 08.03.2005 Beiträge: 4667
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(#575302) Verfasst am: 01.10.2006, 00:40 Titel: |
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Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | "Menschliches Urbedürfnis" war Zumsels Wortwahl. |
Nein, genau genommen schrieb ich von einem "urmenschlichen Bedürfnis".
Zitat: | Ob man das jetzt "simples Rachedenken" oder "Schuld- und Sühneprinzip" nennt, ist für mich eine Frage der rhetorischen Absicht, oder genauer: Schuld- und Sühneprinzip ist geregeltes und institutionalisiertes Rachedenken. |
Richtig, sowie der Begriff "Gerechtigkeit" sich bei genauerer Betrachtung schlichtweg IMMER als "Institutionalisierung" "archaischer Triebe" entpuppt. Erstaunlicherweise wird das in unserem Kulturkreis allerdings nur bezüglich des Rachegefühls klar ausgesprochen, während zum Beispiel die Regung des Mitgefühls positiv bewertet wird und eher selten Attribute wie "archaisch" oder "primitiv" bekommt (der Grund dafür dürfte im christlichen Nächstenliebe- und Vergebungsgebotes liegen). Wer also das Strafprinzip mit der Begründung, es spiegle "primitive Urtriebe" wieder, verwirft, sollte so konsequent sein, den Gerechtigkeitsbegriff (auch im wirtschaftlich-sozialpolitischen Sinne) überhaupt zu verwerfen. Oder aber zugeben, dass er die Wörter "primitiv" und "archaisch" nur in die Diskussion wirft, um Regungen, die seinen eigenen, nicht minder primitiven Urbedürfnissen widersreben, als unterlegen dastehen zu lassen.
Ist eben immer so eine Sache mit möchtegernelitären Menschheitsverbesserern.
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
Wohnort: Germering
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(#575372) Verfasst am: 01.10.2006, 10:20 Titel: |
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Zumsel hat folgendes geschrieben: | ... Wer also das Strafprinzip mit der Begründung, es spiegle "primitive Urtriebe" wieder, verwirft, sollte so konsequent sein, den Gerechtigkeitsbegriff (auch im wirtschaftlich-sozialpolitischen Sinne) überhaupt zu verwerfen. Oder aber zugeben, dass er die Wörter "primitiv" und "archaisch" nur in die Diskussion wirft, um Regungen, die seinen eigenen, nicht minder primitiven Urbedürfnissen widersreben, als unterlegen dastehen zu lassen. |
Ohne Dir jetzt komplett widersprechen zu wollen, sollte man aber doch bedenken, daß unser soziobiologisches Verhalten über Jahrmillionen geprägt wurde, in denen wir in kleinen Sippen gelebt haben. Unsere Gefühle, Triebe usw. passen nicht optimal in eine große, überbevölkerte, industrialisierte Gesellschaft. Und auch unser Wissen (etwa über Krankheiten, Fortpflanzung, Erkenntnistheorie, Spieltheorie, ...) hat zugenommen.
Man kann daher ein moralisches oder ethisches Dokument aus der Jungsteinzeit (AT) oder frühen Neuzeit (NT) durchaus als relativ archaisch und primitiv bezeichnen, ohne damit gleich den gesamten Gerechtigkeitsbegriff über Bord werfen zu müssen.
Gerechtigkeit kann in einer aufgeklärten Gesellschaft bedeuten, daß demokratisch vereinbarte Rechte einforderbar sind. Gleichwohl kann heutzutage Gerechtigkeit immer nur noch ein relativer Begriff sein, relativiert durch die faktische Ungleichheit der Menschen und durch die Willkür ethischer Normen wie etwa "Mehrheit" und "Ziele".
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hehehe registrierter User
Anmeldungsdatum: 26.07.2006 Beiträge: 674
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(#575423) Verfasst am: 01.10.2006, 12:34 Titel: |
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Zitat: | Selbst das bewusste Ich, die denkende, urteilende und entscheidende Individualität ist ja doch nichts anderes als eine Funktion des Gehirnes!
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Gedanken haben die Eigenschaft, in Bezug zu real existierenden Dingen zu stehen (ich glaube man nennt das Qualia) - der Gedanke an den Kasten Bier im Keller beispielsweise bezieht sich auf den real existierenden Kasten Bier. Es ist bis heute jedoch rätselhaft, wie ein solcher Bezug materialistisch zu erklären ist: Im Gehirn mögen gewisse Symbole gespeichert sein (um mal als Informatiker zu sprechen), gewisse Neuronen haben gewisse chemische und elektrische Zustände - aber keins dieser Neuronen und auch keiner seiner Zustände stehen in irgendeinem Bezug zu diesem Kasten Bier. Man kann solche Phänomene mit Begriffen wie "Emergenz" verschleiern, aber sie erklären gar nichts.
Aus diesem Grund habe ich auch keine Befürchtungen, dass man jemals aus einem Gehirn Gedanken lesen kann: Man kann zwar Symbole daraus auslesen, aber wofür diese stehen, wird man nie wissen können. Man kann die Zustände von Zellen auswerten, aber man wird nie herausbekommen, dass sie für meinen Kasten Bier im Keller stehen.
Das gleiche Problem ist auch in der KI-Forschung bekannt (symbol grounding problem): Man kann in einem Computer Symbole mit anderen Symbolen verknüpfen, diese wieder mit anderen Symbolen usw. - aber die Verknüpfung mit dem real existierenden "Ding" kriegt nur der Mensch zustande. Der Computer weiss nichts davon, dass die Binärfolge 0010101101011101010101 für meinen Kasten Bier im Keller steht
Das Gehirn kann meiner Auffassung nach nie etwas anderes sein, als eine Symbol-verarbeitende Maschine (ganz wie ein Computer); die Verknüpfung der Symbole mit den Dingen der realen Welt lässt sich dagegen nicht materialistisch erklären.
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kolja der Typ im Maschinenraum

Anmeldungsdatum: 02.12.2004 Beiträge: 16631
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(#575465) Verfasst am: 01.10.2006, 14:03 Titel: |
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@hehehe, stimmt nicht. Man kann im Gehirn heute bereits neuronale Zustände zeigen, die ganz konkreten gedanklichen Tätigkeiten oder Bedeutungen entsprechen. Zum Beispiel kann man unterscheiden, welche Rechenoperation eine Person gerade beim Kopfrechnen durchführt, oder ob die Person gerade an eine bestimmte andere Person denkt.
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
Wohnort: Germering
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(#575469) Verfasst am: 01.10.2006, 14:11 Titel: |
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@hehehe, was würdest Du denn als Beleg gelten lassen, daß ein System (z.B. eine KI) eine "würdige" Repräsentanz von Bedeutungen ausprägt?
Inwiefern müssten Bedeutungen mehr sein als Mustererkennungen plus Assoziationskontexte?
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AgentProvocateur registrierter User
Anmeldungsdatum: 09.01.2005 Beiträge: 7851
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(#575471) Verfasst am: 01.10.2006, 14:13 Titel: |
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step hat folgendes geschrieben: | So folgert Singer das überhaupt nicht. Sein Hauptargument ist unabhängig von der Grenze zwischen bewußtem und unbewußten Handeln. Allein aus der naturalistischen Annahme (Physikalität des Gehirns) folgt die naturgesetzliche Unfreiheit bewußter wie unbewußter Prozesse, ohne daß man die genauen Vorgänge verstanden haben muß. Es bleibt maximal Platz für eine emergente Interpretation, also etwa ein Gefühl der Wahl zwischen Alternativen mangels reflektiver Kenntnis der physikalisch-neurologischen Vorgänge bei der Bewertung. |
Hier treten die großen Probleme von Singers Argumentation sehr deutlich hervor: er definiert nicht, was er unter Freiheit versteht. Wahrscheinlich versteht er etwas darunter, was Du hier mit "naturgesetzlicher Freiheit" bezeichnest, was aber, wenn man versucht, es genauer darzustellen, logisch unmöglich ist. Es ist natürlich einfach, etwas logisch unmögliches zu wiederlegen (ich beziehe mich hier und im weiteren auf dieses Essay von Singer.)
step hat folgendes geschrieben: | Lüke hat folgendes geschrieben: | Das aber führt zu der Frage, warum dann nicht auch freie und unfreie Entscheidungen resultieren können? |
Dieser Gedankengang ist komplett unlogisch. Auf emergenter Ebene können die verschiedensten Phänomene entstehen, aber eben keine, die dem rein naturgesetzlichen Ablauf widersprechen. |
Stimmt, die Argumentation von Lüke ist hier merkwürdig. Er müsste an dieser Stelle definieren, was er überhaupt unter "frei" und "unfrei" versteht. Solange er das nicht tut, bleibt sein Satz unverständlich.
step hat folgendes geschrieben: | Dann kommt Spannung auf: "Kritik an der neuronalen oder neuromentalen Determinismusbehauptung"
Buchheims Argument (Das ICH im Entscheidungsprozeß ist nicht vernünftig abgegrenzt) betrifft nur die Befürworter eines Freien Willens. Lüke versäumt es aber, daruaf hinzuweisen. |
Nein! Das ist sogar einer der Knackpunkte bei Singers Argumentation und der Einwand von Buchheim ist mehr als berechtigt. Es geht um die Frage, über wessen freien Willen hier überhaupt gesprochen wird. Wenn man dann, so wie Singer das tut, einfach nur sagt, das Bewusstsein hätte keinen freien Willen, dann geht das eben völlig am Thema vorbei, denn das Ich ist nicht gleichzusetzen mit dem Bewusstsein.
step hat folgendes geschrieben: | Das Argument von Lutz Wingert ist mir völlig unverständlich:
Wingert hat folgendes geschrieben: | Frei ist man in seinem Tun, wenn man auch anders handeln könnte, gesetzt den Fall, man hätte einen Grund dafür, anders zu handeln. Da ein rechtfertigender Grund mit einem Urteil seiner Anerkennungswürdigkeit
verbunden ist, bindet er nicht blind. Denn Urteile stoßen uns nicht zu, sondern werden von uns gefällt. |
Da die Urteilsfällung selbst ja wieder naturgesetzlich abläuft, verstehe ich nicht, inwiefern das ein Argument gegen Singer/Roth sein soll. |
Nun, das ist die Frage danach, wie wir Urteile fällen. Wenn wir keine Urteile fällen, sondern nur vorgespiegelt bekämen, dies zu tun, weil eben naturgesetzliche neurologische Vorgänge im Gehirn ablaufen, wenn also die Reihenfolge dieser Urteilsfindung die Folgende sein soll: 1. Neuronen feuern 2. wir glauben, wir hätten etwas entschieden, dann folgt daraus, dass wir selber keinen Einfluss auf unsere Handlungen hätten. Das Bewusstsein wäre lediglich ein Epiphänomen.
step hat folgendes geschrieben: | Wingert hat folgendes geschrieben: | Es gibt keine durchweg neurophysiologischen funktionalen Äquivalente für Gründe und für die mit ihnen verbundenen Abwägungsprozesse. |
Man kennt - zumindest momentan - keine, weil sie sicher sehr komplex und unhandlich wären. Aber letztlich ist das kein besseres Argument, als wenn man etwa sagen würde: "Es gibt keine durchweg physikalischen funktionalen Äquivalente für die Form eines Baumes." Daraus würde nämlich keineswegs folgen, daß die Form von Bäumen prinzipiell auch unphysikalische Determinanten hat. |
Nein, nein, der Vergleich hinkt schon noch ein wenig. Das Problem der Intentionalität ist durchaus ein Grundlegendes und kann nicht einfach mit dem Hinweis auf fehlende Rechenstärke aufgelöst werden. Wir haben heute überhaupt keinen Ansatzpunkt dafür, wie wir dieses Problem angehen könnten.
step hat folgendes geschrieben: | Und noch ein schlechtes Argument von Schockenhoff:
Schockenhoff hat folgendes geschrieben: | Eine reduktionistische Theorie des Bewußtseins, die dessen Eigenständigkeit durch die Rückführung auf basale Vorgänge oder Ereignisse auflösen möchte, beruht auf einer petitio principii. Das zu erklärende (das menschliche Bewußtsein) wird im Vollzug des Erklärens (durch das Aufstellen einer reduktionistischen Theorie) als Bedingung seiner Möglichkeit bereits vorausgesetzt. Das Bewußtsein ist der Ausgangspunkt, nicht das Ergebnis des Erklärens; es kann daher auch nicht ,wegerklärt‘ oder auf noch ursprünglichere Phänomene zurückgeführt werden.“ |
Das Argument wäre nur eins, wenn eine wesentliche Abhängigkeit vom Beobachter gezeigt werden könnte. Ansonsten zählt nur der Vorhersageerfolg der Theorie.
Zudem fällt dieses Argument sofort in sich zusammen, wenn man auf der physikalischen statt der neurologischen Reduktionsebene argumentiert. |
Es gibt bei dem Versuch der Erklärung des Bewusstsein ein sehr großes epistemologisches Problem. Singer sieht das übrigens auch selber so (siehe den oben verlinkten Text). Dieses Argument fällt also keineswegs in sich zusammen.
Man kann zum Beispiel nicht als Forschungsergebnis herausbekommen, das Bewusstsein sei ein Epiphänomen, denn dann würde dieses Forschungsergebnis automatisch hinfällig.
step hat folgendes geschrieben: | Dann kommt wieder ein Abschnitt, der zum 1000. Mal die eingeschränkte Aussagefähigkeit des Libet-Experiments hervorhebt, was aber von niemand bestritten wird. |
Naja, dieses Experiment wird schon immer wieder als Beleg herangezogen.
step hat folgendes geschrieben: | In der Schlußbilanz auch nichts neues, was Willensfreiheit bzw. Handlungsfreiheit denn nun sein soll, außer letztlich determnierten Prozessen. |
Lüke stellt keine eigene Position direkt dar. Er versucht nur, den Argumenten von Singer und Roth etwas entgegenzusetzen.
step hat folgendes geschrieben: | Lustig finde ich:
Lüke hat folgendes geschrieben: | Roth versucht auch eine Beweislastumverteilung, weg von den Vertretern der Determinations- und hin zu denen einer relativen Willensfreiheitsthese:
„Für das Anderskönnen hat niemand einen plausiblen Beweis liefern können, denn hier müßte zu identischen Bedingungen etwas völlig rätselhaftes, nicht Nachweisbares hinzukommen. Auch liefe das bloße Anderskönnen auf eine Art Würfeln hinaus, das niemand ernsthaft für willensfrei hält.“
Roth unterstellt hier seinen Kritikern, sie müßten etwas empirisch Nichtnachweisbares postulieren, wenn sie an Willensfreiheit festhielten. Damit versucht er, sie in die Ecke des Obskurantismus zu stellen. |
Genauso ist es, und auch ich sehe die Beweislast (für die Annahme, etwas nicht physikalisch / neurologisch determiniertes geschehe im Bewußtsein) bei den Kritikern der naturalistischen Hypothese. |
Alles hängt mal wieder von der Definition der "Freiheit" ab. Eine nicht erfüllbare Definition dessen, so wie Singer und Du sie hier haben, ist eben logisch unmöglich. Das hat übrigens noch nicht einmal etwas mit Naturgesetzen und Transzendenz zu tun, die von Euch geforderte Willensfreiheit ist nicht möglich, selbst nicht für ein allmächtiges Wesen, gleichgültig, ob dieses nach Naturgesetzen handelt oder nach beliebigen Gesetzen.
Das wird aber dem eigentlichen Problem nicht gerecht: inwiefern ist der Mensch ein Subjekt und inwiefern trägt er Verantwortung für die Handlungen, die er verursacht.
step hat folgendes geschrieben: | Zum Schluß wird Lüke dann noch polemisch ("Hochstapelei", "Erschleichung eines Weltbildes") - was aber sehr peinlich wirkt, weil sich die Realität einen Dreck um die Lieblingsweltbilder von Theologen schert. |
Nun ja, er wird in der Tat polemisch. Allerdings sind die Hirnforscher schon ziemlich forsch in der Öffentlichkeit aufgetreten und haben ihre Thesen und ihre (wie ich finde schlechte) Philosophie als bahnbrechende Neuigkeiten versucht zu verkaufen.
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AgentProvocateur registrierter User
Anmeldungsdatum: 09.01.2005 Beiträge: 7851
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(#575480) Verfasst am: 01.10.2006, 14:26 Titel: |
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kolja hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Gibt es also gar keine Vernunft? |
Genau, es gibt gar keine "Vernunft" als Ausfluss des Bewusstseins. Es gibt auch keinen Dialog zwischen Bewusstem und Unbewusstem, wobei das Bewusste "die Vernunft" repräsentieren würde.
Es gibt aber Entscheidungen, die dazu geignet sind, bestimmte Ziele zu erreichen, oder bestimmte Motive und Bedürfnisse zu befriedigen. Handlungen können daher nur in Bezug auf Motive und Ziele "vernünftig" sein. Die grundlegenden Motive und emotionalen Bedürfnisse entstammen aber letztlich dem Unbewusstem, selbst unsere langfristigen und bewussten Ziele verfolgen wir letztlich zur Befriedigung unbewusster Motive und zur Wahrung emotional bevorzugter Zustände. Das Bewusstein spielt die Rolle des Planers, der die Handlungsmöglichkeiten und Konsequenzen hypothetisch durchspielt, aber keine direkte Kontrolle über die Motive hat, sich ihrer teilweise nicht mal bewusst ist. Es ist unsinnig, das Bewusstein als Entscheider zu betrachten, weil die den Entscheidungen zugrundliegenden Motive nicht bewusst gewählt werden. Es hat auch keine willentliche Kontrolle über das Vorwissen, das während der Abwägung in den Sinn kommt, auch dieser Input wird vom unbewussten Hirnregionen geliefert. |
Du argumentierst wie Singer. Ich finde diese Argumentation falsch, weil natürlich nicht das Bewusstsein für sich genommen unabhängig von seinen Prägungen entscheidet. Das ist selbstverständlich und sollte auch jedem direkt einsichtig sein.
Reduziert man das Ich auf das "bewusste Ich", dann bekommt man ein falsches Selbstbild und kommt zu falschen Schlussfolgerungen. Ich werde später noch mal näher darauf eingehen und zwar anhand des oben angegebenen Textes von Singer, hab' gerade wenig Zeit.
kolja hat folgendes geschrieben: | Mag sein, dass die Ausführungen des Wissenschaftlichers in einem kompatibilistischen Sinne hochgradig "frei" genannt werden können. Das ist aber ziemlich irreführend in Bezug auf die Frage, inwieweit sich mit diesem Freiheitsbegriff die Schuld im Strafrecht stützen lässt. Viel interessanter wäre z.B. die Frage, wie "frei" die Handlungsentscheidung von Gewalttätern zustande kommen. Darauf hier weiter einzugehen wird mir jetzt zuviel, da müsste ich selber nochmal nachlesen. Nur soviel sei dazu gesagt: wenn man den kompatibilistischen Freiheitsbegriff ernst nimmt und ihn nicht nur rein zweckorientiert vertritt, dann wird schnell klar, dass er zur Begründung des Schuldbegriffs im praktischen Strafrecht ziemlich untauglich ist. |
Deine weiteren Ausführungen dazu interessieren mich.
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
Wohnort: Germering
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(#575525) Verfasst am: 01.10.2006, 16:11 Titel: |
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AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | step hat folgendes geschrieben: | Buchheims Argument (Das ICH im Entscheidungsprozeß ist nicht vernünftig abgegrenzt) betrifft nur die Befürworter eines Freien Willens. Lüke versäumt es aber, daruaf hinzuweisen. | Nein! Das ist sogar einer der Knackpunkte bei Singers Argumentation und der Einwand von Buchheim ist mehr als berechtigt. Es geht um die Frage, über wessen freien Willen hier überhaupt gesprochen wird. Wenn man dann, so wie Singer das tut, einfach nur sagt, das Bewusstsein hätte keinen freien Willen, dann geht das eben völlig am Thema vorbei, denn das Ich ist nicht gleichzusetzen mit dem Bewusstsein. |
Natürlich mutmaßt Singer, wer oder was wohl als frei bezeichnet werden könnte - und es ist immer ein leichtes, dann zu sagen: Das hab ich aber gar nicht gemeint, oder sich auf ein Definitionsscharmützel solch schwammiger Begriffe wie "Ich" zurückzuziehen.
Daher finde ich Buchheims Einwand nach wie vor unwesentlich. Man käme weiter, indem man - wie Du ja auch vorschlägst - genau sagt, wer oder was angeblich welche Freiheit hat. Es müßte ja eine Freiheit sein,
- die erstens nicht trivial ist, d.h. nicht nur ein Epiphänomen, ein Gefühl, eine Interpretation
- die zweitens aber nicht aus physikalischen oder gar logischen Gründen unmöglich ist.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Man kann zum Beispiel nicht als Forschungsergebnis herausbekommen, das Bewusstsein sei ein Epiphänomen, denn dann würde dieses Forschungsergebnis automatisch hinfällig. |
Das sehe ich anders. Eine Theorie, die überprüfbare Voraussagen macht (z.B. über die Bedingungen für die Entstehung eines Epiphänomens), ist ein gutes Modell der Realität, egal ob sie Stein, Mensch oder Urknall beschreibt. Die (natürlich prinzipiell mögliche) Abhängigkeit der Voraussagen über das Bewußtsein des Probanden vom Bewußtsein des Wissenschaftlers kann methodisch auf unwesentliche Einflüsse reduziert werden. Falls Du das nicht so siehst: Wieso genau nicht?
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Das wird aber dem eigentlichen Problem nicht gerecht: inwiefern ist der Mensch ein Subjekt und inwiefern trägt er Verantwortung für die Handlungen, die er verursacht. |
Die Zumessung von Verantwortung, Strafrecht usw. ist - das hatten wir ja schonmal - ein moralisches bzw. praktisch-ethisches Problem - für mich der zweite Schritt. Mich interessieren erstmal die Grundlagen. Man kann ja nicht einfach an eine nicht näher definierte Freiheit glauben, nur damit es leichter wird, Gesetze zu erlassen.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Allerdings sind die Hirnforscher schon ziemlich forsch in der Öffentlichkeit aufgetreten und haben ihre Thesen und ihre (wie ich finde schlechte) Philosophie als bahnbrechende Neuigkeiten versucht zu verkaufen. |
Mir geht es z.B. überhaupt um keine Philosophie. Die - teilweise in der Tat nicht so neuen - Interpretationen der physikalischen / neurobiologischen Realität sind für mich eher eine Sache der Akzeptanz. Viele Leute hängen halt sehr an der "Willensfreiheit" - weil die es so schön einfach machen würde. Mir scheint:
- Die allermeisten Menschen haben noch nicht einmal die von Dir als trivial bezeichnete Tatsache verstanden, daß ein auch nur teilweise echt freier Wille unlogisch ist. Schon das würde sie zu sehr verunsichern.
- Manche Philosophen dagegen sind sich zwar dieser (in der Tat schon vor Jahrhunderten erkannten) Tatsache bewußt, versuchen aber aus ideologischen oder praktischen Gründen einen gleichlautenden Begriff zu retten, der aber bei näherem Hinsehen nur noch ein Epiphänomen beschreibt (Kompatibilismus).
Wie gesagt, ich warte immer noch auf eine Definition des Freien Willens (egal ob vom Ich oder Bewußtsein oder sonstwas), der nicht unlogisch/unphysikalisch und gleichzeitig nicht trivial (epi) ist. Wie soll das gehen?
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Zumsel registrierter User
Anmeldungsdatum: 08.03.2005 Beiträge: 4667
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(#575538) Verfasst am: 01.10.2006, 16:42 Titel: |
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step hat folgendes geschrieben: | Unsere Gefühle, Triebe usw. passen nicht optimal in eine große, überbevölkerte, industrialisierte Gesellschaft. |
Das sagst du so. Möglicherweise ist aber diese große, überbevölkerte, industrialisierte Gesellschaft bloß Ausdruck einer Art von Kultivierung eben dieser Triebe. Und da vermag ich, bei neutraler Betrachtung, keinen wesentlichen Unterschied zwischen einem kultivierten Rachebedürfnis (Schuld-Sühne-Prinzip in der Rechtssprechung) und einem kultivierten Altruismus (Wohlfahrtsstaat) zu erkennen. Ein seine Arbeiter ausbeutender Unternehmer könnte ebenso sagen: Humanismus ist in unserer globalisierten, wettbewerbsorientierten Welt nicht mehr zeitgemäß.
step hat folgendes geschrieben: | Und auch unser Wissen (etwa über Krankheiten, Fortpflanzung, Erkenntnistheorie, Spieltheorie, ...) hat zugenommen. |
Aber Wissenschaft und Philosophie stehen doch nicht über den Dingen. Auch sie sind bloß Ausdruck und Ventil (bestenfalls Werkzeug) bestimmter Gefühle und Triebe.
step hat folgendes geschrieben: | Gerechtigkeit kann in einer aufgeklärten Gesellschaft bedeuten, daß demokratisch vereinbarte Rechte einforderbar sind. |
Das ist doch durch Begriffe wie "Rechtsstaatlichkeit" oder "Rechtssicherheit" viel treffender bezeichnet. Im Übrigen kämest du mit dieser Definition nicht umhin, etwa die Scharia als gerecht anzusehen, sofern sie in einem Land von "demokratisch legitimierten Kräften" (auch so eine schwammige Begrifflichkeit) eingeführt würde.
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
Wohnort: Germering
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(#575569) Verfasst am: 01.10.2006, 18:00 Titel: |
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Zumsel hat folgendes geschrieben: | Aber Wissenschaft und Philosophie stehen doch nicht über den Dingen. Auch sie sind bloß Ausdruck und Ventil (bestenfalls Werkzeug) bestimmter Gefühle und Triebe. |
Da Betreiben von Wissenschaft ist tatsächlich auch Ausdruck bestimmter Gefühle und Triebe. Aber das gefundene Wissen ist zum Teil unabhängig davon.
Zumsel hat folgendes geschrieben: | step hat folgendes geschrieben: | Gerechtigkeit kann in einer aufgeklärten Gesellschaft bedeuten, daß demokratisch vereinbarte Rechte einforderbar sind. | Das ist doch durch Begriffe wie "Rechtsstaatlichkeit" oder "Rechtssicherheit" viel treffender bezeichnet. Im Übrigen kämest du mit dieser Definition nicht umhin, etwa die Scharia als gerecht anzusehen, sofern sie in einem Land von "demokratisch legitimierten Kräften" (auch so eine schwammige Begrifflichkeit) eingeführt würde. |
So ist es. Gerechtigkeit ist nicht Absolutes, sondern immer nur das, was die Mehrheit dafür hält. In einer nichtaufgeklärten Gesellschaft bedeutet Gerechtigkeit eben etwas anderes.
_________________ Was ist der Sinn des Lebens? - Keiner, aber Leere ist Fülle für den, der sie sieht.
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Deus ex Machina registrierter User
Anmeldungsdatum: 14.03.2006 Beiträge: 789
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(#575814) Verfasst am: 02.10.2006, 00:26 Titel: |
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Zumsel hat folgendes geschrieben: | Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | Ob man das jetzt "simples Rachedenken" oder "Schuld- und Sühneprinzip" nennt, ist für mich eine Frage der rhetorischen Absicht, oder genauer: Schuld- und Sühneprinzip ist geregeltes und institutionalisiertes Rachedenken. |
Richtig, sowie der Begriff "Gerechtigkeit" sich bei genauerer Betrachtung schlichtweg IMMER als "Institutionalisierung" "archaischer Triebe" entpuppt. Erstaunlicherweise wird das in unserem Kulturkreis allerdings nur bezüglich des Rachegefühls klar ausgesprochen, während zum Beispiel die Regung des Mitgefühls positiv bewertet wird und eher selten Attribute wie "archaisch" oder "primitiv" bekommt (der Grund dafür dürfte im christlichen Nächstenliebe- und Vergebungsgebotes liegen). Wer also das Strafprinzip mit der Begründung, es spiegle "primitive Urtriebe" wieder, verwirft, sollte so konsequent sein, den Gerechtigkeitsbegriff (auch im wirtschaftlich-sozialpolitischen Sinne) überhaupt zu verwerfen. Oder aber zugeben, dass er die Wörter "primitiv" und "archaisch" nur in die Diskussion wirft, um Regungen, die seinen eigenen, nicht minder primitiven Urbedürfnissen widersreben, als unterlegen dastehen zu lassen. |
Du hast natürlich damit recht, dass letztlich jedwede Präferenzsetzung auf "archaische Triebe" zurückgeht. Der Mensch sollte aber in der Lage sein, sofern sich solche widersprechen, sie gegeneinander abzuwägen. Insbesondere geht es auch darum zu erkennen, dass es kurzfristige, in der Situation entstehende Zu- und Abneigungen gibt, denen beständigere und bei reflektierter Betrachtung gewichtigere Urteile gegenüber stehen. So werden z.B. wohl viele Menschen den Anblick zweier sich küssenden Männer unangenehm finden, dennoch hat sich ziemlich allgemein die Erkenntnis durchgesetzt, dass Homosexualität nichts verwerfliches ist. Analoges sollte mE für Rachgelüste gelten.
Mitleid steht wohl tatsächlich auf derselben Stufe (die ich aber bestimmt nicht "primitiv" genannt habe) wie diese. Genauso wie für das Justitzsystem gibt es aber auch für den Sozialstaat weitergehende, "vernünftigere" Gründe als Mitleid. Im Alltag dagegen wird Mitleid in viel geringerem Masse als eben Rache weitergehenden Schaden verursachen (und wenn doch, halte ich die Mitleidsbekundung tatsächlich für genau so falsch wie die Rache). In denjenigen Berufe, in denen Mitleid (einer als wichtiger betrachteten Präferenz) schädlich sein kann, müssen die entsprechenden Berufsleute natürlich genauso lernen, damit umzugehen, wie eine Erziehungsperson lernen muss, ihre Hand nicht ausrutschen zu lassen.
Zitat: | Ist eben immer so eine Sache mit möchtegernelitären Menschheitsverbesserern. |
Cool, danke für die neue Signatur!
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Deus ex Machina registrierter User
Anmeldungsdatum: 14.03.2006 Beiträge: 789
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(#575837) Verfasst am: 02.10.2006, 01:22 Titel: |
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step hat folgendes geschrieben: | - Die allermeisten Menschen haben noch nicht einmal die von Dir als trivial bezeichnete Tatsache verstanden, daß ein auch nur teilweise echt freier Wille unlogisch ist. Schon das würde sie zu sehr verunsichern.
- Manche Philosophen dagegen sind sich zwar dieser (in der Tat schon vor Jahrhunderten erkannten) Tatsache bewußt, versuchen aber aus ideologischen oder praktischen Gründen einen gleichlautenden Begriff zu retten, der aber bei näherem Hinsehen nur noch ein Epiphänomen beschreibt (Kompatibilismus). |
Eigentlich volle Zustimmung. Ich denke aber, dass es jedenfalls weitaus sinnvoller ist, den Menschen generell als "frei" denn als "unfrei" zu bezeichnen. Insbesondere Formulierungen à la "Der Mensch steht den ihn determinierenden Faktoren machtlos gegenüber" (die ich Dir hiermit nicht unterstellen will) oder die von Dir angesprochene "naturgesetzliche Unfreiheit" halte ich für sinnlos. Unfreiheit oder Machtlosigkeit setzt ja immer einen Widerspruch zwischen dem (eigentlichen) Willen einer Person und einem als fremd empfundenen Teil der Welt voraus, was bei meinem Willen ja a priori nicht der Fall ist. Ich kann mich gar nicht als Sklave der Naturgesetze erleben. Gerade weil die traditionelle Freiheitsidee unstimmig ist, macht es auch keinen Sinn mehr zu sagen, dass der Mensch durch die Naturgesetzlichkeit der Welt unfrei gemacht würde, denn dabei müsste man ja gerade jenen zu verwerfende Freiheitsidee im Kopf haben. Letztlich halte ich es auch deshalb für sinnvoll, den Menschen im Normzustand frei zu nennen, weil wir sonst einen eingekerkerten auch nicht als unfrei bezeichnen könnten; wir könnten nicht einmal sagen, dass er unfreier (=weniger frei) ist, als ein nicht eingekerkerter.
Deine Frage, wie man Freiheit definieren könnte, würde ich deshalb für mich vielleicht einfach so beantworten: Freiheit ist die Abwesenheit von Unfreiheit. Ob ein Mensch unfrei ist, kann man in der jeweiligen konkreten Situation wohl recht klar bestimmen, ohne dabei mit der Missverständlichkeit und Bedeutungsschwere des Begriffes "Freiheit" zu kämpfen zu haben.
(Interessanterweise scheint mir hier der positive Begriff ('Freiheit') kaum begrifflich zu fassen, während seine Negation eine recht konkrete, unmissverstänliche Bedeutung hat. Das gleiche würde ich für "Glück" und dessen Gegenteil sagen. Wie wusste doch schon Voltaire: "Das Glück ist nur ein Traum, der Schmerz ist real." Interessant fände ich deshalb die Frage, weshalb sich hier nicht für das anschauliche Phänomen der Begriff x und für seine Abwesenheit, die den Normalfall darstellt, dann einfach nicht-x entwickelt hat, wie das ja meistens (z.B. bei "Regen") der Fall ist. Aber ich schweife ab...)
Ich glaube aber weiterhin, dass die Schuld- und Sühneidee mit dem (haltlosen) Vorwurf, dass die Tat auch unterlassen hätte werden können, also mit dem von den allermeisten akzeptierten inkompatibilistischen Freiheitsbegriff steht und vor allem fällt.
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kolja der Typ im Maschinenraum

Anmeldungsdatum: 02.12.2004 Beiträge: 16631
Wohnort: NRW
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(#575955) Verfasst am: 02.10.2006, 11:12 Titel: |
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AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Du argumentierst wie Singer. Ich finde diese Argumentation falsch, weil natürlich nicht das Bewusstsein für sich genommen unabhängig von seinen Prägungen entscheidet. Das ist selbstverständlich und sollte auch jedem direkt einsichtig sein. Reduziert man das Ich auf das "bewusste Ich", dann bekommt man ein falsches Selbstbild und kommt zu falschen Schlussfolgerungen. |
Du wiederholst Dich, also muss ich mich auch wiederholen: Es gibt hier nicht um Reduktion, sondern um genauere Differenzierung zwischen den bewussten und den unbewussten Anteilen von Entscheidungsprozessen. Wie man die Teile nennt ist für die Argumentation und die Schlussfolgerungen unbedeutend. Nach meinem Verständnis wählt Roth die Begriffe "(bewusstes) Ich" und "Persönlichkeit" (damit meint er im Groben das limbische System) deshalb, weil sich diese Begriffe als handlich und kompatibel zu anderen Humanwissenschaften erweisen, und weil sich sein Modell auch auf solche interdisziplinären Erkenntnisse abstützt.
Da Du aber im Wesentlichen sagst, dass Entscheidungen in höherem Maße frei sind, wenn sie in höherem Maße bewusst gefällt werden, muss eine Kritik dieses Freiheitsbegriffs zwangsläufig eine differenzierte Betrachtung der Gewichte und Funktionen bewusster und unbewusster Prozesse in der Entscheidung enthalten. Wenn Deine Erwiderung darauf immer wieder nur in einer Kritik der Unterscheidung als solcher oder der dafür gewählten Begriffe besteht, versperrst Du Dich einer eingehenden Diskussion Deines Freiheitsbegriffs.
Und dann gab es bei Dir, wenn ich mich recht erinnere, eine noch etwas andere Definition des Freiheitsbegriffs: Entscheidungen sind dann in höherem Maße frei, wenn sie mehr der Persönlichkeit entsprechen und weniger durch als Zwang empfundene Umstände herbeigeführt werden. Diese Definition entspricht eher dem subjektiv empfundenen Freiheitsgefühl, ist aber inkompatibel mit der vorangehenden Definition. Eine wenig reflektierte und spontan gefällte Entscheidung kann sich besonders frei anfühlen, weil sie einem starken inneren Motiv folgt, ohne dass ein Konflikt mit anderen, ähnlich starken Motiven besteht. Eine Entscheidung hingegen, bei der wir lange und qualvoll zwischen inneren Bedürfnissen und äußeren Zwängen abwägen (letztere ziehen wir ja auch nur deshalb in Betracht, weil dadurch andere Bedürfnisse tangiert werden), ist zwar hochgradig reflektiert, fühlt sich aber deutlich weniger "frei" bzw. "unserer Persönlichkeit entsprechend" an.
Das zeigt, das diese beiden Definitionen miteinander inkompatibel sind, und erstere Definition unserem intuitiven Freiheitsgefühl diametral entgegengesetzt stehen kann.
kolja hat folgendes geschrieben: | [...] Viel interessanter wäre z.B. die Frage, wie "frei" die Handlungsentscheidung von Gewalttätern zustande kommen. Darauf hier weiter einzugehen wird mir jetzt zuviel, da müsste ich selber nochmal nachlesen. Nur soviel sei dazu gesagt: wenn man den kompatibilistischen Freiheitsbegriff ernst nimmt und ihn nicht nur rein zweckorientiert vertritt, dann wird schnell klar, dass er zur Begründung des Schuldbegriffs im praktischen Strafrecht ziemlich untauglich ist. |
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Deine weiteren Ausführungen dazu interessieren mich. |
Aus Zeitmangel schnell ergoogelt ...
Gerhard Roth hat folgendes geschrieben: | Der strafrechtliche Schuldbegriff
Neben dem Gedanken der Abschreckung und der Stärkung des Rechtsbewusstseins (General- und Spezialprävention) ist für das deutsche Strafrecht die Verwerflichkeit der Tat zentral. Der Täter musste wissen oder hätte wissen müssen, dass er Unrecht begeht. Hiermit bringt er die moralische Ordnung aus dem Gleichgewicht. Hierin ist seine moralische Schuld begründet. Entsprechend heißt es im bekannten Strafrechts-Lehrbuch von Wessels und Beulke, Allgemeiner Teil (Wessels und Beulke, 2002): „In Übereinstimmung mit dem Menschenbild des Grundgesetzes beruht das deutsche Strafrecht auf dem Schuld- und Verantwortungsprinzip:
Strafe setzt Schuld voraus ... Grundlage des Schuld- und Verantwortungsprinzips ist die Fähigkeit des Menschen, sich frei und richtig zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden.
Nur wenn diese Entscheidungsfreiheit existiert, hat es Sinn, einen Schuldvorwurf gegen den Täter zu erheben“ (Wessels/Beulke, a.a.O. S. 125).
Weiter heißt es: „Der Gegenstand des Schuldvorwurfs ist die in der rechtswidrigen Tat zum Ausdruck kommende fehlerhafte Einstellung des Täters zu den Verhaltensanforderungen der Rechtsordnung. Die innere Berechtigung des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie Selbstbestimmung angelegt und bei Anspannung seines ‚Rechtsgewissens’ im Stande ist, das rechtlich Verbotene zu vermeiden, sobald er die geistig-sittliche Reife erlangt hat und solange er nicht wegen schwerer seelischer Störungen iSd § 20 [StGB] unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln“ (a.a.O. S. 127).
Ein solcher „moralischen“ Schuldbegriff ist auf einem starken Begriff von Willensfreiheit aufgebaut. Dies steht nicht nur den oben angeführten Erkenntnissen entgegen, sondern auch die kriminalpsychologische Erkenntnis, dass sich zum Beispiel bei allen eingehend untersuchten Serien-Gewalttätern deutliche Zeichen schwerer Persönlichkeits- und Ich-Störungen feststellen lassen. Diese lassen sich drei Symptombereichen zuordnen, nämlich (1) mangelnde Impulskontrolle, (2) mangelnde Empathie und (3) mangelnde Affektregulation. Viele Serien-Gewalttäter berichten, dass sie sich allgemein von der Umwelt und speziell von bestimmten Personen bedroht fühlten und sich deshalb „wehren“ mussten. Der Gewaltakt wirkt als Angst-Befreiung.
Bei den meisten Gewalttätern finden sich weit vor Beginn von „Heim-Karrieren“ Anzeichen für gewalttätiges Verhalten. Dieses Verhalten lässt sich entweder auf frühe hirnorganische Störungen, z.B. Fehlentwicklungen oder Verletzungen im so genannten orbitofrontalen Cortex, auf vor- oder nachgeburtliche Störungen im „zerebralen Beruhigungssystem“ (Serotonin, Dopamin, NPY, Oxytocin) oder auf körperliche oder psychische Traumatisierung in früher Jugend zurückführen. Viele Gewalttäter waren in früher Jugend selbst Opfer von Gewalt und schwerer Vernachlässigung oder mussten in ihrer unmittelbaren Umgebung häufig Akte von Gewalt erleben.
Aus dieser Sicht ergibt sich folgendes „Schuld-Paradoxon“: Je schwerer die Straftat und die „moralische“ Schuld, desto deutlicher erkennbar ist die psychische Zwangssituation der Täter. Diese wird häufig in früher Kindheit erkennbar, bevor der Täter im rechtlichen Sinne schuldfähig sein kann.
Fazit: Sofern sich die Erkenntnisse der Hirnforschung und der Persönlichkeitspsychologie weiter erhärten, muss im Strafrecht das Prinzip der moralischen Schuld aufgegeben werden. Es rückt damit der Gedanke der Normenverletzung in den Vordergrund, bei der die Gesellschaft das Recht hat, sie zu ahnden. Erziehung, Therapie und Schutzes der Gesellschaft vor unerziehbaren bzw. nicht therapierbaren Straftätern treten dann anstelle des strafrechtlichen Sühnegedankens. |
_________________ Hard work often pays off after time, but laziness always pays off now.
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kolja der Typ im Maschinenraum

Anmeldungsdatum: 02.12.2004 Beiträge: 16631
Wohnort: NRW
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(#575963) Verfasst am: 02.10.2006, 11:38 Titel: |
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Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | Ich glaube aber weiterhin, dass die Schuld- und Sühneidee mit dem (haltlosen) Vorwurf, dass die Tat auch unterlassen hätte werden können, also mit dem von den allermeisten akzeptierten inkompatibilistischen Freiheitsbegriff steht und vor allem fällt. |
Ohne Kommentar:
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Ich sehe den Menschen als eigenverantwortliches Wesen, dessen Handlungen maßgeblich durch ihn selber bestimmt werden. Für diese seine eigenen Handlungen kann er zur Rechenschaft gezogen werden, für Handlungen jedoch, die er nicht maßgeblich beeinflussen kann, darf er nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ist er für seine Handlungen verantwortlich und begeht er eine Handlung, die festgelegten Normen der Gesellschaft entgegensteht, dann ist es keine Verzweckung, wenn er dafür bestraft wird, denn er hätte die Bestrafung durch anderes Handeln abwenden können. |
Na gut, doch noch ein Kommentar. AgentProvocateur sagt ja auf Rückfrage, dass hinter "hätte anders Handeln können" bei ihm immer ein unausgesprochenes "wenn die Umstände anders gewesen wären" steht. Dann ergänze ich das Zitat mal enstprechend:
Zitat: | [...] und begeht er eine Handlung, die festgelegten Normen der Gesellschaft entgegensteht, dann ist es keine Verzweckung, wenn er dafür bestraft wird, denn er hätte die Bestrafung durch anderes Handeln abwenden können, wenn die Umstände entsprechend anders gewesen wären. |
Irgendwie verliert der Satz damit massiv an Überzeugungskraft, und ich werde den Eindruck nicht los, dass der Zusatz nicht nur aus sprachökonomischen Gründen erst bei Bedarf nachgereicht wird ...
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Deus ex Machina registrierter User
Anmeldungsdatum: 14.03.2006 Beiträge: 789
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(#575988) Verfasst am: 02.10.2006, 12:38 Titel: |
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kolja hat folgendes geschrieben: | Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | Ich glaube aber weiterhin, dass die Schuld- und Sühneidee mit dem (haltlosen) Vorwurf, dass die Tat auch unterlassen hätte werden können, also mit dem von den allermeisten akzeptierten inkompatibilistischen Freiheitsbegriff steht und vor allem fällt. |
Ohne Kommentar:
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Ich sehe den Menschen als eigenverantwortliches Wesen, dessen Handlungen maßgeblich durch ihn selber bestimmt werden. Für diese seine eigenen Handlungen kann er zur Rechenschaft gezogen werden, für Handlungen jedoch, die er nicht maßgeblich beeinflussen kann, darf er nicht zur Verantwortung gezogen werden. Ist er für seine Handlungen verantwortlich und begeht er eine Handlung, die festgelegten Normen der Gesellschaft entgegensteht, dann ist es keine Verzweckung, wenn er dafür bestraft wird, denn er hätte die Bestrafung durch anderes Handeln abwenden können. |
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Ich sehe nicht ganz, was Du mir damit sagen willst. Mir ist bewusst, dass sich meine Meinung in diesem Punkt stark von derjenigen APs unterscheidet. Gerade deshalb habe ich das oben noch einmal klargestellt.
Zitat: | Zitat: | [...] und begeht er eine Handlung, die festgelegten Normen der Gesellschaft entgegensteht, dann ist es keine Verzweckung, wenn er dafür bestraft wird, denn er hätte die Bestrafung durch anderes Handeln abwenden können, wenn die Umstände entsprechend anders gewesen wären. |
Irgendwie verliert der Satz damit massiv an Überzeugungskraft, und ich werde den Eindruck nicht los, dass der Zusatz nicht nur aus sprachökonomischen Gründen erst bei Bedarf nachgereicht wird ... |
Diesem Eindruck kann ich mich auch nicht erwehren. Es hat sich ja schon mehrmals der ungefähr folgende Wortwechsel abgespielt:
X: Es ist sinnlos, jemandem vorzuwerfen, er hätte eine Tat auch unterlassen können, da sie sich eben zwangsläufig aus den jeweiligen Vorbedingungen ergeben hat.
AP: Meiner Meinung nach hätte die Tat unterlassen werden können.
X: Blabla... Wissenschaft... Determinismuss... alles andere wäre Zufall.
AP: Ich meine: Wenn die Umstände anders gewesen wären, hätte die Tat unterlassen werden können
X: Ja, und wenn die Billardkugel anders angestossen worden wäre, wäre sie auch anders gerollt.
AP: Eine Billardkugel hat im Gegensatz zu einem Menschen aber keinen Willen. Ein ziemlich entscheidender Unterschied, wie ich finde.
Deshalb frage ich mich, weshalb er... ist irgendwie unhöflich, dauernd in der dritten Person zu sprechen: ...weshalb Du, werter Agent Provocatuer, die moralische Verantwortlichkeit mit dem "hätte auch unterlassen werden können" verknüpfst, wenn Du dann auf Nachfrage jeweils klarstellst, dass das eigentlich entscheidende der Wille zur Handlung ist. Weshalb benutzt Du die Floskel überhaupt, wenn Du sie doch angeblich in einem Sinne verstehst, in der sie auch für Billardkugeln gilt wenn es Dir eben eigentlich nur um den die Tat bedingenden Willen geht?
Wenn der Unterschied zwischen dem Menschen und der Billardkugel für Dich tatsächlich der Wille des Menschen ist: Kann ein Mensch für einen Willen verantwortlich gemacht werden, der sich zwangsläufig ergeben hat? Kann man ihm diesen Willen vorwerfen?
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AgentProvocateur registrierter User
Anmeldungsdatum: 09.01.2005 Beiträge: 7851
Wohnort: Berlin
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(#575991) Verfasst am: 02.10.2006, 12:49 Titel: |
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step hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Es geht um die Frage, über wessen freien Willen hier überhaupt gesprochen wird. Wenn man dann, so wie Singer das tut, einfach nur sagt, das Bewusstsein hätte keinen freien Willen, dann geht das eben völlig am Thema vorbei, denn das Ich ist nicht gleichzusetzen mit dem Bewusstsein. |
Natürlich mutmaßt Singer, wer oder was wohl als frei bezeichnet werden könnte - und es ist immer ein leichtes, dann zu sagen: Das hab ich aber gar nicht gemeint, oder sich auf ein Definitionsscharmützel solch schwammiger Begriffe wie "Ich" zurückzuziehen. |
Ich werde unten bei der Antwort an kolja versuchen, das etwas auszuführen.
step hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Man kann zum Beispiel nicht als Forschungsergebnis herausbekommen, das Bewusstsein sei ein Epiphänomen, denn dann würde dieses Forschungsergebnis automatisch hinfällig. |
Das sehe ich anders. Eine Theorie, die überprüfbare Voraussagen macht (z.B. über die Bedingungen für die Entstehung eines Epiphänomens), ist ein gutes Modell der Realität, egal ob sie Stein, Mensch oder Urknall beschreibt. Die (natürlich prinzipiell mögliche) Abhängigkeit der Voraussagen über das Bewußtsein des Probanden vom Bewußtsein des Wissenschaftlers kann methodisch auf unwesentliche Einflüsse reduziert werden. Falls Du das nicht so siehst: Wieso genau nicht? |
Ein Epiphänomen ist eine unwesentliche Zusatzerscheinung, die für die Funktion des Prozesses keine Rolle spielt. Zum Beispiel ist die Erwärmung eines Prozessors ein Epiphänomen. Für die Funktion des Prozessors ist es unerheblich, ob er sich erwärmt oder nicht (solange eine Grenztemperatur nicht überschritten wird).
Wenn das Bewusstsein lediglich ein Phänomen ohne Funktion wäre, dann könnten wir diesem Bewusstsein nicht trauen, denn es gäbe keinerlei Grund dafür, dass dieses etwas Sinnvolles darstellen würde. Das wäre dann nicht notwendig und daher wäre es viel wahrscheinlicher, dass einfach irgend etwas Beliebiges bewusst würde.
Ohne die Annahme eines erkennenden und reflektierenden Bewusstsein ist aber natürlich Wissenschaft nicht möglich.
step hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Das wird aber dem eigentlichen Problem nicht gerecht: inwiefern ist der Mensch ein Subjekt und inwiefern trägt er Verantwortung für die Handlungen, die er verursacht. |
Die Zumessung von Verantwortung, Strafrecht usw. ist - das hatten wir ja schonmal - ein moralisches bzw. praktisch-ethisches Problem - für mich der zweite Schritt. Mich interessieren erstmal die Grundlagen. Man kann ja nicht einfach an eine nicht näher definierte Freiheit glauben, nur damit es leichter wird, Gesetze zu erlassen. |
Ja, ok, Du hast recht. Allerdings möchte ich gerne wieder von dem Begriff Willensfreiheit weg, denn Du hast eine ganz bestimmte Vorstellung davon, die aber eben denkunmöglich ist. Wenn wir uns also nur um Begriffe streiten, kommen wir nicht weiter.
Die Frage überhaupt erst einmal schlüssig zu formulieren, ist schon gar nicht so einfach. Es reicht jedenfalls nicht, zu fragen: hätte jemand anders handeln können, als er gehandelt hat, denn warum hätte er anders sollen? Wenn er andere Gründe oder andere Gewichtungen gehabt hätte, dann hätte er sicher anders handen können, aber in derselben Situation unter denselben Umständen hätte er ja keinen Grund gehabt, anders zu handeln.
Die Frage muss also lauten: kann der Mensch seine Handlungen selber bestimmen? Und ich denke eben schon, dass er das kann. Ich denke sogar, dass rationale Diskurse und überhaupt Wissenschaft nicht möglich wären, wenn er das nicht könnte.
Sind diese selbstbestimmten Handlungen "frei"? Das kommt nur auf die Definition von "frei" an. So wie "frei" hier normalerweise definiert wird, ist etwas "freies" prinzipiell nicht möglich, daher ist natürlich nach dieser Definition nichts "frei", weder der Wille, noch Handlungen, noch irgend etwas anderes.
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AgentProvocateur registrierter User
Anmeldungsdatum: 09.01.2005 Beiträge: 7851
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(#576006) Verfasst am: 02.10.2006, 13:38 Titel: |
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kolja hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Du argumentierst wie Singer. Ich finde diese Argumentation falsch, weil natürlich nicht das Bewusstsein für sich genommen unabhängig von seinen Prägungen entscheidet. Das ist selbstverständlich und sollte auch jedem direkt einsichtig sein. Reduziert man das Ich auf das "bewusste Ich", dann bekommt man ein falsches Selbstbild und kommt zu falschen Schlussfolgerungen. |
Du wiederholst Dich, also muss ich mich auch wiederholen: Es gibt hier nicht um Reduktion, sondern um genauere Differenzierung zwischen den bewussten und den unbewussten Anteilen von Entscheidungsprozessen. Wie man die Teile nennt ist für die Argumentation und die Schlussfolgerungen unbedeutend. Nach meinem Verständnis wählt Roth die Begriffe "(bewusstes) Ich" und "Persönlichkeit" (damit meint er im Groben das limbische System) deshalb, weil sich diese Begriffe als handlich und kompatibel zu anderen Humanwissenschaften erweisen, und weil sich sein Modell auch auf solche interdisziplinären Erkenntnisse abstützt. |
Ich redete von Singer, nicht von Roth. Anhand dieses Textes von ihm möchte ich kurz aufzeigen, was mich an seiner Darstellung stört.
Singer hat folgendes geschrieben: | Man sucht einen Namen, findet ihn nicht, die Aufmerksamkeit wandert zum nächsten Problem und plötzlich taucht der gesuchte Name im Bewußtsein auf. Ein Beispiel von vielen, das illustriert, daß unser Gehirn, nachdem sich ein Bedürfnis eingestellt hat, offenbar ganz ohne unser „bewußtes“ Zutun Speicher durchsuchen, die Stimmigkeit des Gefundenen mit dem Gesuchten überprüfen und das Resultat ins Bewußtsein bringen kann. Und dann gibt es die obligat bewußten Prozesse, zu denen alle sprachlich gefassten Vorgänge gehören. |
Mit dieser Darstellung habe ich gewisse Probleme, denn sie stimmt nicht mit meinem Selbstsbild überein. Singer versucht hier extrem zu trennen zwischen bewussten und unbewussten Vorgängen, was aber mMn gar nicht möglich ist. Es gibt gar keine Vorgänge, die komplett im Bewusstsein ablaufen, auch nicht Kommunikation, also reden oder schreiben. Einen Namen zu finden, indem man an etwas anderes denkt, ist aber auch nicht vom Bewusstsein unabhängig, denn diese Strategie kann auch bewusst angewendet werden (an etwas anderes denken).
Ebenso ist es mit anderen Vorgängen; die nie komplett im Bewusstsein ablaufen können, was aber eben keineswegs heißt (so wie Singer immer wieder versucht, zu suggerieren und worauf ein Großteil seiner Argumentation beruht), dass sie dem Bewusstsein vorgelagert wären. Wenn man spricht, wenn man schreibt, wenn man Auto fährt, wenn man ein Instrument spielt oder Tischtennis, immer laufen sehr viel mehr unbewusste als bewusste Vorgänge ab. Diese Vorgänge müssen erlernt und eingeübt werden. Das Unterbewusstsein kann also Routinedinge erledigen, ohne dass sich das Bewusstsein darum kümmern müsste und das Bewusstsein kann diese Routinedinge an das Unterbewusstsein delegieren. In diesen Fällen würde ich aber die Kontrolle dem Bewusstsein zusprechen.
kolja hat folgendes geschrieben: | Da Du aber im Wesentlichen sagst, dass Entscheidungen in höherem Maße frei sind, wenn sie in höherem Maße bewusst gefällt werden, [...]
Und dann gab es bei Dir, wenn ich mich recht erinnere, eine noch etwas andere Definition des Freiheitsbegriffs: Entscheidungen sind dann in höherem Maße frei, wenn sie mehr der Persönlichkeit entsprechen und weniger durch als Zwang empfundene Umstände herbeigeführt werden. Diese Definition entspricht eher dem subjektiv empfundenen Freiheitsgefühl, ist aber inkompatibel mit der vorangehenden Definition. |
Eine Entscheidung muss bewusst gefällt werden und der Persönlichkeit entsprechen, was das Fehlen von Zwang bedeutet. Das widerspricht sich nicht. Allerdings habe ich auch nicht versucht, ein Maß der Freiheit über das Maß der Bewusstheit zu definieren. Wichtig ist nur, dass die Entscheidung überhaupt bewusst getroffen wurde, ein völlig unbewusster Vorgang (z.B. schwitzen) kann nicht frei sein.
kolja hat folgendes geschrieben: | kolja hat folgendes geschrieben: | [...] Viel interessanter wäre z.B. die Frage, wie "frei" die Handlungsentscheidung von Gewalttätern zustande kommen. Darauf hier weiter einzugehen wird mir jetzt zuviel, da müsste ich selber nochmal nachlesen. Nur soviel sei dazu gesagt: wenn man den kompatibilistischen Freiheitsbegriff ernst nimmt und ihn nicht nur rein zweckorientiert vertritt, dann wird schnell klar, dass er zur Begründung des Schuldbegriffs im praktischen Strafrecht ziemlich untauglich ist. |
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Deine weiteren Ausführungen dazu interessieren mich. |
Aus Zeitmangel schnell ergoogelt ...
Gerhard Roth hat folgendes geschrieben: | Der strafrechtliche Schuldbegriff
[...] Entsprechend heißt es im bekannten Strafrechts-Lehrbuch von Wessels und Beulke, Allgemeiner Teil (Wessels und Beulke, 2002): „In Übereinstimmung mit dem Menschenbild des Grundgesetzes beruht das deutsche Strafrecht auf dem Schuld- und Verantwortungsprinzip:
Strafe setzt Schuld voraus ... Grundlage des Schuld- und Verantwortungsprinzips ist die Fähigkeit des Menschen, sich frei und richtig zwischen Recht und Unrecht zu entscheiden.
Nur wenn diese Entscheidungsfreiheit existiert, hat es Sinn, einen Schuldvorwurf gegen den Täter zu erheben“ (Wessels/Beulke, a.a.O. S. 125).
[...] sondern auch die kriminalpsychologische Erkenntnis, dass sich zum Beispiel bei allen eingehend untersuchten Serien-Gewalttätern deutliche Zeichen schwerer Persönlichkeits- und Ich-Störungen feststellen lassen. [...] Bei den meisten Gewalttätern finden sich weit vor Beginn von „Heim-Karrieren“ Anzeichen für gewalttätiges Verhalten. Dieses Verhalten lässt sich entweder auf frühe hirnorganische Störungen, z.B. Fehlentwicklungen oder Verletzungen im so genannten orbitofrontalen Cortex, auf vor- oder nachgeburtliche Störungen im „zerebralen Beruhigungssystem“ (Serotonin, Dopamin, NPY, Oxytocin) oder auf körperliche oder psychische Traumatisierung in früher Jugend zurückführen. [...]
Aus dieser Sicht ergibt sich folgendes „Schuld-Paradoxon“: Je schwerer die Straftat und die „moralische“ Schuld, desto deutlicher erkennbar ist die psychische Zwangssituation der Täter. Diese wird häufig in früher Kindheit erkennbar, bevor der Täter im rechtlichen Sinne schuldfähig sein kann.
Fazit: Sofern sich die Erkenntnisse der Hirnforschung und der Persönlichkeitspsychologie weiter erhärten, muss im Strafrecht das Prinzip der moralischen Schuld aufgegeben werden. Es rückt damit der Gedanke der Normenverletzung in den Vordergrund, bei der die Gesellschaft das Recht hat, sie zu ahnden. Erziehung, Therapie und Schutzes der Gesellschaft vor unerziehbaren bzw. nicht therapierbaren Straftätern treten dann anstelle des strafrechtlichen Sühnegedankens. |
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Ich habe das mal ein wenig gekürzt. Wichtig scheint mir zu sein, dass das Menschenbild des Grundgesetzes aufgegeben werden soll. Anstelle dessen soll ein Menschenbild eines an sich prinzipiell unmündigen Menschen gesetzt werden, dessen Handlungen nicht durch ihn bestimmt werden, sondern von den Umständen. Dieses Menschenbild gefällt mir nicht, wie schon mehrfach betont.
Begründung sind hier Ausnahmefälle von Tätern, die durch eine Erkrankung oder durch ungewöhnlich psychische Umstände ihre Persönlichkeit nicht voll entwickeln konnten. Dies gibt es ja sicherlich, jedoch wäre das eben für mich kein Grund, gleich alle Menschen für unmündig erklären zu wollen.
Wenn jemand vom "Schutze der Gesellschaft" redet, von "unerziehbar" und "nicht therapierbar", dann bin ich etwas misstrauisch.
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Zuletzt bearbeitet von AgentProvocateur am 02.10.2006, 13:54, insgesamt einmal bearbeitet |
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AgentProvocateur registrierter User
Anmeldungsdatum: 09.01.2005 Beiträge: 7851
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(#576009) Verfasst am: 02.10.2006, 13:47 Titel: |
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Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | Deshalb frage ich mich, weshalb er... ist irgendwie unhöflich, dauernd in der dritten Person zu sprechen: ...weshalb Du, werter Agent Provocatuer, die moralische Verantwortlichkeit mit dem "hätte auch unterlassen werden können" verknüpfst, wenn Du dann auf Nachfrage jeweils klarstellst, dass das eigentlich entscheidende der Wille zur Handlung ist. Weshalb benutzt Du die Floskel überhaupt, wenn Du sie doch angeblich in einem Sinne verstehst, in der sie auch für Billardkugeln gilt wenn es Dir eben eigentlich nur um den die Tat bedingenden Willen geht?
Wenn der Unterschied zwischen dem Menschen und der Billardkugel für Dich tatsächlich der Wille des Menschen ist: Kann ein Mensch für einen Willen verantwortlich gemacht werden, der sich zwangsläufig ergeben hat? Kann man ihm diesen Willen vorwerfen? |
Nein, für einen Willen, der sich zwangläufig ergeben hat, kann ein Mensch nicht verantwortlich gemacht werden. Es muss also hinzukommen, dass der Mensch zu dieser Entscheidung aus sich selber heraus gekommen ist. Wurde die Entscheidung durch äußere oder innere (z.B. Sucht) Zwänge maßgeblich verursacht, dann kann man sie nicht dem Menschen anlasten.
Die Frage ist nun, ob und warum durch die Naturgesetzlichkeit alles Geschehens folgen sollte, dass eine bewusste willentliche Entscheidung gleich zu bewerten sei, wie eine gänzlich unbewusste Regung oder eine Entscheidung unter Zwang.
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Deus ex Machina registrierter User
Anmeldungsdatum: 14.03.2006 Beiträge: 789
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(#576021) Verfasst am: 02.10.2006, 14:12 Titel: |
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AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Dieses Menschenbild gefällt mir nicht, wie schon mehrfach betont. |
Die Vorstellung, die Krone der Schöpfung zu sein, gefiele mir auch besser als diejenige, mehr oder weniger zufällig aus der Ursuppe entstanden zu sein.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Wenn jemand vom "Schutze der Gesellschaft" redet, von "unerziehbar" und "nicht therapierbar", dann klingeln bei mir einfach die Alarmglocken. |
Dass Du die Konsequenzen fürchtest, die aus Deiner Sicht aus den angesprochen Erkenntnissen zu entstehen drohen, ist doch Argument genug, selbigen Vorschub zu leisten. Dazu musst Du nicht erst die angeblich dazu führenden Erkenntnisse angreifen. Das wäre allenfalls ein taktisches Vorgehen, aber keines von argumentativer Redlichkeit. (Bitte beachten: Ich will damit nicht sagen, dass Du besagte Erkenntnisse nur deshalb kritisiert, ich glaube, dass Du dafür auch direkte Gründe hast.) Denn diejenigen Konsequenzen, die Du fürchtest, ergeben sich mMn überhaupt nicht zwingend aus diesen Erkenntnissen.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Nein, für einen Willen, der sich zwangläufig ergeben hat, kann ein Mensch nicht verantwortlich gemacht werden. Es muss also hinzukommen, dass der Mensch zu dieser Entscheidung aus sich selber heraus gekommen ist. |
Wenn ich jetzt noch wüsste, was das bedeuten soll, da Du ja bestimmt dementieren wirst, dass Du damit einen unbewegten Beweger im inkomaptibilistischen Sinne meinst. Denn wie ein Mensch "aus sich selber heraus kommt" ist eben wieder zwangsläufig bedingt, er kann also Deinen Worten nach nicht dafür verantwortlich gemacht werden.
Zitat: | Die Frage ist nun, ob und warum durch die Naturgesetzlichkeit alles Geschehens folgen sollte, dass eine bewusste willentliche Entscheidung gleich zu bewerten sei, wie eine gänzlich unbewusste Regung oder eine Entscheidung unter Zwang. |
Wir reden hier nicht davon, welche Massnahmen zu treffen sind, sondern von der Schuldfrage, oder? Dann hast Du zu zeigen, weshalb eine bewusste willentliche Entscheidung im Gegensatz zu einer unbewussten zu Schuld führt und eine Strafe bedingt, denn die Beweislast liegt bei demjenigen, der eine Unterscheidung proklamiert, nicht bei demjenigen, der sie negiert.
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AgentProvocateur registrierter User
Anmeldungsdatum: 09.01.2005 Beiträge: 7851
Wohnort: Berlin
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(#576038) Verfasst am: 02.10.2006, 14:46 Titel: |
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Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Dieses Menschenbild gefällt mir nicht, wie schon mehrfach betont. |
Die Vorstellung, die Krone der Schöpfung zu sein, gefiele mir auch besser als diejenige, mehr oder weniger zufällig aus der Ursuppe entstanden zu sein.  |
Nochmal: ein Menschenbild, das Menschen entmündigen will und die Gesellschaft, die aus einem solchen Menschenbild resultiert, gefällt mir nicht. Das hat nichts mit "Krone der Schöpfung" zu tun, sondern das hat etwas mit den politischen Folgen zu tun, die ich für unerfreulich halte.
Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | Denn diejenigen Konsequenzen, die Du fürchtest, ergeben sich mMn überhaupt nicht zwingend aus diesen Erkenntnissen. |
Nur tauchen eben diese Forderungen nach Sicherheitsverwahrung zum Schutze der Gesellschaft in diesem Zusammenhange immer wieder auf.
Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Nein, für einen Willen, der sich zwangläufig ergeben hat, kann ein Mensch nicht verantwortlich gemacht werden. Es muss also hinzukommen, dass der Mensch zu dieser Entscheidung aus sich selber heraus gekommen ist. |
Wenn ich jetzt noch wüsste, was das bedeuten soll, da Du ja bestimmt dementieren wirst, dass Du damit einen unbewegten Beweger im inkomaptibilistischen Sinne meinst. |
Was das bedeuten soll? Vielleicht einfach mal ein Beispiel:
- A hält B eine Pistole an den Kopf und zwingt ihn so zu Handlung X (-> B kann nicht verantwortlich gemacht werden)
- B führt die Handlung X nach vorheriger Überlegung aus (-> die Handlung kann B zugeschrieben werden, B kann dafür verantwortlich gemacht werden)
Deus ex Machina hat folgendes geschrieben: | Zitat: | Die Frage ist nun, ob und warum durch die Naturgesetzlichkeit alles Geschehens folgen sollte, dass eine bewusste willentliche Entscheidung gleich zu bewerten sei, wie eine gänzlich unbewusste Regung oder eine Entscheidung unter Zwang. |
Wir reden hier nicht davon, welche Massnahmen zu treffen sind, sondern von der moralischen Beurteilung, oder? Dann hast Du zu zeigen, weshalb eine bewusste willentliche Entscheidung moralisch anders zu bewerten ist, weshalb der Akteur mit ihr Schuld auf sich lädt, denn die Beweislast liegt bei demjenigen, der eine Unterscheidung proklamiert, nicht bei demjenigen, der sie negiert. |
Ja, natürlich reden wir von der moralischen Beurteilung. Die Frage, die sich zuerst stellt: ist eine moralische Bewertung dMn überhaupt möglich, oder muss man sich jedweder moralischen Bewertung enthalten, nämlich wegen der naturgesetzlich ablaufenden Vorgänge? Und wenn ja, warum genau?
Ist aber eine moralische Bewertung möglich, dann bezieht sich diese auf die Persönlichkeit des bewerteten Menschen. Tut derjenige dann eine Handlung, die nicht seiner Persönlichkeit entspricht, weil sie unter Zwang oder völlig unbewusst geschah, dann liegt es nahe, diese Handlung nicht ihm zuzuordnen und ihn dafür auch keiner moralischen Bewertung zu unterziehen.
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enpassant registrierter User
Anmeldungsdatum: 20.07.2005 Beiträge: 522
Wohnort: leipzig
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(#576090) Verfasst am: 02.10.2006, 16:26 Titel: |
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AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Es ist eine andere Ebene, eine andere Kategorie. Das Ideelle ist abhängig von dem Materiellen und existiert also nicht unabhängig davon. Trotzdem ist es für bestimmte Interpretationen eines Geschehens unabdingbar, auf die ideelle Ebene zurückzugreifen. |
Was soll denn "eine andere Ebene" bzw. "eine andere Kategorie" genau bedeuten? Merkst du nicht die Schwammigkeit einer solchen willkürlichen Auftrennung? Das fängt doch schon mit der völligen Unmöglichkeit an, dass eine nachvollziehbare inhaltliche Abtrennung des einem vom andern zu bewerkstelligen. Welchen Vorgang im von dir so benannten "Ideellen" du auch betrachten magst, unweigerlich wirst du zu den (mateirellen) biochemischen Vorgängen im Gehirn gelangen.
Oder, um es mal mengentheoretisch zu formulieren: Das "Ideelle" ist nichts anderes als eine nicht klar abgrenzbare Teilmenge des Materiellen.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Wir können übrigens auch gerne statt "Grund" "Motiv" sagen, wenn Dir das lieber ist. |
Das ist mir eigentlich gleich. Die eigentlichen Inhalte der Begriffe müssen dargetan werden, anstatt sich an den dafür gegebenen Namen aufzuziehen.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Ja, ich sehe schon einen fundamentalen Unterschied zwischen diesen "Welten". Auf der einen Seite ist die materielle Welt, die unabhängig von uns existiert und auf der anderen Seite ist das Modell, das wir uns mithilfe unserer Wahrnehmungen von dieser Welt machen. Dazu müssen wir sie ordnen, kategorisieren und interpretieren. |
Wie kommst du auf den eigentümlichen Gedanken, dass die materielle Welt unabhängig von uns existiert??? Wir sind durch und durch Teil dieser materiellen Welt und volsständig eingebunden in das unauflösliche Geflecht von hinreichender Ursache und notwendiger Folge. Für eine andere Annahme gibt es auch nicht den Hauch eines empirischen Hinweises - geschweige den eines logischen...
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | ...wenn Du keinen Unterschied sehen könntest zwischen einer Handlung eines Menschen, die er selber verursacht hat und einer Handlung, die von einem anderen Menschen verursacht wurde.
Beispiel: 1. Mensch B stößt Mensch C vor die U-Bahn. 2. Mensch A stößt Mensch B, worauf dieser auf Mensch C prallt und dieser fällt vor die U-Bahn. |
Nun, bei diesem wie allen ähnlichen von dir geschilderten Szenarios blendest (erwartungsgemäß) völlig du aus, dass die Tatsache, dass sich die zwei bzw. drei Personen zu jenem Zeitpunkt an jenem Ort und in jener räumlichen Konstellation befanden und dass Mensch B bzw. A sich in jenem Moment in ihrem Kopfe entscheiden, C bzw. B zu stoßen, in vollkommen gleicher Weise notwendige Folge aus der diese hinreichend bedingenen Ursachen war - wie eben (freilich sehr viel weniger komplex) die Stoßfolgen ensprechend der Gesetze der Mechanik.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Das Ich ist von der Materie direkt abhängig. Ohne Materie kein Ich. Das hat ja wohl noch niemand bestritten. |
Du bestreitest zwar nicht den Satz "Ohne Materie kein Ich!", aber nur im Sinne von: "Ohne Baum kein Apfel!" - und der stillschweigenden Voraussetzung, den Apfel als etwas vom Baume grundsätzlich Verschiedenes zu betrachten. Das ist aber nicht der Punkt, sondern, um im Bild zu bleiben, beide sind lediglich in ihrer formalen Erscheinung und Funktion innherhalb des Lebenszyklus der Pflanze verschieden, qualitativ jedoch samt und sonders materiell, und "funktionieren" auch nicht im Kleinsten anders als als enstprechend den Gesetzmäßigkeiten des Materiellen.
AgentProvocateur hat folgendes geschrieben: | Kann ich mich anderes entscheiden, als ich mich entscheide? Die Frage wäre doch eher: warum sollte ich mich überhaupt anders entscheiden, wenn diese Entscheidung begründet war? Das wäre doch ziemlich sinnlos. |
Eine solche, in der Tat ziemlich sinnlose Fragestelleung ergibt sich nur, wenn man zwischen einem "ideelen Ich" und einer "unabhängig davon" existierenden materiellen Welt einen qualitativen Unterschied macht. Ein solcher Unterschied aber, lässt sich empirisch und auch logisch in keiner Weise rechtfertigen.
enpassant hat folgendes geschrieben: | Beweis durch Behauptung. Wenig hilfreich. |
Auch in dieser Ausflucht bist du dem Theologen Lüke sehr nahe. Ich zitiere mal aus seiner Abhandlung:
Zitat: | "Wenn es aber richtig ist, dass die Antriebe unseres Handelns uns nicht zugänglich sind, wie kann man dann die Behauptung aufstellen, Gründe seien nur Ursachen. Auf der Basis gleicher Unkenntnis wäre auch das Gegenteil zu behaupten. Woher rührt dann die kühne Gewissheit, dass das, was uns nicht einsichtig ist, die Ursache für unsere Selbstzuschreibung von Freiheit ist und dass diese Freiheitserfahrung überdies ein Irrtum unsererseits ist? Aus einer Blackbox, wenn wir es denn damit zu tun haben sollten, lässt sich kein argumentativer Nektar saugen, weder für noch gegen die Behauptung von Freiheit." |
Das ist nichts anderes als ein weiterer kraftloser Aufguss der unsäglichen "Argumentationen" zum Beleg des Transzendenten. Die häufigste Variante davon finden wir im Bereich der "Gottesbeweise", wobei die Wahrscheinlichkeit der Existenz Gottes daraus resultieren soll, dass man seine Nichtexistenz nicht beweisen könne. Allerdings gerät das Ergebnis der Übertragung auf das hier in Rede stehende Thema noch lächerlicher. Denn ebenso gut könnte ich z.B. sagen: Was genau sich im Inneren des Mondes befindet oder aber was genau morgen oder in irgend einer Zukunft geschehen wird, kann definitiv niemand sagen. Nach der obigen Logik folgt daraus, dass wir es hier mit "Blackboxes" zu tun haben und man deshalb auch mit der gleichen Gewissheit sowohl sagen kann: "Innerhalb des Mondes bzw. in der Zukunft gelten alle physikalischen Gesetzmäßigkeiten in gleicher Weise gelten wie überall bzw. wie heute." - oder aber: "Innerhalb des Mondes bzw. in der Zununft gelten teilweise bis völlig andere oder gar keine physikalischen Gesetzmäßigkeiten."
Das ist natürlich horrender Blödsinn. Doch genau auf einen solchen laufen die schwammigen "Freie-Wille"-Argumentationen hin, dass sich nämlich im Gehirn, welches nachweislich zu 100% aus Materie besteht, sich diese Materie plötzlich nicht nur nach völlig anderen, sondern de facto nach gar keinen Gesetzmäßigkeiten mehr verhalten soll und beständig in einer creatio ex nihilo "aus sich selber heraus"(!!!) Entscheidungen gebiert, welche, da sie nicht notwendige Folgen aus vorlaufenden hinreichenden Ursachen sind, ihre Ursache demzufolge in gar nichts haben... Bravo!
Dass Theologen wie Lüke sich auf solche Weise mit Händen und Füßen winden müssen, um den "freien Willen" irgendwie zu retten, koste es, was es wolle, ist durchaus nachvollziehbar. Denn ohne ihn wird die Absurdität des Richtens eines Schöpfers über seine eigenen Geschöpfe genau so offenkundig wie die umfassende ursächliche Verantwortlichkeit eines "allmächtigen" Schöpfers als "Anfangsgrund" (was in sich allein schon eine absurde Behauptung darstellt) für alles, was bis ins Kleinste in seiner Schöpfung geschieht, endgültig offenbar. Und mit derart entzauberten religiösen Phantasmen lässt sich wahrlich selbst bei einfachst gestricken Zeitgenossen kein Staat mehr machen.
Was hingegen dich, da du religiös gefärbte Motive ja von dir weist, dazu veranlasst, auf dergleichen klägliche Argumente zurück zu greifen, will mir immer noch nicht recht einleuchten...
_________________ Was das ewige Leben ist, weiß ich nicht - aber das gegenwärtige ist ein schlechter Spaß! (Voltaire)
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