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4. November 1989

 
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Telliamed
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Anmeldungsdatum: 05.03.2007
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Wohnort: Wanderer zwischen den Welten

Beitrag(#853162) Verfasst am: 04.11.2007, 21:24    Titel: 4. November 1989 Antworten mit Zitat

Der 4. November 1989 ist mir mehr in Erinnerung geblieben als der berühmte 9. November. Nicht nur, weil noch bis in die späten Abendstunden des 9. November nicht klar sein konnte, welche Folgen die verfrühte Grenzöffnung haben würde. Der 4. November wird seit Beginn der 1990er Jahre von den Medien der Bundesrepublik weitgehend totgeschwiegen. Für ein paar Stunden schien es allerdings an diesem 4. November, als könnte tatsächlich so etwas wie eine „Deutsche Demokratische Republik“ entstehen. Die Revolutionen von 1848 und 1918 endeten mit Mißerfolg. Könnte den Deutschen einmal eine Revolution gelingen?

Am Morgen des 4. November gab es keine Information über eine bevorstehende Demonstration in den Massenmedien. Es hatte sich eher durch „Mundpropaganda“ herumgesprochen, dass für den Paragraphen in der Verfassung der DDR über Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit demonstriert werden würde. Künstler, u. a. vom Berliner Ensemble, hatten zu einer Demonstration aufgerufen. Niemand wusste, wie viele Menschen kommen würden. Eingie hundert? Einige tausend? Es wurden viel mehr.


Für zwei Paragraphen der eigenen Verfassung auf dem Alexanderplatz zu demonstrieren, erschien mir nicht gefährlich zu sein. Doch warnte man mich, es könne wieder zu Knüppelorgien der Polizei kommen, wie am 7. und 8. Oktober. Ich wohnte etwa einen Kilometer vom Alexanderplatz entfernt. Los ging es.

Als erstes fiel mir auf, dass keine Marschmusik vom Alexanderplatz herüberdröhnte, wie sonst am 1. Mai oder am 7. Oktober, dem Feiertag der DDR. Es war eher ruhig. Dennoch lag ein Summen in der Luft. Als ich mich dem Alexanderplatz näherte, wurde es immer lauter. Ungeheuere Menschenmassen waren unterwegs, wie man sie lange nicht versammelt sah.

Ich langte an auf dem Alexanderplatz. Polizisten trugen Nelken am Knopfloch, wie in Portugal am 25. April 1974. Sie wirkten entspannt und direkt erleichtert. Nichts schien auf Gewalt hinzudeuten. Auf Dächern und Balkonen sah man, wie Stasi-Mitarbeiter ihre Kameras in die Tiefe richteten.

Ich kam zu dem Moment in der Nähe der Tribüne an, als Stefan Heym ausrief: „Es ist, als hätte einer das Fenster aufgemacht. Und den ganzen Mief herausgelassen.“ Frauen schluchzten. Einige setzten sich weinend. Niemand hätte es für möglich gehalten, dass sich so viele Menschen versammeln würden.

Die Schätzung von 1 Million, die später aufkam, hielt ich 1989/90 für übertrieben. Aber aufgrund der Erfahrungen mit ähnlichen Ereignissen würde ich sagen, dass sich nicht weniger als 600.000 Menschen einfanden.

Christa Wolf deklinierte die „Wende“-Metaphorik durch. Der Vogel „Wendehals“ wurde erwähnt. Dass Christa Wolf mit einem Kreislaufkollaps zusammenbrach, erfuhr ich erst später.

Günter Schabowski, bisher Mitglied des Politbüros, wurde von viel mehr Leuten ausgepfiffen als der 1986 als Leiter der Hauptabteilung Aufklärung im MfS zurückgetretene Markus Wolf. Schabowski war bekannt als besonderer Scharfmacher, jahrelang Chefredakteur des „Neuen Deutschland“ und als 1. Sekretär der Bezirksleitung Berlin als „Schläger“ berüchtigt. Lächerlich die späteren Versuche in den Medien, den Narren vom Abend des 9. November als großen „Bahnbrecher“ hinzustellen.
Heiner Müller forderte freie Gewerkschaften. Der damals noch unbekannte Rechtsanwalt Gregor Gysi: „Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit“.
Da die Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR auch kamen (bis 1990 waren es 27.000), halte ich es für sehr wahrscheinl.ich, dass auch solche Mitarbeiter, wie Wolfgang Thierse und Angela Merkel, gekommen waren.

Die Schauspielerin Steffi Spira brachte es auf den Punkt. Sie möchte nicht, dass ihre Enkel den Staatsbürgerkundeunterricht besuchen und an „Fahnenappellen“ teilnehmen müssten. Ungeheuerer Beifall.
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Telliamed
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Anmeldungsdatum: 05.03.2007
Beiträge: 5125
Wohnort: Wanderer zwischen den Welten

Beitrag(#853184) Verfasst am: 04.11.2007, 21:46    Titel: Antworten mit Zitat

Es gab viele witzige Plakate. "Den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel aus." Damit wurde ein entsprechender Ausspruch August Bebels, den Honecker noch 1989 wiedergab, persifliert ("Den Sozialismus in seinem Lauf, hält weder Ochs noch Esel auf.") Krenz mit fletschendem Gebiß wurde abgebildet: "Großmutter, warum hast Du so große Zähne!" "Stasi in den Tagebau". Das sah man, und das erschien mutig.

Das kann ich bezeugen: kaum jemand der 600.000 dachte irgendwie an die Bundesrepublik.

Keines dieser Plakate, die ich sah, deutete in irgendeiner Weise auf den westlichen Teil Deutschlands hin. Die Menschen wollten eine erneuerte DDR. Sie waren auf die Perestrojka in der Sowjetunion orientiert. Aber nicht auf die BRD. Ganz anders war es in Leipzig, Dresden, vor allem in den südlichen Regionen...

Die Stoph-Regierung der DDR, die sich verborgen hielt, fürchtete, dass sich die Demonstration in Richtung Brandenburger Tor bewegen würde. Daran dachte aber vermutlich kein Mensch. Alles strömte zum Alexanderplatz. Viele trugen grün-gelbe Armbinden, auf denen stand: "Keine Gewalt!" (die müssen in wenigen Nächten vorher genäht worden sein).

In Leipzig war in diesen Tagen schon eine ganz andere Stimmung. Bald wurde dort der Refrain der DDR-Nationalhymne, deren Text seit 1972 verboten war, öffentlich ausgestoßen: "Deutschland, einig Vaterland!" In Sachsen und in Thüringen dachte man bereits an die deutsche Einheit.
In Berlin aber hatten die Menschen, die sich da versammelt hatten, vielleicht für ein paar Stunden die Illusion, man könne noch etwas anderes auf deutschem Boden ausprobieren. Die sowjetischen Truppen fürchtete niemand, wußte man sich doch im Bunde mit der "Perestrojka".

Im nachhinein kann man immer leicht sagen, dass alles eine Illusion bleiben mußte. Bald trat die Regierung Stoph zurück. Fünf Tage später las Schabowski von dem Zettel ab. Die Mauer fiel. Von da ab nur noch Monate bis zur Implosion. Keine Hand rührte sich für das zusammenbrechende Staatswesen. Ungeheuerer Glücksumstand in der Weltgeschichte - kein Blutvergießen bei der lautlosen Implosion eines Staates.

Zwei Wochen später der denkwürdige Ausspruch des völlig überraschten Mielke in der Volkskammer: "Ich liebe Euch doch alle!"
Anfang vom Ende, Selbstdemontage der DDR. In den Kampfgruppen, die es in jedem größeren Betrieb und in jeder Einrichtung gab (paramilitärische Einheiten für den Ernstfall einer "Konterrevolution" und einer Konfrontation mit der BRD) schmissen Hunderttausende Bewaffneter erleichtert ihre Knarre weg.


Damals zeichnete ich Worte auf, die im Zusammenhang mit dem Mauerfall standen ("Mauerspecht" - die Stücke aus der Mauer klopften, "Mauerhund") oder die in Westdeutschland gebraucht wurden, aber in der DDR unbekannt waren ("sich einbringen" usw.).

Es begann eine Zeit, die so niemand vorausgesehen hatte. Anpassungsleistungen wurden vollbracht. Die Deutung der Ereignisse 1989 übernahmen dann solche Leute wie Gauck und Birthler.
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Raphael
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Beiträge: 8362

Beitrag(#853193) Verfasst am: 04.11.2007, 21:59    Titel: Antworten mit Zitat

Vielen Dank für diese Schilderung. Ich erinnere mich, dass anfangs auch hier im Westen der Eindruck bestand, es gehe um eine Reform der DDR, nicht um eine Vereinigung, schon gar nicht einen Anschluss. Ich war ehrlich gesagt überrascht, wie schnell diese Stimmung kippte und die Ostdeutschen mit fliegenden Fahnen ihren Staat aufgaben. Es schien da ein paar Monate lang eine demokratische Bewegung auf, die auch uns gut getan hätte und auf die ich Hoffnungen setzte im Irrglauben, es werde wenn überhaupt eine Vereinigung unter dem Dach einer neuen Verfassung geben. Das wurde aber alles schnell abgewürgt. Ich bin darüber heute noch frustriert.
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Nordseekrabbe
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Beiträge: 31152
Wohnort: Dresden

Beitrag(#853197) Verfasst am: 04.11.2007, 22:08    Titel: Antworten mit Zitat

Raphael hat folgendes geschrieben:
Vielen Dank für diese Schilderung. Ich erinnere mich, dass anfangs auch hier im Westen der Eindruck bestand, es gehe um eine Reform der DDR, nicht um eine Vereinigung, schon gar nicht einen Anschluss. Ich war ehrlich gesagt überrascht, wie schnell diese Stimmung kippte und die Ostdeutschen mit fliegenden Fahnen ihren Staat aufgaben.


Nicht alle. Manche Ostdeutsche hätten sich auch ein 2-Staaten-Modell, wie es ja auch in der Zeit mal in der Diskussion war, gewünscht.

Raphael hat folgendes geschrieben:

Es schien da ein paar Monate lang eine demokratische Bewegung auf, die auch uns gut getan hätte und auf die ich Hoffnungen setzte im Irrglauben, es werde wenn überhaupt eine Vereinigung unter dem Dach einer neuen Verfassung geben. Das wurde aber alles schnell abgewürgt. Ich bin darüber heute noch frustriert.


Es hat diverse Fehler im Vereinigungsprozess gegeben meinerseits, einer davon war und ist, daß es bis heute - obwohl dies ja im GG verankert ist - keine gesamt- sowohl West-als auch Ostdeutsche Verfassung gibt.

Weitere Fehler waren mE nach, daß die Sachen, die in der DDR gut gelaufen sind, überhaupt nicht berücksichtigt oder gar aufgenommen wurden:

Beispiele:
Fristenregelung, 0,00-Promille-Grenze am Steuer, Gesundheitswesen.

Das westdeutsche System wurde den ostdeutschen, mit dem Versprechen von blühenden Landschaften, einfach 1:1 übergestülpt.
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Einsiedler
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Anmeldungsdatum: 01.03.2007
Beiträge: 1435

Beitrag(#853209) Verfasst am: 04.11.2007, 22:19    Titel: Re: 4. November 1989 Antworten mit Zitat

Telliamed hat folgendes geschrieben:
Der 4. November 1989 ist mir mehr in Erinnerung geblieben als der berühmte 9. November. Nicht nur, weil noch bis in die späten Abendstunden des 9. November nicht klar sein konnte, welche Folgen die verfrühte Grenzöffnung haben würde.

Inwiefern verfrüht? Wann wäre es denn Deiner Meinung nach angemessen gewesen?

Telliamed hat folgendes geschrieben:
Für ein paar Stunden schien es allerdings an diesem 4. November, als könnte tatsächlich so etwas wie eine „Deutsche Demokratische Republik“ entstehen.

Das war wohl ein frommer Wunschtraum ...

Davon abgesehen: Die entscheidenden Demonstrationen waren vorher bereits in Leipzig gelaufen.
Im November zu einer Demo zu gehen, war doch wirklich keine Heldentat mehr ...
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Einsiedler
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Anmeldungsdatum: 01.03.2007
Beiträge: 1435

Beitrag(#853218) Verfasst am: 04.11.2007, 22:26    Titel: Antworten mit Zitat

Telliamed hat folgendes geschrieben:
Keines dieser Plakate, die ich sah, deutete in irgendeiner Weise auf den westlichen Teil Deutschlands hin. Die Menschen wollten eine erneuerte DDR. Sie waren auf die Perestrojka in der Sowjetunion orientiert. Aber nicht auf die BRD. Ganz anders war es in Leipzig, Dresden, vor allem in den südlichen Regionen...

Wie kommst Du darauf, daß es dort anders gewesen wäre?
Und selbst wenn, könnte das vielleicht daran gelegen haben, daß die Berliner etwas privilegiert
gewesen waren?

Telliamed hat folgendes geschrieben:
In Leipzig war in diesen Tagen schon eine ganz andere Stimmung. Bald wurde dort der Refrain der DDR-Nationalhymne, deren Text seit 1972 verboten war, öffentlich ausgestoßen: "Deutschland, einig Vaterland!" In Sachsen und in Thüringen dachte man bereits an die deutsche Einheit.

Nach meiner Erinnerung wurde die deutsche Einheit erst nach dem Kohl-Besuch ein Thema.

Telliamed hat folgendes geschrieben:
In Berlin aber hatten die Menschen, die sich da versammelt hatten, vielleicht für ein paar Stunden die Illusion, man könne noch etwas anderes auf deutschem Boden ausprobieren.

Eine populäre Losung seinerzeit war: "Keine Experimente mehr!"
Die meisten Leute hatten einfach keine Lust, als Versuchskarnickel für irgendwelche
gesellschaftlichen Theorien mißbraucht zu werden ...
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Einsiedler
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Anmeldungsdatum: 01.03.2007
Beiträge: 1435

Beitrag(#853220) Verfasst am: 04.11.2007, 22:30    Titel: Antworten mit Zitat

Raphael hat folgendes geschrieben:
Ich war ehrlich gesagt überrascht, wie schnell diese Stimmung kippte und die Ostdeutschen mit fliegenden Fahnen ihren Staat aufgaben.

Was für einen Staat denn? Hättest Du denn einen solchen heruntergewirtschafteten Staat haben wollen?

Raphael hat folgendes geschrieben:
Es schien da ein paar Monate lang eine demokratische Bewegung auf, die auch uns gut getan hätte und auf die ich Hoffnungen setzte im Irrglauben, es werde wenn überhaupt eine Vereinigung unter dem Dach einer neuen Verfassung geben.

Da stimme ich allerdings zu. Die Schaffung eines neuen Deutschlands im Rahmen der
Wiedervereinigung wäre äußerst wünschenswert gewesen. Aber die westdeutschen Politiker
wollten das nicht, und die Ossis haben sich dann halt gefügt ...
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DeHerg
nun schon länger Ranglos



Anmeldungsdatum: 28.04.2007
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Beitrag(#853234) Verfasst am: 04.11.2007, 22:48    Titel: Antworten mit Zitat

Einsiedler hat folgendes geschrieben:

Da stimme ich allerdings zu. Die Schaffung eines neuen Deutschlands im Rahmen der
Wiedervereinigung wäre äußerst wünschenswert gewesen. Aber die westdeutschen Politiker
wollten das nicht, und die Ossis haben sich dann halt gefügt ...
was heißt gefügt, nach dem was ich so hörte wollte man im Osten genau das was man im Westen hatte(oder was man dachte was dort wär).Man versprach sich ja von einer Anpassung das selbe Wirtschaftwunderland was man glaute auch drüben zu haben.
_________________
Haare spalten ist was für Grobmotoriker

"Leistung muss sich wieder lohnen"<--purer Sozialismus
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Einsiedler
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Anmeldungsdatum: 01.03.2007
Beiträge: 1435

Beitrag(#853247) Verfasst am: 04.11.2007, 23:02    Titel: Antworten mit Zitat

DeHerg hat folgendes geschrieben:
Einsiedler hat folgendes geschrieben:

Da stimme ich allerdings zu. Die Schaffung eines neuen Deutschlands im Rahmen der
Wiedervereinigung wäre äußerst wünschenswert gewesen. Aber die westdeutschen Politiker
wollten das nicht, und die Ossis haben sich dann halt gefügt ...
was heißt gefügt, nach dem was ich so hörte wollte man im Osten genau das was man im Westen hatte(oder was man dachte was dort wär).Man versprach sich ja von einer Anpassung das selbe Wirtschaftwunderland was man glaute auch drüben zu haben.

Zumindest der Bund Freier Demokraten favorisierte zunächst ein Modell nach §146 GG,
knickte dann allerdings sehr schnell ein - angeblich, weil das zu kompliziert geworden wäre
(aus dem Gedächtnis, Quelle habe ich keine).

Ergänzung: Zunächst war auch die Rede von einer Neuvereinigung, nicht Wiedervereinigung.
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Telliamed
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Wohnort: Wanderer zwischen den Welten

Beitrag(#853405) Verfasst am: 05.11.2007, 10:32    Titel: Antworten mit Zitat

Mir ist klar, dass das Wissen um den Ausgang der Ereignisse die Erinnerung beeinflußt, wenn nicht in einem bestimmten Maße verfälscht. Das ist das Problem aller Memoirenschreiber. Ich habe Formulierungen gewählt, die vorsichtige Distanz zum Ausdruck bringen sollten. Im nachhinein wird klar, daß es wohl kaum gangbare Alternativen zu dem gegeben haben dürfte, wie es dann tatsächlich 1990 kam. Aber wie hat man am 4. November selbst gedacht? Mein eigenes Tagebuch aus dieser Zeit stellt mich vor manche Rätsel.

Erst im nachhinein wurde klar, daß die große Demonstration vom 4. November, der Rücktritt der Regierung Stoph am 8. November und die überraschende Grenzöffnung am 9. November zeitlich so eng beieinander lagen. Sehr bald wurden in den Berichten die Bilder vom 4.11. und von den Leipziger Demonstrationen zusammengeworfen.
Pfiffe gegen M. Wolf gab es z.B. vergleichsweise weniger, sie waren nicht hörbar, wenn man weiter hinten stand, deutlich hörbar wurde, wie Schabowski überall ausgepfiffen wurde, auf den sich deshalb eine so große Wut konzentrierte, weil man ihn aus seiner jahrelang währenden Kampfzeit als scharfen Hund kannte. Heiner Müller erhielt Pfiffe, weil man sich unabhängige Gewerkschaften einfach nicht vorstellen konnte.

Die Grenzöffnung war chaotisch, unvorbereitet. Die Partei- und Staatsführung hatte keinen Plan für diesen Tag in der Tasche, weil dieser Tag unvorstellbar war. Die Funktionäre hatten vielleicht, wenn sie mit einem Kater nach durchzechter Nacht erwachten, bestimmte Untergangsvisionen. Als Schreckbild mußte die seit Anfang der 1960er Jahre verbreitete Schlagzeile herhalten, daß die "Bundeswehr mit klingendem Spiel durch das Brandenburger Tor einziehen" könnte.

Die in den 1950er Jahren ausgearbeiteten Pläne in der Bundesrepublik für eine Übernahme der ostdeutschen Wirtschaft bei günstigem Ausgang des Systemkonflikts wurden in der Zeit 1981/83 in zeithistorischen Dokumentenbänden veröffentlicht, die damals auch in einigen Exemplaren in DDR-Zeitschriften rezensiert wurden. Weder im Osten noch im Westen hatte man zu diesem Zeitpunkt daran geglaubt, daß sie noch aktuell werden konnten, und das wenige jahre später.

Man kann ruhig sagen, daß sich am 4. November in Berlin vor allem die versammelt haben, für die der Sozialismus noch kein von der Geschichte abgeschlossenes Thema war. Es gab eine nach Hunderttausenden zählende Menge von Leuten, die ein "Experiment" tatsächlich noch für vorstellbar hielten. Noch gab es die Sowjetunion. Natürlich kann man diese Menschen aus späterer Sicht als "Ewiggestrige" oder "Stalinisten" kennzeichnen.
Dann gebe ich aber zu bedenken, daß die überwältigende Mehrzahl aller Bürgerrechtler und Dissidenten oder wie man sie bezeichnen will, eine Vision von einem erneuerbaren Sozialismus hatten und die allerwenigsten sich eine deutsche Einheit in allernächster Zeit vorstellen konnten.

Es gab in der DDR Hunderttausende Menschen, die keine Westverwandtschaft hatten, die kaum westliche Sender sahen (manche weder Ost noch West, weil sie keine Fernseher hatten), und die sich in ihrer Vorstellungswelt nicht auf die Bundesrepublik oder die USA, sondern in den Perestrojka-Jahren auf die Sowjetunion konzentrierten. Hunderttausende hatten in der UdSSR und anderen östlichen Ländern studiert, Freunde gewonnen, geheiratet, an den Erdöl- und Erdgastrassen gearbeitet, mit den Russen das oft ärmliche Leben und den Wodka geteilt.
Ich rede gar nicht davon, dass in der alten Bundesrepublik wohl viel mehr Frankreich oder Spanien vorzüglich kannten, aber sich nicht die Bohne für die östlichen Gebiete interessierten, auch keine Verwandten hatten usw.

Ich will hier gar nicht werten.
Jene, für die die Bindungen zu den Deutschen im Westen nie abgerissen waren, die unter der Teilung litten, stellten eine große Mehrheit dar. Jetzt rächte sich, daß sie nicht zu Wort kommen konnten, daß die "deutsche Einheit" ein streng beachtetes Tabu-Thema war.

@Einsiedler
Zitat:
Wie kommst Du darauf, daß es dort anders gewesen wäre?
Und selbst wenn, könnte das vielleicht daran gelegen haben, daß die Berliner etwas privilegiert
gewesen waren?


In Thüringen und Sachsen lebten alle meine Verwandten und viele Bekannte, die mir signalisierten: bei uns ist die Stimmung schon eine ganz andere als bei Euch in Berlin. Da sollte man sich nicht mehr mit einem Parteiabzeichen blicken lassen.
Und nun müßte man noch einmal zeitlich rekonstruieren. Meiner Erinnerung nach begann sich nach der Maueröffnung am 9. November die Vorstellung sehr schnell zu verbreiten: Wenn wir jetzt schon ohne Hindernisse rüberkonnten, warum sollte das nicht immer so bleiben, wer hindert uns denn noch und überhaupt die Mauer ...
Beim Kohl-Besuch im Dezember wurde das dann sichtbar. Vor der Ruine der Frauenkirche hatte der Kanzler große Besorgnis, daß jetzt angesichts der Begeisterung und des Fahnenmeers das Deutschlandlied angestimmt würde. Denn im Osten kannte man nur die berühmte erste Strophe. Die hinter ihm stehenden Geistlichen retteten die Situation, indem sie anstimmten: "Nun danket alle Gott." Das kannten zwar nur die Protestanten, aber es klang wenigstens nicht nach "Deutschland, Deutschland über alles..."
(wer an dieser Szene zweifelt: die Erinnerungen an diesen Tag sind von Augenzeugen in dem Band "Die Dresdner Frauenkirche" festgehalten worden, Lingen Verlag, Köln 2005, für den sowohl Ex-Minister Seiters als auch Wolfgang Berghofer und der jetzige Oberbürgermeister Beiträge beisteuerten.)
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Telliamed
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Anmeldungsdatum: 05.03.2007
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Beitrag(#857234) Verfasst am: 10.11.2007, 21:37    Titel: Antworten mit Zitat

„Berliner Schüler wissen wenig über die DDR“

titelt die Berliner Zeitung vom 10./11. November 2007, S. 1.

Und dann dieser Satz mit einer doppelten Verneinung, den man erst einmal verkraften muss:

Zitat:
„Nicht einmal die Hälfte der Schüler im Osten verneinte die Aussage, die DDR sei keine Diktatur gewesen.“


Ein guter Schüler hat zu sagen: „Die DDR war eine Diktatur!“ – „Richtig, setzen!“
Unter Umständen sind aber die Schüler bei dieser Frage gar nicht so unwissend. Gleich, wie man im Elternhaus zur DDR stand, ob man sie vehement ablehnte, gute Seiten an ihr fand oder die soziale Sicherheit hoch schätzt: in den wenigsten Familien im Osten wird man von sich sagen: „Wir haben in einer Diktatur gelebt.“ Es findet sich die Verweigerung, diese Fremdbestimmung mit einem „Stempel“ einfach wiederzukäuen, selbst wenn sie den Kern der Sache treffen sollte.

Jemand aus dem Westen hatte mich allerdings vor einigen Jahren zum Schweigen gebracht: „Wieso wundert Sie das, die Führung in der DDR hat sich doch selbst bis zum Schluss als ‚Diktatur des Proletariats’ bezeichnet!“ Damit hatte er recht, die Bezeichnung war zwar angesichts der Nichtexistenz eines „Proletariats an der Macht“ Nonsens, wurde aber von den Funktionären immer im Munde geführt.

Wenn man dann einige Seiten weiter Einzelergebnisse der Studie ansieht, wird es schon gruselig. Da wissen viele Schüler nicht, dass die Mauer von DDR-seiten errichtet wurde, und Helmut Kohl habe in der DDR regiert (was ja ab Ende 1989 sogar irgendwie stimmt).
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I.R
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Anmeldungsdatum: 08.10.2006
Beiträge: 9142

Beitrag(#857433) Verfasst am: 11.11.2007, 12:12    Titel: Antworten mit Zitat

Die Studie ist ja süß. Die Süddeutsche hat in ihrer gestrigen Ausgabe einen schönen Artikel mit dem Titel "Geschichte im Tetrapack" (leider online nur kostenpflichtig verfügbar)

Schönster Satz: "Wer in der DDR keine Angst hatte, lernt jetzt, dass er sich irrte"
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Einsiedler
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Anmeldungsdatum: 01.03.2007
Beiträge: 1435

Beitrag(#857452) Verfasst am: 11.11.2007, 12:52    Titel: Antworten mit Zitat

Telliamed hat folgendes geschrieben:
Ein guter Schüler hat zu sagen: „Die DDR war eine Diktatur!“ – „Richtig, setzen!“


Wie würdest Du denn einen Staat bezeichnen, in dem es keine freie Presse,
keine freien Wahlen, keine Opposition, keine freien Demonstrationen gibt?

Telliamed hat folgendes geschrieben:
Gleich, wie man im Elternhaus zur DDR stand, ob man sie vehement ablehnte, gute Seiten an ihr fand oder die soziale Sicherheit hoch schätzt: in den wenigsten Familien im Osten wird man von sich sagen: „Wir haben in einer Diktatur gelebt.“


Wie kommst Du denn darauf? Geschockt
Ich kenne kaum jemanden, der sich nicht darüber im klaren war, daß er in einer
Diktatur lebt.

Die arg überzeichnete negative Darstellung, die heute häufig anzutreffen ist, finde
ich zwar auch zum Kotzen, aber als Trotzreaktion darauf eine Verharmlosung
zu betreiben, halte ich ebenso für falsch.
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Dominik
...



Anmeldungsdatum: 16.10.2004
Beiträge: 1341
Wohnort: Deutschland

Beitrag(#857454) Verfasst am: 11.11.2007, 12:59    Titel: Antworten mit Zitat

Telliamed hat folgendes geschrieben:
... die überwältigende Mehrzahl aller Bürgerrechtler und Dissidenten oder wie man sie bezeichnen will, eine Vision von einem erneuerbaren Sozialismus hatten und die allerwenigsten sich eine deutsche Einheit in allernächster Zeit vorstellen konnten.


Selbst aus dem schwärzesten Teil des Westens kommend, habe ich mit totaler Faszination die Bücher der DDR-Bürgerrechtlerin Daniela Dahn gelesen ("Vertreibung ins Paradis", "Westwärts und nicht vergessen",...). Die ungeheueren Fakten mit denen diese demokratische Sozialistin ihre Sicht der Geschichte untermauert haben mich umgehauen. Unbedingt lesenswert!
_________________
"Die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik" Karl Marx (Ebd., MEW 1:378)
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I.R
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Anmeldungsdatum: 08.10.2006
Beiträge: 9142

Beitrag(#857463) Verfasst am: 11.11.2007, 13:15    Titel: Antworten mit Zitat

Einsiedler hat folgendes geschrieben:
Telliamed hat folgendes geschrieben:
Ein guter Schüler hat zu sagen: „Die DDR war eine Diktatur!“ – „Richtig, setzen!“


Wie würdest Du denn einen Staat bezeichnen, in dem es keine freie Presse,
keine freien Wahlen, keine Opposition, keine freien Demonstrationen gibt?


Wenn Du es auf einen simplen Nenner bringen willst, hast Du natürlich Recht.

Auf die legendäre Volkskammerdebatte, in welcher Mielke den rhetorischen Offenbarungseid ablegte, hatte Telliamed bereits hingewiesen. Nur wenige wissen, dass die Abgeordneten dieses Parlamentes bereits seit 1986 da sassen, dass die SED-Fraktion da keine Mehrheit hatte. Auch über die Regierungszusammensetzung weiß kaum jemand wirklich Bescheid.

Von einer Demokratie im hiesigen Sinne war das alles meilenweit entfernt, aber mit "Diktatur-setzen, eins!" wird man der Wirklichkeit nichtmal rudimentär gerecht.
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Valen MacLeod
Antitheist



Anmeldungsdatum: 11.12.2004
Beiträge: 6172
Wohnort: Jenseits von Eden

Beitrag(#857467) Verfasst am: 11.11.2007, 13:25    Titel: Antworten mit Zitat

Es gab und gibt ja Deutschland und Österreich. Warum hätten für Europa nicht zwei deutsche Staaten besser sein können?

Ich glaube bis heute, es wäre der bessere Weg gewesen. Aber dagegen standen Wirtschaftsinteressen im Westen. Und die Ossis waren wohl in dem Moment zu überwältigt vom eigenen Erfolg. Und sind danach wohl wieder in die alte Starre verfallen.

600000 Menschen... das haben wir im Westen nie fertiggebracht... nicht, wenn es wirklich um was anderes ging als Spass...
_________________
V.i.S.d.P.:Laird Valen MacLeod (Pseudonym!)
"... Wenn das hier das Haus Gottes ist, Junge, warum blühen hier dann keine Blumen, warum strömt dann hier kein Wasser und warum scheint dann hier die Sonne nicht, Bürschchen?!" <i>Herman van Veen</i>
Das Schlimme an meinen Katastrophenszenarien ist... dass ich damit über kurz oder lang noch immer Recht behielt.
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Shadaik
evolviert



Anmeldungsdatum: 17.07.2003
Beiträge: 26377
Wohnort: MG

Beitrag(#858138) Verfasst am: 12.11.2007, 11:31    Titel: Antworten mit Zitat

Telliamed hat folgendes geschrieben:
„Berliner Schüler wissen wenig über die DDR“

titelt die Berliner Zeitung vom 10./11. November 2007, S. 1.

Und dann dieser Satz mit einer doppelten Verneinung, den man erst einmal verkraften muss:

Zitat:
„Nicht einmal die Hälfte der Schüler im Osten verneinte die Aussage, die DDR sei keine Diktatur gewesen.“


Ein guter Schüler hat zu sagen: „Die DDR war eine Diktatur!“ – „Richtig, setzen!“
Unter Umständen sind aber die Schüler bei dieser Frage gar nicht so unwissend. Gleich, wie man im Elternhaus zur DDR stand, ob man sie vehement ablehnte, gute Seiten an ihr fand oder die soziale Sicherheit hoch schätzt: in den wenigsten Familien im Osten wird man von sich sagen: „Wir haben in einer Diktatur gelebt.“ Es findet sich die Verweigerung, diese Fremdbestimmung mit einem „Stempel“ einfach wiederzukäuen, selbst wenn sie den Kern der Sache treffen sollte.

Jemand aus dem Westen hatte mich allerdings vor einigen Jahren zum Schweigen gebracht: „Wieso wundert Sie das, die Führung in der DDR hat sich doch selbst bis zum Schluss als ‚Diktatur des Proletariats’ bezeichnet!“ Damit hatte er recht, die Bezeichnung war zwar angesichts der Nichtexistenz eines „Proletariats an der Macht“ Nonsens, wurde aber von den Funktionären immer im Munde geführt.

Wenn man dann einige Seiten weiter Einzelergebnisse der Studie ansieht, wird es schon gruselig. Da wissen viele Schüler nicht, dass die Mauer von DDR-seiten errichtet wurde, und Helmut Kohl habe in der DDR regiert (was ja ab Ende 1989 sogar irgendwie stimmt).

Kommt mir bekannt vor.

Ich hab grade bei einer CDUlerin eine Einführung in die Geschichte der DDR.
Sie weiss genug Neutralität zu wahren, so etwas wie diese Diktaturaussage zu vermeiden, aber subtil ommt ihre politisch-weltanschauliche Vorbildung selbstverständlich dennoch durch.
_________________
Fische schwimmen nur in zwei Situationen mit dem Strom: Auf der Flucht und im Tode
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