ateyim registrierter User
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(#1278372) Verfasst am: 29.04.2009, 16:16 Titel: Türkei - Armenien - Aserbaidschan |
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Da ich nun zusaetzlich zu dem Stress in der Einarbeitung für den neuen Job auch noch einen Umzug plane und organisiere, komme ich derzeit zu gar nichts mehr.
Aus notorischem Zeitmangel habe ich nun beschlossen, mal bei so mancher Pause was zu notieren und dann, wenn fertig, hier hineinzusetzen.
Ein Thema über das ich schon seit laengerem gerne schreiben möchte, ist das aktuelle Verhaeltnis zwischen der Türkei und Armenien und die Auswirkungen auf die Beziehungen zum “Brudervolk” Aserbaidschan:
Hier nun das Ergebnis vieler kleinen Arbeitspausen der letzten Tage:
Jedes Jahr laeuft es im April im Stile von “the same procedure as every year” ab. Der 23.April ist in der Türkei ein staatlicher Feiertag in Gedenken an die Gründung der Nationalversammlung 1920. Paraden, bunte Shows und historische Filme, die an die damalige Zeit erinnern.
Am 24.April gibt es in den Nachrichten aber nur ein Thema... es ist der Tag, an dem die Armenier der Opfer der “Grossen Katastrophe” erinnern, so bezeichnen sie die Vorgaenge, die 1915 in der Osttürkei stattfanden und die man als Genozid bzw. Völkermord tituliert. Die türkischen Nachrichten sind zwar immer noch dabei immer noch von einem "angeblichen Völkermord" zu sprechen, aber es hat sich einiges getan, in der Art, wie dieses Thema behandelt wird.
Dieses Thema war immer ein Tabuthema gewesen. Man sprach nicht drüber, bestritt kategorisch alles, was in irgendeiner Weise das “Türkentum” ins schlechte Licht rücken konnte. Diese Vorfaelle wurden schlichtweg ignoriert.
Als dann nach dem Zerfall der UdSSR die Probleme zwischen Armenien und Aserbaidschan um die Enklave Berg Karabach eskalierten und es zu Übergriffen an Aserbaidschanern Seitens der Armenier kam, meinte man in der Türkei, dass man als Zeichen der Solidaritaet nun auch die Grenzen zu Armenien offiziell schliessen müsse.
Ein Hauch von Wandel wehte dank des Fussballs, als die Türkei in der WM Quali in Eriwan 2008 antreten musste und der armenische Praesident seinen türkischen Kollegen zum Spiel einlud.
Praesident Gül nahm diese Einladung dankend an.
Die Folge waren Proteste seitens der kemalistischen CHP und der nationalistischen MHP und gipfelte darin, dass eine Parlamentsabgeordnete aus İzmir die Behauptung aufstellte, dass Gül armenische Vorfahren habe.
Hier reagierte Gül leider in meinen Augen falsch. Anstatt zu sagen, dass das irrevelant sei, meinte er, durch seine Pressestelle einen Stammbaum vorlegen zu müssen, der belege, dass seine Familie seit sieben Generationen “türkisch” sei.
Aber seis drum.
Einen zweiten Schub gab es, als Armenien immer mehr sich um die Öffnung der Grenzen einsetzte.
Armenien ist im Kaukasus im Westen von der Türkei und im Osten von Aserbaidschan eingeschlossen. Im Norden dann Georgien, welches auch wirtschaftlich keine grosse Hilfe darstellt. Ohne den grossen Bruder Russland waere Armenien wohl ökonomisch nicht zu halten und die Bevölkerung sei in den letzten Jahren erheblich aufgrund von Auswanderungen in andere ehemalige Sowjetrepubliken oder zu den wichtigen Diasporastaaten Frankreich und die USA geschrumpft.
Anfang April kam nun Barack Obama in die Türkei. Dieser hatte im Wahlkampf offen gesagt, dass er die Geschehnisse von 1915 als Genozid betrachte und man war gespannt, ob er dieses Wort in der Türkei in den Mund nehmen würde.
Aber er tat es nicht: Auf die Frage eines amerikanischen Journalisten meinte er nur, sich schlaengelnd, dass er seine Meinung nicht geaendert habe, aber dass es sich um eine Angelegenheit handle, die Türken und Armenier ohne Einmischung von aussen klaeren sollten.
Am 24.4. nun benutzte Obama in den USA in einer Rede die armenische Bezeichnung für die “Grosse Katastrophe”, was ihm die Armenier in den USA doch übel genommen haben sollen, da sie hofften, dass er offen von einem Genozid sprechen würde. Die Armenier in den USA hoffen, dass der Genozid, den über 40 Staaten der USA anerkannt haben (zuletzt auch Hawaii) auch von der Föderalregierung als solcher angesehen wird.
Nun zu der aserbaidschanischen Seite: Diese ist absolut beleidigt über eventuelle Annaeherungsbestrebungen zwischen der Türkei und Armenien. Der aserbaidschanische Praesident Aliyev drohte Erdgas und Erdöllieferungen an die Türkei einzustellen und auch grosse Pipelineprojekte wie Nabuco aufzugeben, die ja gerade von Aserbaidschan unterstützt wurden, mit dem Bestreben, Russlands fast schon monopolistische Position zu schwaechen. Auch die EU unterstüzt dieses Projekt, denn man hat ja mit der russischen Energiezulieferpolitik so seine Probleme schon gehabt.
Aserbaidschan entsendet Parlamentarier in die Türkei, die auf die türkischen Kollegen Druck machen, und Aliyev trifft sich zeitgleich mit dem russischen Praesidenten und mimt Verbrüderung in die Kameras.
Dabei war es Russland, ohne dessen Unterstützung Armenien nicht nur wirtschaftlich schlechter dastehen würde... ohne russische Waffenunterstützung haette Armenien wohl auch in der Auseindersetzung um die aserbaidschanische Enklave Berg Karabach kaum diese Dominanz behaupten können. Nun wendet sich der beleidigte kleine Bruder Aserbaischan also aus Protest Russland zu, das wirtschaftlich und politisch dies natürlich begrüsst, da sie dem russischen Eigeninteresse nur entgegenkommen kann, wenn die Achse Aserbaischan – Georgien – Türkei bröckelt.
Ein anderer Punkt sind die offenen und freien Diskussionen zu den Geschehnissen von 1915 im türkischen Fernsehen. So offen konnte noch nie darüber gesprochen werden.
Türkische Wissenschaftler dokumentieren anhand von Schriftstücken, wie 1915 in fast allen Staedten Armenier zur Deportation in den Süden zusammengeführt wurden. Sie belegen Übergriffe auf diese Deportationskarawanen, bestreiten aber weiterhin, dass es hierfür einen “Genozid-Befehl” gab.
In diesen Runden nennen andere Teilnehmer auch die Vorfaelle von 1950 beim Namen als die letzten Gemeinden der Juden, Griechen und Armenier, die in der Türkei, ihrem Geburtsland bleiben wollten, mit exorbitanten Sondereinkommenssteuern, die nur sie zahlen mussten, vergrault wurden. Eine Zeit, in der zudem eine derart negative Einstellung gegenüber den “wohlhabenden” Juden, Griechen und Armeniern aufkeimte, dass es zu Übergriffen und zu Pogromen kam.
Sie sprechen frei darüber, dass der türkische Staat den Kemalismus verhunzt habe und nur darauf aus sei, willfaehrige Ja-Sager zu formen, die keine unangenehmen Fragen stellen.
Und einem MHP Abgeordneten, der als Einwand einwirft, dass in der Armenischen Verfassung über Armenien nur als Ost-Armenien die Rede sei, weil man Regionen im Westen, also in der heutigen Türkei beanspruche, und dies durch das Symbol des Berges Ararat, der sich auch auf türkischem Gebiet befindet, deutlich mache, kann man heutzutage im türkischen Fernsehen frei entgegnen, dass in der Verfassung stehen könne, was wolle. Wichtig sei, was man wirklich lebe.
Vor Jahren undenkbar.
Und gestern bei einer Versammlung des Nationalen Sicherheitsrats, bei dem Militaers und Regierung unter Vorsitz des Praesidenen jeden Monat die Lage der Nation besprechen, beschloss man einstimmig, dass “Türken und Armenier sich bemühen sollten, sich vorurteilsfrei anzunaehern”
So etwas waere in der Türkei vor ein paar Jahren noch undenkbar gewesen.
Ob es im völkerrechtlichen Sinne 1915 wirklich zu einem Völkermord kam weiss ich nicht. Es herrschte Krieg, das Osmanische Reich zerfiel an allen Fronten und von Osten versuchte Russland seinen Teil davon an sich zu reissen und bot den Armeniern die Wiederauferstehung eines eigenen Staates an. Als daraufhin hier und da Armenier türkische Dörfer angriffen beschloss man ihre “Umsiedlung”.. zumindest wird dies so behauptet.
Dabei seien viele Menschen gestorben, Opfer des Volkszorns geworden, der sich gegen sie breit gemacht hatte und auch durch Soldaten wurden viele auf dem Weg ermordet... aber... so die türkische Ansicht: ohne konkreten Befehl von oben.
Jahrhundertelang waren Armenier im Osmanischen Reich in den höchsten Staatsaemtern gewesen, ich kann in İstanbul kaum ein Schloss, kaum eine historische Villa am Bosporus vorzeigen, dessen Architekt kein Armenier war. Die Liste der Grosswesire ist voll von Armeniern und auch was die klassischen musikalischen türkischen Werke betrifft, so stammen sie meist aus der Feder von armenischen Türken.
Der aufkommende Nationalismus im 19Jhd. der zum Zerfall des Reiches beitrug, weckte bei den Türken auch eine extreme Form des Nationalismus, der in den Untergangsjahren einen Hass gegen alle Bürger mit nicht-türkischer Herkunft aufbrachte. (Wobei auch dies müssig ist, da das Osmanische Reich immer mal umgesiedelt hat, auch über grosse Entfernungen, da man unbevölkerte Gebiete des viel zu grossen Reiches bevölkern wollte - selbst im tiefsten Anatolien finden sich dadurch heute noch z.B. Dörfer mit vorwiegend bosnischer Bevölkerungsherkunft)
Es ist müssig danach zu suchen, wer angefangen hat. Es ist müssig die Toten zu zaehlen.
Wenn 1915 wirklich nur eine “Umsiedlung” beschlossen wurde, um die Gefahr im Osten zu mindern, dann haette man es, wenn man es den wirklich nur als solche durchführen wollte, dafür Sorge tragen müssen, dass alles ohne Schaden für die Bürger ablaeuft. Auch wenn es vielleicht keinen Befehl von oben gab, es gab gewiss eine “Duldung”, und irgendwann merkte vielleicht die osmanische Regierung, dass es ihnen in den Kram passte, wenn die Armenier ihre Umsiedlungsziele nie erreichten.
Ich will und kann nicht juristisch ausdiskutieren, ob es sich nun um einen Genozid handelte oder nicht.
Die Türkei hat vor zwei Jahren die Einberufung einer Kommission von Wissenschaftlern aus der Türkei und Armenien angeregt. Beide Staaten sollten alle ihre Archive öffnen und die Türkei würde alle Entscheidungen dieser Kommission akzeptieren.
Nun gut... die Türkei ist nicht unbedingt dafür bekannt sich an gegebene Versprechen zu erinnern, wenn es erkennt, dass die Folgen doch unangenehmer sind als erwartet.
Die armenische Seite ist in diesem Punkte direkter: sie sagten, dass solch eine Kommission eingerichtet werden könne, aber ihre Ergebnisse seien nicht bindend.
Dennoch... Insgesamt eine spannende Entwicklung aus der die Türkei, der Staat und seine Bürger einen weiteren Schritt im Reifeprozess machen können. Man kann gespannt sein, was die Zukunft in dieser Region bringen wird.
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ateyim registrierter User
Anmeldungsdatum: 21.05.2007 Beiträge: 3656
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(#1278926) Verfasst am: 30.04.2009, 06:54 Titel: Re: Türkei - Armenien - Aserbaidschan |
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narziss hat folgendes geschrieben: | Ladeeni hat folgendes geschrieben: | Ich möchte dir gratuliere zum neuen Moderator-Posten.
Deine Berichte sind einfach interessant. Ich danke dir vielmals für deine Mühe.
ateyim hat folgendes geschrieben: |
Jahrhundertelang waren Armenier im Osmanischen Reich in den höchsten Staatsaemtern gewesen, ich kann in İstanbul kaum ein Schloss, kaum eine historische Villa am Bosporus vorzeigen, dessen Architekt kein Armenier war. Die Liste der Grosswesire ist voll von Armeniern und auch was die klassischen musikalischen türkischen Werke betrifft, so stammen sie meist aus der Feder von armenischen Türken.
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Ich habe gelesen, dass der Wissenschaftler, den Atatürk mit der Reform der türkischen Sprache beauftragt hat, ein Armenier war. Was immer bestritten wird. | Weil es den Nationalisten nicht in den Kram passt, oder weil es nicht stimmt? |
Ehrlich gesagt: ich weiss es nicht, aber zu der Zeit waren in İstanbul und Ankara in der Wissenschaft sehr viele vor allem jüdische und armenische Türken aktiv... ich müsste mal schauen, ob ich darüber was herausfinden kann, aber wahrscheinlich wird es schwer sein, herauszufinden, was wirklich die Wahrheit ist.
Die Unterschriftenaktion wurde hier von der Mehrheit nicht akzeptiert und die Akzeptanz kam nur von einem ganz kleinen Kreis von Intellektuellen.
ABER
die Diskussion die darüber entfacht wurde brachte ans Licht, dass gar nicht mal so viele den Umstand bestreiten, dass Armenier ermordet wurden.
Es geht vor allem darum, dass man es nciht als Genozid bezeichnet sehen möchte, und dass man nicht übersieht, dass vorher auch armenische Freischaerler Greueltaten an Türken begangen haben.
Die Psyche der Türkei... ich nenne es mal so... streubt sich vehement dagegen, und dies ist das Ergebnis der jahrzehntelangen Leugnung, als alleiniger Schuldiger der Verbrechen abgestempelt zu werden.
Ich war wirklich erstaunt, wie selbst viele eher kemalistische Politiker über schlimme Taten beider Seiten sprechen, aber den letzten grossen Gedankensprung bekommen sie einfach nicht hin.
Es gab natürlich viele versuche, die Leute, die unterschrieben haben, anzuklagen, aber diese Klagen wurden nicht zur Klage zugelassen und Gül hat dies auch bereits als freie Meinungsaeusserung deklariert.
Und wie es in Armenien aussieht und wie die Mehrheit der Armenier aussieht.
Dazu kann ich nur sagen, dass türkische Reporter unbehelligt in Eriwan filmen können, dass sie sogar das Mahnmal des Genozids besuchen können und ihnen alles erklaert wird. Nach dem Fussballspiel das die Türkei in Eriwan bestritten hatten letztes Jahr, wurden türkische Fans nicht isoliert und konnten vor und nach dem Spiel Eriwan touristisch erkunden.
Diesbezüglich habe ich so meine Zweifel, ob das beim Rückspiel genauso ablaufen wird.
Dies sind banale Infos von der armenischen Seite, und ob die paar Passanten, die auf der Strasse bei einer Befragung eine Öffnung befürworteten, tatsaechlich repraesentativ sind weiss ich nicht.
Aber wirtschaftlich scheint es Armenien in seiner isolierten Lage wirklich sehr schlecht zu gehen und vielleicht ist man dadurch zu einer Annaeherung bereit.
Der armenische Praesident sagte jedenfalls, dass es keine Vorbedingungen von armenischer Seite für eine Grenzöfnung geben werde und historische Fragen von Historikern behandelt werden müssen.
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