Der unbekannte Gott apolitischer Atheist
Anmeldungsdatum: 24.07.2003 Beiträge: 1595
Wohnort: Das alte Europa
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(#133038) Verfasst am: 01.06.2004, 23:43 Titel: Ausgedachte Geschichten |
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Ein Thema als Gegenstück zum Lyrischen Symposium, mit eben nur einer anderen Gattung, der Kurzgeschichte.
Und da fange ich auch mal an:
Sekunde der Kachexie
Weit geöffnet waren ihre Augen, sie starrten ins Nichts. Eine einzelne Träne entwand sich, perlte ab an den in tiefen Höhlen verborgenen Wimpern.
Verfall! Vergänglichkeit!
Ein Projektil zog seine Bahn um sie, die Spirale versuchend, den Einschlag erwartend beide. Flirrend, sirrend, girrend, flimmernd träumte es seinen Weg, träumte das Projektil sie. Wer träumte wen? Ein Traum im Nichts, vergessend, welche Richtung er genommen, wessen Geistes Auswurf er geworden war.
Sie starrte am Projektil vorbei, sah die Fassade der Dinge abblättern, sah im Verwesungsrausche der Auszehrung, wie die Realität leichte Risse bekam. Wie Rinde von Bäumen brachen Fetzen aufgebauten Seins, scheinbaren Sinns, und das entseinte Nichts quoll dem Baumharze gleich blutend in die Leere.
Ihr Solarplexus sog die letzten Strahlen der Welt ein, als wäre es Lebenshauch, wissend, daß es doch des Todes Odem war. Ihre starren Augen weiteten die Pupillen, es verzerrte sich ihr Mund, und letzte Kräfte ließen konvulsivisch ihren abgezehrten Körper zucken, ihre Augen gingen über, da der Tod nahte.
Wo sind die Kräfte, die einst noch waren?
Durch dünne Adern floß langsam der Rest ihres Blutes, dickflüssig und verarmt. Der Krampf endete, und schwache Lungen zogen wieder hinein eisige Luft, versetzt mit Krankheit, Tod, Verzweiflung. Unsicher, unregelmäßig schlug das zerstückelte Herz, wanden sich Gedärme im Absoluten.
Zurücksinkend schmerzten ihre Muskeln, traten Sehnen durch dünne, zerrissene Haut, bogen Knochen sich. Sie starrte nach oben, ihre Augen schmerzten das Projektil an, das in seinem Laufe sich schon ihr genähert hatte. Erstorbener Blick, der gar nicht erstorben wirken konnte, weil ihn niemand sah.
Wie lange schon?! – Wie lange noch?!
Kachexie verschlang den Körper ins Nichts. Sie hielt es für gut, diesen verfluchten Körper zu entkörperlichen. Da kam ihr nur entgegen, daß langsam Tod und Schein diesen Körper atrophierten.
Blutleere sichelte letztes Aufgebautes nieder, während Starre in dämmernden roten Äderchen ob Agrypnie Augenweiß durchsäte.
Hinter diesen leeregetränkten Augen glutete noch immer ein Erinnern an alte Zeiten. Diese Glut sehnte danach, immerhin die Struktur des Ganzen zu empfinden, wenigstens die Ewigkeit aufzufangen im perlenden Purpur einer Träne.
Im Ende aufgebäumte Lebenskräfte durchzuckten in Stromstößen ihre Neuronen.
Auszehrung! Vergehen!
Wie die Sehnen aus der Haut ragten, so schien der durchblitzte Sehnerv im modernden Gestrüpp seelischer Gehirnfragmente hervorzuragen, umzogen von ausgezehrten Organen.
Sie selbst hatte das Projektil abgefeuert, wissend, daß sie selbst dieses Projektil war, ungewiß, ob sie nicht der Traum des Projektils war. Sein Schatten wanderte über den Boden, hinterließ Spinnwebengeranke auf versteinerter Umsargung, rötlich schimmerndem Parkett, eiternden Wunden der Zeit.
Hinter Vorhängen schien hämisch härmend Sonnenstrahlenkrieg, einen Spalt weit die Augen aufreißend, das Projektil immer näher.
Fieberwahn! Verzehrung!
Ruhe findend, fröstelte sie dem Tode entgegen, starrte sinnverbrennend den Tunnel entlang, dem Lichte entgegen, das ein Stern ist, eine Sonne, die verbrennt, die Tode sprüht. Sie spürte die Protuberanzen auf der Bindehaut, entzündend Fleisch, verdammt, in einem kleinen Knistern zu vergehen.
Zu einem Lächeln verzerrte Lippen waren zu schwach, Letztes auszuhauchen, dem Angesicht des Todes sprachlos entgegenschreiend.
Atmung ließ nach, da auf niedrigstem Verbrauch notwendigerweise alles sein mußte, nur von der Seele zehrte sie noch, da ihr Körper schon überging ins Nichts.
Noch immer perlte die letzte Träne, Umnachtung schleierte orphisch zwischen Fühlen und Denken. Ein Auge sah herab aus Fluten des Lebens, aus Stürmen, selbst gebrochen, und rannte gegen Mauern aus Eis. Es schloß sich, dem Zerfall nicht entgehen könnend. Es war auch ihr Auge, es war auch sie, die sich betrachtete, es war auch sie, die den Kometen schleuderte gegen sich, und es war sie, die Auszehrung wollte.
Auflösung! Zersetzung!
Der Verfall verkettete sie mit Eisen, schmiedete sie Ikarus gleich an Feuer, Schicksal und Verderben. Der Solarplexus sandte letzte Impulse in ausgebrannte Gehirngefilde, brandete noch einmal gegen die Leere, um sich zurückzuziehen.
Ewigkeit umweißte sie.
Nur noch das Nichts war da, und sie im Nichts, langsam assimiliert werdend, sich auflösend.
Das Nichts! Das Nichts! –
Keine Sekunde war es her, da das Projektil ward abgefeuert, doch ewig schien es auf sie zuzukommen, ewig schien sie gefangen zu sein in der Erwartung des Aufpralls, des Zerfetztwerdens, des Ausströmens ihres Hirns, des spritzenden Blutes auf siechtumsdurchtränkten Kissen. Und noch immer dauerte die Sekunde an, denn die Kachexie hatte ihre Realität fixiert auf diese eine Sekunde, und so endete sie nie, mochten auch alle Zeiten für alle anderen vergehen.
Vergehen…
_________________ "Unwissenden scheint, wer Weises sagt, nicht klug zu sein." (Euripides)
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