Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen |
Autor |
Nachricht |
Catholik registrierter User
Anmeldungsdatum: 21.07.2012 Beiträge: 308
|
(#1770633) Verfasst am: 31.07.2012, 17:49 Titel: "Der Vorleser" - und die Frage nach der Schuld! |
|
|
Hat jemand von euch gestern Abend "Der Vorleser" gesehen?
Falls ja--was denkt ihr über das Verhalten der Hannah Schmitz, war sie schuldig oder nur Mitläuferin?
Ich halte mich mit meiner Meinung erstmal zurück.
|
|
Nach oben |
|
 |
Catholik registrierter User
Anmeldungsdatum: 21.07.2012 Beiträge: 308
|
(#1770645) Verfasst am: 31.07.2012, 18:47 Titel: |
|
|
Persönlich denke ich,dass an dem NS-Wahn nicht nur die "Drahtzieher" wie Hitler,Goebbels usw. Schuld auf sich geladen hatten, sondern auch diejenigen, die an diversen Stellen "nur ihre Pflicht" taten,oft ohne sich Gedanken über die Folgen zu machen.
|
|
Nach oben |
|
 |
rawuzl registrierter User
Anmeldungsdatum: 29.04.2012 Beiträge: 48
|
(#1770652) Verfasst am: 31.07.2012, 19:06 Titel: |
|
|
professor der rechtswissenschaften rohl (bruno ganz) erklärte michael berg während des prozesses gegen hanna, dem beide beiwohnten – so weit erinnerlich – , dass ein verbrechen nur im zusammenspiel mit der gesetzeslage, welche zum tatzeitpunkt gültigkeit besitzt, beurteilt werden kann.
lebe seit 15 jahren tv-geräte-frei, erwarb die DVD vor "ewigkeiten", ihr inhalt hat mich nicht überzeugt. irgendwie verkam ein im prinzip differenziert zu betrachtendes sujet zu schwülstigen gemütsbewegungen auf wirklich allen ebenen, welchen ich sachliches herangehen an ein komplexes thema vorziehe.
_________________ ohne musik wäre das leben ein irrtum. (friedrich nietzsche)
|
|
Nach oben |
|
 |
Catholik registrierter User
Anmeldungsdatum: 21.07.2012 Beiträge: 308
|
(#1770656) Verfasst am: 31.07.2012, 19:22 Titel: |
|
|
Prinzipiell hat er damit Recht, aber was ist, wenn der Staat, der die Gesetze erlässt, ansich schon ein Unrechtsstaat ist, muss man dann die Gesetze auch befolgen?
Die KZ.Aufseherin Schmitz hatte ja während des Dritten Reiches absolut gesetzestreu gehandelt, aber war ihr Handeln deswegen auch richtig?
rawuzl hat folgendes geschrieben: | professor der rechtswissenschaften rohl (bruno ganz) erklärte michael berg..., dass ein verbrechen nur im zusammenspiel mit der gesetzeslage, welche zum tatzeitpunkt gültigkeit besitzt, beurteilt werden kann.
... |
|
|
Nach oben |
|
 |
Telliamed registrierter User
Anmeldungsdatum: 05.03.2007 Beiträge: 5125
Wohnort: Wanderer zwischen den Welten
|
(#1770667) Verfasst am: 31.07.2012, 19:49 Titel: |
|
|
Catholik hat folgendes geschrieben: | Prinzipiell hat er damit Recht, aber was ist, wenn der Staat, der die Gesetze erlässt, ansich schon ein Unrechtsstaat ist, muss man dann die Gesetze auch befolgen?
Die KZ.Aufseherin Schmitz hatte ja während des Dritten Reiches absolut gesetzestreu gehandelt, aber war ihr Handeln deswegen auch richtig?
rawuzl hat folgendes geschrieben: | professor der rechtswissenschaften rohl (bruno ganz) erklärte michael berg..., dass ein verbrechen nur im zusammenspiel mit der gesetzeslage, welche zum tatzeitpunkt gültigkeit besitzt, beurteilt werden kann.
... | |
Damit sind die Debatten über die Anwendbarkeit der "Radbruch-Formel" berührt, die nach der Herstellung der deutschen Einheit 1990 im Zusammenhang mit Prozessen um das Grenzregime der Deutschen Demokratischen Republik wieder aufflammten.
http://de.wikipedia.org/wiki/Radbruchsche_Formel
Die Beantwortung der recht komplexen Frage hängt wesentlich vom Standpunkt des Betrachters ab. Die DDR war meines Erachtens eine "Diktatur" und bezeichnete sich auch selbst so, aber die Formel vom "Unrechtsstaat", der dem "Rechtsstaat" entgegengesetzt werden soll, entspringt der Siegermentalität eines Teils der 1990 berauschten westdeutschen Eliten, ist vereinfachend für diesen von mehr als 150 Ländern anerkannten Staat, und ich lehne sie ab. In einem "Rechtsstaat" konnten führende Nazis höchste Staats- und Justizämter einnehmen.
Diskussionen darüber würden aber noch weiter weg führen - was war "richtiges Verhalten" in einem System, das man sich nicht aussuchen konnte. Das führt zu der berühmten Bemerkung von Richard von Weizsäcker 1990, dass man nicht in Versuchung geraten solle, leichtfertig über die Menschen in einem System zu urteilen, in dem man nicht gelebt hat.
Aber man sollte besser beim NS-Regime bleiben.
Ich habe ebenfalls kein Fernsehen, nur der Roman "Der Vorleser" von Bernhard Schlink ist mir geläufig.
Im Ausgangsbeitrag scheint mir die Alternativfrage nicht richtig gestellt zu sein: "war sie schuldig oder nur Mitläuferin?" Sie suggeriert, dass irgendwann aus Mitläufertum ein "Schuldigsein" wird, wobei dann wieder rechtliche Bewertungen und moralische Urteile ineinander übergreifen. Aber es handelt sich hier nicht um eine Alternative.
Mitglieder einer von der Justiz nach 1945 als "verbrecherisch" eingestuften Organisation mit abertausenden Mitgliedern konnten im Einzelfall menschlich handeln und Verbrechen verhindern. Die Frage ist dann, wie der Einzelne mit diesem Teil seiner Biographie umging.
|
|
Nach oben |
|
 |
rawuzl registrierter User
Anmeldungsdatum: 29.04.2012 Beiträge: 48
|
(#1770670) Verfasst am: 31.07.2012, 20:00 Titel: |
|
|
@ catholik
ein unrechtsstaat benötigt unrechtspolitikerinnen, um als unrechtsstaat zu gelten. diese politiker erfahren von unrechtsbürgerinnen, die sie vermittels urnengangs an die spitze hieven, legitimität (ausgenommen ein diktator okkupiert ein land oder holt es sich durch kriegerische handlungen). wer sich aus der runde der unrechtsbürger zu absentieren gedenkt, kehrt seiner unrechtsheimat am besten schnell den rücken. wem die flucht nicht (mehr) gelingt, dem bleiben zwei möglichkeiten: tyrannenmörderische überlegungen anzustellen oder zu schweigen.
hanna stellt für mich diese typische unrechtsbürgerin dar, die die unmoral des staates und seiner gesetze für ihren beruflichen aufstieg benützt. und weil sie alles andere als eine intelligenzbestie ist, hinterfragt sie nicht. ihr niedriger IQ entschuldigt – rechtlich betrachtet – vieles. heute wird einem menschen ihres geistesniveaus vor gericht möglicherweise verminderte schuldeinsicht attestiert.
sobald sie im gefängnis ihrer einfalt gegenarbeitet, indem sie sich bemüht, ihr analphabetendasein zu beenden, kommt offensichtlich ein schuldbewusstsein zustande, das vorher (in ihrem leeren hirn) nicht vorhanden gewesen sein dürfte. in zusammenhang stehend mit ihren ängsten zu wissen, sie würde das leben nach der haft in freiheit nicht zu bewältigen im stande sein, wählt sie sodann den suizid.
_________________ ohne musik wäre das leben ein irrtum. (friedrich nietzsche)
|
|
Nach oben |
|
 |
Catholik registrierter User
Anmeldungsdatum: 21.07.2012 Beiträge: 308
|
(#1770708) Verfasst am: 31.07.2012, 22:06 Titel: |
|
|
Das stimmt, ich habe zwischenzeitlich auch selber bemerkt.
Ich greife mal das auf, was Du über den Einzelnen und sein Handeln geschrieben hast.
Nehmen wir Oscar Schindler.
Er war Mitglied der NSDAP- war er Täter,Mitläufer oder was?
Fakt ist, dass er anfangs überzeugter Nazi war, dann im Lauf der Zeit begriff, was die Nazis vorhatten und seine Meinung änderte.
Denoch blieb er Parteimitglied,denn nur so konnte er Kontakte knüpfen, um Juden zu befreien.
Telliamed hat folgendes geschrieben: |
...
Im Ausgangsbeitrag [u]scheint mir die Alternativfrage nicht richtig gestellt zu sein: "war sie schuldig oder nur Mitläuferin?"...
Mitglieder einer von der Justiz nach 1945 als "verbrecherisch" eingestuften Organisation mit abertausenden Mitgliedern konnten im Einzelfall menschlich handeln und Verbrechen verhindern. Die Frage ist dann, wie der Einzelne mit diesem Teil seiner Biographie umging. |
|
|
Nach oben |
|
 |
Critic oberflächlich
Anmeldungsdatum: 22.07.2003 Beiträge: 16357
Wohnort: Arena of Air
|
(#1770749) Verfasst am: 01.08.2012, 01:20 Titel: |
|
|
(1) Ich habe in dem Moment für Hanna Mitleid empfunden. Darf man das, Mitleid mit Tätern haben, das Urteil (zumindest seiner Höhe nach) falsch finden? Nun kann man, wenn man jemanden, der einen Mord begangen hat, lebenslang einsperrt, jemanden, der 300 Menschen "auf dem Gewissen hat", wohl kaum weniger hart bestrafen. (Man könnte natürlich auch fragen: Millionen haben in diesem System mitgemacht, viele Tausende dürften noch viel mehr Schuld auf sich geladen haben - und wurden nicht oder nur vergleichsweise milde bestraft.) Zumindest in der Relation zu den Anderen erschien mir die Strafe aber nicht richtig. Man könnte sich schon fragen, hat ist der Zuschauer damit in eine Position versetzt, wie sie vielleicht so Mancher hatte, nämlich den Ex-Nazi als Menschen kennenzulernen.
(2) In der Szene, in der sie von den Mitangeklagten belastet wird, sie habe den tödlichen Befehl erteilt, und es zugibt - auch den Bericht darüber geschrieben zu haben, ohne lesen und schreiben zu können, könnte man ja vielleicht auch denken, sie übernimmt stellvertretend die Schuld, die die Anderen nicht übernehmen wollen. Immerhin hat sie ja geweint, als der Junge ihr eine traurige Stelle vorgelesen hat. Könnte es also sein, daß sie dadurch so etwas wie Gefühle entwickelt. (Dazu könnte man ja auch fragen: Könnte man es nicht so sehen, daß sie diejenigen, die ihr vorlesen, dann wegschiebt, oder selbst verschwindet: Sie will das ja nicht. Oder sie kann auch nicht: Sie nimmt die bessere Arbeit nicht an, weil sie dafür lesen und schreiben können müßte. Auch im Roman scheint es - zumindest, was auf die Schnelle so bei WP steht - ja so zu sein, daß sie später im Gefängnis nicht nur lesen lernt, sondern sich auch mit der Nazizeit auseinandersetzt. Der Analphabetismus also insofern als Symbol für die verweigerte Auseinandersetzung.)
(3) Andererseits ist es auch vorhersehbar: Analphabeten tun manchmal verwegene Dinge, um nicht aufzufliegen, und das geht mitunter jahrelang gut. Da haben sie "ihre Brille nicht dabei", wann immer sie irgendwas lesen müßten, lernen Straßenkarten auswendig oder fahren Wege vorher in Begleitung ab. Aber wenn es schiefgeht, wenn sie etwa befördert oder versetzt werden, dann geraten sie aus der Spur, machen fast gezwungenermaßen Fehler oder kündigen, weil sie mit den neuen Anforderungen nicht zurechtkommen.
Eine Kritik an dem Film war dann auch: Für die Angeklagte sei es offenbar eine größere Schande, nicht lesen und schreiben zu können, als über ihre Taten als KZ-Aufseherin zu sprechen.
Sie schildert ihre Taten ziemlich banal, sie verdeckt sie nicht, begründet sie mit Sachzwängen oder Vorstellungen wie "Ordnung" und "Disziplin", als ob diese die höchsten Ziele seien, sie erweckt den Eindruck, daß sie nicht einmal weiß, daß das, was sie getan hat, verachtenswert war. Wenn man die Kritik aufnimmt, so zeigt das vielleicht - wie die Schule es auch nicht geschafft hat, ihr das Lesen beizubringen, - daß sie insofern das Produkt einer Gesellschaft ist, die moralische Kategorien verschoben und Menschen zu solchen "Tugenden" erzogen hat (und das nicht nur während der Nazizeit, sondern auch schon Generation früher).
Das Lesenlernen stellt insofern also eine Metapher für die gesellschaftliche Aufarbeitung von Schuld und Verantwortung dar.
(Sie ist allerdings auch die Einzige, die ihre Taten einräumt - und in ihrer Naivität dem Richter die Frage stellt, was er wohl in der Situation getan hätte: Wollte man moralisch urteilen, wäre vielleicht auch das zu berücksichtigen. (Oder hatte am Ende nicht auch der Richter eine Rolle in der Zeit, und ist es mehr oder weniger eine glückliche Fügung, daß er nicht auch angeklagt wurde?) Es ist aber kein Fall von schweren Repressalien gegen Personen bekannt, die derartige Tätigkeiten nicht (weiter) ausüben wollten .)
Die Position des Professors finde ich dementsprechend verkürzt: So haben viele Täter sich so herauszureden versucht - "es sei doch Krieg gewesen", da gälten "andere Regeln"; oder sie seien "gezwungen" worden, sie wären bestraft worden, hätten sie das nicht getan oder ähnliches. Oder ich erinnere auch an das Statement von Hans Filbinger, daß was zur Nazizeit Recht gewesen sei, später nicht als Unrecht beurteilt werden könne.
Ein anderes Beispiel: Im "Melierdialog" aus dem Geschichtswerk des Thukydides wird beschrieben, wie im Peloponnesischen Krieg die Athener an die Bevölkerung der kleinen Insel Melos die Forderung richteten, sie müßten im Krieg zwischen Athen und Sparta (und den jeweiligen Verbündeten) Stellung beziehen (letzten Endes das bekannte "Entweder ihr seid mit uns oder gegen uns"). Die Melier wollten einfach nur in Frieden leben und haben das Ansinnen abgelehnt. Die Athener sahen es allerdings aufgrund ihrer Vorstellung, daß ihre Macht ihr Vorgehen stets legitimiere, als erlaubt an, ihren Stützpunkt dort mit Gewalt einzurichten. Sprich, man hat Melos angegriffen und sich dort mit Gewalt festgesetzt, viele Bewohner der Insel starben. Nach dem damaligen Verständnis konnte der Sieger mit dem Besiegten eigentlich alles tun, ihn umbringen, versklaven, was auch immer - wieviele Tausende "besiegter Feinde" umkamen, schildert beispielsweise auch Julius Caesar in seinem "Gallischen Krieg" recht lapidar. Das hat Thukydides aber schon damals auf der moralischen Ebene kritisiert. Durch die Schilderung dieser Episode stellte er den Krieg für Athen als aus moralischer Sicht schon verloren dar.
Können - oder müssen wir nun nicht sogar Vergangenes aus moralischer Sicht beurteilen?
Die Spartaner dürften damals aber auch nicht anders gehandelt haben, und wir können ja auch Julius Caesar, der als "Gallischer Krieger" ja ein "Sieger der Geschichte" war, moralisch beurteilen. Insofern hat der Einzelne - auch derjenige, der sich als "Sieger der Geschichte" bzw. als moralisch gerechtfertigt fühlt - zwar vielleicht keine Schuld, wohl aber eine eigene Verantwortung zu bewältigen, daß es eben auch nicht noch einmal Charaktere gibt, die derartig banal oder stumpfsinnig offensichtlich Verachtenswertes ausführen.
Und daß bei den Nazi-Tätern nicht die Gesetze der Nazizeit angewendet wurden, zeigt ja auch, daß man die damaligen Handlungen auch rechtlich aus heutiger Sicht beurteilt.
_________________ "Die Pentagon-Gang wird in der Liste der Terrorgruppen geführt"
Dann bin ich halt bekloppt.
"Wahrheit läßt sich nicht zeigen, nur erfinden." (Max Frisch)
|
|
Nach oben |
|
 |
|