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Christa Wolf: Ein Tag im Jahr 2001-2011

 
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Telliamed
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Anmeldungsdatum: 05.03.2007
Beiträge: 5125
Wohnort: Wanderer zwischen den Welten

Beitrag(#1836353) Verfasst am: 30.04.2013, 23:25    Titel: Christa Wolf: Ein Tag im Jahr 2001-2011 Antworten mit Zitat

Für R.




Christa Wolf: Ein Tag im Jahr im neuen Jahrhundert 2001-2011. Herausgegeben von Gerhard Wolf. Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 162 Seiten.

1960 war ein Aufruf der Moskauer Regierungszeitung „Izvestija“ an die Schriftsteller der Welt ergangen, einen Tag im Jahr, den 27. September, möglichst genau zu beschreiben. Christa Wolf schilderte ausführlich ihren 27. September 1960 und befand dieses Verfahren für geeignet, sich in den folgenden 43 Jahren auf diese Weise Rechenschaft über ihre Gedanken und ihre Gefühle abzulegen.

Nach dem Tod der Schriftstellerin am 1. Dezember 2011 gab ihr Ehemann, der Schriftsteller Gerhard Wolf (geb. 1928), mit dem sie seit 1951 verheiratet war, die Fortsetzung ihrer Texte „Ein Tag im Jahr“ (1960-2000) heraus, die 2003 erschienen sind. Es sind Ausdrucke aus ihrem Computer, die nur 2008 verändert wurden, als Christa Wolf im Krankenhaus war.

http://freigeisterhaus.de/viewtopic.php?p=1708619#1708619
http://freigeisterhaus.de/viewtopic.php?p=1712142#1712142

Jetzt wird die Zeit vom Attentat auf das World Trade Centre in New York im September 2001 bis kurz vor dem Tod Christa Wolfs erfasst. Sie fragte eingangs: „Wie kommt Leben zustande? Alltag verwandelt sich in gelebte Zeit.“
Scheinbar belanglose Tage stehen neben "interessanten". Sie notiert alltägliche Verrichtungen, wie Wäsche aufhängen und Küche aufräumen, sie zitiert, immer wieder unkommentiert, zahlreiche Rundfunk- und Zeitungsnachrichten, und gibt Rechenschaft darüber ab, was sich in ihrer Küche tut.
Christa Wolf hat beständig Sorge, ihr Gewicht vermindern zu müssen. Sie orientiert sich an der subterranen Küche, schluckt alle möglichen Pillen und Tropfen mit zweifelhafter Wirksamkeit.


In bewährter Manier berichtet sie von ihren Familienmitgliedern, den Kindern, Enkeln, zahlreichen Freunden und Bekannten, ein Wohlmeinender schreibt, dass sie dadurch "den Leser zum Familienmitglied mache" (S. 91).

Wohl sei ihr das 20. Jahrhundert als das „grauenvollste Saeculum der Weltgeschichte“ erschienen (S. 20), doch das 21. Jahrhundert habe nicht weniger grauenvoll begonnen.

Dass sich an der „Antiterrorkoalition“ Amerikas, das den Krieg in Afghanistan 2001 eröffnete, auch Turkmenistan, Aserbaidshan und Usbekistan beteiligten, wird als Notiz nur der für bemerkenswert halten, der wie Christa Wolf die Sowjetunion jahrzehntelang als einiges und unzerstörbares Gebilde wahrgenommen hatte.

Die Geschichte erscheint ihr „wie ein Trichter, in den unsere Leben hineinstrahlen“ (S. 24).

„Fängt so der Dritte Weltkrieg an“ (S. 19), fragte nicht nur Christa Wolf am 11. September 2001. Das Gefühl von Spannung und Angst habe sie wieder befallen.

Sie hätte nicht mehr gedacht, dass ihre Enkel nun wieder mit Kriegshandlungen konfrontiert seien, die sie einst bedrängt hätten. Eine ähnliche Wirkung auf sie erzielten der Januar 1945, der Kriegsbeginn am 1. September 1939, der Einmarsch in die Tschechoslowakei im August 1968 (S. 19). Christa Ihlenfeld war mit einem Flüchtlingstreck im Januar 1945 auf einer Landstraße in Mecklenburg in amerikanischen Beschuß aus Maschinengewehren geraten, sie sah das Sternenbanner am Heck und die Gesichter der Piloten. Ein Landarbeiter starb an der Stelle, an der Christa Ihlenfeld kurz zuvor gestanden hatte (vgl. S. 24).

Sie begann die Häuser ihrer Stadt, Berlins, als Ziele für eine mögliche Zerstörung durch Terroristen anzusehen. So erging es mir im September 2001 auch beim Anblick des sowieso sattsam berüchtigten „Kreisels“ in Steglitz. Mir schien ebenfalls, als würden dort jederzeit Flugzeuge hineinrasen können.

Die letzten Worte der Aufzeichnungen lauten:
"BZ: Es wird laut über dem Müggelsee." (S. 155).

Fortsetzung folgt.
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zelig
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Anmeldungsdatum: 31.03.2004
Beiträge: 25405

Beitrag(#1836420) Verfasst am: 01.05.2013, 11:52    Titel: Re: Christa Wolf: Ein Tag im Jahr 2001-2011 Antworten mit Zitat

Telliamed hat folgendes geschrieben:
Sie begann die Häuser ihrer Stadt, Berlins, als Ziele für eine mögliche Zerstörung durch Terroristen anzusehen. So erging es mir im September 2001 auch beim Anblick des sowieso sattsam berüchtigten „Kreisels“ in Steglitz. Mir schien ebenfalls, als würden dort jederzeit Flugzeuge hineinrasen können.


Mir erging es so nach den Anschlägen von Madrid 2004.
https://de.wikipedia.org/wiki/Madrider_Zuganschl%C3%A4ge

Das Gefühl, dieser Konflikt hätte Europa erreicht und der Krieg, den der Westen in islamischen Ländern führt, wird zu uns zurückgebracht.



Falls Du diesen Thread lieber unkommentiert haben möchtest, gib bitte Bescheid.
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Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
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Telliamed
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Anmeldungsdatum: 05.03.2007
Beiträge: 5125
Wohnort: Wanderer zwischen den Welten

Beitrag(#1836590) Verfasst am: 02.05.2013, 09:13    Titel: Re: Christa Wolf: Ein Tag im Jahr 2001-2011 Antworten mit Zitat

zelig hat folgendes geschrieben:
Telliamed hat folgendes geschrieben:
Sie begann die Häuser ihrer Stadt, Berlins, als Ziele für eine mögliche Zerstörung durch Terroristen anzusehen. So erging es mir im September 2001 auch beim Anblick des sowieso sattsam berüchtigten „Kreisels“ in Steglitz. Mir schien ebenfalls, als würden dort jederzeit Flugzeuge hineinrasen können.


Mir erging es so nach den Anschlägen von Madrid 2004.
https://de.wikipedia.org/wiki/Madrider_Zuganschl%C3%A4ge

Das Gefühl, dieser Konflikt hätte Europa erreicht und der Krieg, den der Westen in islamischen Ländern führt, wird zu uns zurückgebracht.



Falls Du diesen Thread lieber unkommentiert haben möchtest, gib bitte Bescheid.


Gern soll hier wie in den anderen Threads diskutiert werden. Wenn in meinen folgenden Berichten auch einige Einsichten und Erlebnisse mitgeteilt werden, kann der Thread meinetwegen an dieser Stelle bleiben. Nur werde ich in den beiden kommenden Wochen viel auf Reisen sein.

Ähnlich wie Du an den Anschlag von Madrid 2004 kann ich mich auch an den folgenden Anschlag von London am 7. Juli 2005 erinnern, der 56 Tote und mehr als 700 Verletzte forderte. An dem Tag wurde das Flugzeug, in dem ich saß, wegen Sperrung des Luftraumes über Großbritannien umgeleitet. Am Abend erfuhr ich, dass der Bus nur wenige Meter von dem Haus in Tavistock Square entfernt gesprengt wurde, wo ich gewöhnlich zu Gast war. Ich setzte mich mit meinen Gastgebern in Verbindung, die noch unter Schock standen.

Zu den zeitlich nahe liegenden Reaktionen auf solche Katastrophen. Man kann hier auch beobachten, wie unterschiedlich Leute reagieren, zumal in anonymen Internetforen.
Außer spontanem Entsetzen und Mitgefühl mit den Angehörigen der Opfer stellen sich immer wieder folgende Meinungen ein:

Es zeige sich doch, wie wirksam diese Form des asymmetrischen Terrors gegen Zivilisten ist, der die hochgerüsteten Staaten nichts entgegenzustellen haben, wenn weithin ungehindert Angst verbreitet wird. Wer Angehörige in wichtigen Gebäuden der Hauptstadt hat, macht sich seine Gedanken, wer mit der schon so maroden U-Bahn fährt, ebenfalls.
Manche, wie auch Christa Wolf, bringen die Anschläge in Verbindung mit den Kriegen, die die Armeen der USA im Irak, in Afghanistan und anderswo führten. In ihren Aufzeichnungen zum 27. September sind jedoch keine der Verschwörungstheorien enthalten, die mit einiger Regelmäßigkeit bald nach den Anschlägen auftauchen. Die Gedanken laufen unwirklich in die Richtung: schon zum zweiten Mal tauchen unmittelbar nach Sprengstoffanschlägen vergiftete Briefe auf.

Schließlich versuchen auch manche, mit dem Entsetzen dadurch fertig zu werden, dass sie die Dimensionen herunter spielen und sofort auf blutige Ereignisse anderswo zu verweisen suchen, denen keine solche Medienaufmerksamkeit zuteil werde. Ob es auch Zeitgenossen gibt, die wirklich kaum von solchen Meldungen berührt werden? Die in großen Städten mit anfälliger Infrastruktur leben?

Christa Wolf meint, (wieder) zwischen nur "falschen Alternativen mit dem Rücken an der Wand" (S. 31) zu stehen. Sie kennt auch die verbreitete Ansicht: Gewalt gegen Gewalt, "verstehen Terroristen eine andere Sprache?" (S. 31). Jeden Tag werde vor Augen geführt,

"daß wir in einer wahnsinnigen Welt leben, die mit großer Beschleunigung auf eine Selbstzerstörung zutreibt. Ich wundere mich wirklich, daß so wenige Menschen das bemerken und daß wir anderen, die es bemerken, uns daran gewöhnt haben." (S. 94)
Kassandra

In Kürze möchte ich allerdings auch noch auf einige andere Aspekte in dem Buch eingehen.
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Telliamed
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Beitrag(#1836832) Verfasst am: 03.05.2013, 14:04    Titel: Antworten mit Zitat

Christa Wolf war 2001 72 Jahre alt.

http://www.welt.de/kultur/literarischewelt/article114252616/Christa-Wolf-dokumentiert-ihr-Verloeschen.html
Das ist sicher eine eher freundliche Kritik, aber eben „von außen“. Der Rezensent erkennt zumindest an, dass ihre Sicht eine Daseinsberechtigung hat, die nachvollziehbar ist, wenn er auch in vielem nicht mit ihr übereinstimmen kann.
Walser und Grass kämen hingegen gestelzt und närrisch daher.


Die leidige oder normale DDR-Vergangenheit

Gerhard Wolf meint: „… in wieviel verschiedenen DDRen wir damals alle gelebt haben“ (S. 70).
Unter diesem Gesichtspunkt wird ihre Ablehnung des „Turms“ von Uwe Tellkamp verständlich, den sie als von der Presse „überschätzt“ ansieht.
Das war beileibe nicht ihre Lebenswirklichkeit.
(und meine war es auch nicht, weshalb ich das Buch bald wieder aus der Hand legte)

Die Frage nach der „mentalen Einheit der Deutschen“ sei „ungelöst“ (S. 85)

„Daß die ‚einfachen’ Leute heute mehr Angst vor der Arbeitslosigkeit haben, als sie früher vor der Stasi hatten“ (S. achtundneunzig),

gehe einem bestimmten Gesprächspartner („Westmenschen“) nicht in den Kopf.

Das dürfte für eine große Anzahl von Leuten zutreffen, die direkten Opfer der Stasi und andere ausgenommen. Aber die meisten sind entweder schon in Rente und sehen nur die angestrengten Bemühungen ihrer Kinder und Enkel um Arbeitsplätze. Oder sie haben von der Zeit vor 1989 schon nicht mehr viel mitbekommen und sehen Arbeitslosigkeit eher als etwas Normales an, was es für die Masse der ehemaligen DDR-Bürger nicht war.


Christa Wolf arbeitete 2001 bis 2010 an ihrem letzten größeren Buch „Stadt der Engel“.

http://freigeisterhaus.de/viewtopic.php?p=1503166#1503166

In alteingesessenen westdeutschen Presseorganen dominierten die einseitigen Reaktionen auf „Stadt der Engel“: entweder mit ihrer Hervorhebung der angesichts jahrzehntelanger Überwachung belanglosen, 1993 jedoch gegen Christa Wolf in Stellung gebrachten Stasi-Täter-Akte (Der Spiegel), die der „Delegitimierung der DDR“ (Klaus Kinkel) dienen sollte, oder ihrer Vorliebe für kulinarische Genüsse („Die Zeit“).

Christa Wolf machte sich mit der Rezension von Arno Widmann zu ihrem Buch von 2010 vertraut, der vermutlich bei ihr wiedergutmachen wolle.
der selbst einen Roman geschrieben habe, den Romancharakter von „Stadt der Engel“ jedoch absprach.


Altersbetrachtungen
„Ich sage mir mehrfach, mir geht es gut“ (S. 89)
Protestantische Selbstdisziplinierung

Ihre angeschlagene Gesundheit macht sich durch verschiedene Symptome bemerkbar: Vorhofflimmern (S. 57), Schmerzen im Knie und Arthrose (S. 83) legen das Abnehmen nahe (S. 107), was ihr schließlich auch gelang (S. 127). Schlimm muss der Verlust des Schamgefühls in der Klinik gewesen sein (S. 127). Eine Lungenentzündung trat als besondere Gefahr bettlägeriger Patienten hinzu (S. 139).


Sie gedenkt der Toten am Wege, die ihr vorausgingen: Heinrich Böll, Anna Seghers, Max Frisch, Lew Kopelew, Efim Etkind … Aicher, Inge Aicher-Scholl (Schwester von Sophie Scholl) (S. 52)
Der russische Emigrant Lew Kopelew (1912-1997) schrieb eine hervorragende Biographie Heinrich Heines und begründete das sogenannte Wuppertaler Projekt mit zwölf Bänden zur Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen; Efim Etkind (1919-1999) übersetzte deutsche Lyrik ins Russische und erlebte antisemitische Anfeindungen.


Bei Günter Gaus wird die Eitelkeit des Diplomaten stärker hervorgehoben als in „Stadt der Engel“, der dort als der „Freund“ erscheint, der Christa Wolf bei der Hetzjagd durch bestimmte Medien 1993 beistand.

„Ich lasse mir Zeit“, schrieb Christa Wolf 2006. Da blieben ihr noch fünf Jahre zu leben.

Bei der Nachricht vom Tod des André Gorz verstörte sie die Nachricht vom gemeinsam mit seiner Frau verübten Suizid. (S. 113).


Dass Christa Wolf „musikalische Hallizunationen“ (S. 138) hatte, kommt mir durchaus bekannt vor. Erschrocken jedoch war ich, dass ihr plötzlich das gleiche Kirchenlied durch den Kopf ging, wie es mir am 1. November 2006 erging, als ich mit diesem Lied umfiel und mir die Schulter brach: „So nimm denn meine Hände.“

http://www.liederdatenbank.de/song/362

Hier wird ausgesagt, dass das Lied oft bei Hochzeiten gespielt werde. Es braucht nicht Jesus, kann auch der Ehepartner gemeint sein. Meine Frau findet das Lied schrecklich, bei mir wurde es zeitweise zum „Ohrwurm“ und kündigte einen schlimmen Tag an.
Jemand hatte es sich bei einer weltlichen Trauerfeier gewünscht, von denen ich einige ausgerichtet habe, da wird es wohl auch bei mir im Gedächtnis geblieben sein.
Dabei hatte ich, im Unterschied zu Christa Wolf, nie an einer Christenlehre teilgenommen, den Text nirgendwo gelernt, Kirchenlieder hatten im Alltag keine Rolle gespielt.

Schließlich stellt sich immer wieder der Gedanke an den Tod ein.

„lasse mir übermäßig viel Zeit, ohne zu wissen, ob ich die wirklich noch habe“ (S. 95)

„… ob Gerd das alles durchhalten wird“ (S. 45), fragte sie sich.

Doch sie ging ihm im Tod voran.
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