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9. November
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Telliamed
registrierter User



Anmeldungsdatum: 05.03.2007
Beiträge: 5125
Wohnort: Wanderer zwischen den Welten

Beitrag(#1878926) Verfasst am: 04.11.2013, 13:32    Titel: Antworten mit Zitat

Telliamed hat folgendes geschrieben:
Heute ist nun dieser 4. November. Angekündigt war die Demonstration an diesem Tag des Jahres 1989 nur in einer kleinen Notiz.

Die Künstler des Berliner Ensemble wollten für die zwei Paragraphen der Verfassung demonstrieren, die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit garantierten.

Es war also vorwiegend Mundpropaganda, durch die wahrscheinlich 600.000 Menschen veranlasst wurden, in die Innenstadt zu ziehen. Am Morgen wurde noch gerätselt, ob diese Demonstration gewaltfrei ausfallen würde, schließlich hatte man noch die Knüppelorgien vom 7. und 8. Oktober in Erinnerung. Einen Kollegen hatte man in Handschellen abgeführt. Aber wenn die Künstler und Schauspieler (Steffi Spira, Katharina Thalbach erschienen dann) aufriefen, dann hatte man eine gewisse Rückendeckung und war sich sicher, dass jetzt auch viele Bekannte zum Alexanderplatz ziehen würden.
Ich nahm auch an, dass die Sowjetarmee nicht mehr eingreifen würde, wie 1956 und 1968. Die auf die Perestrojka orientierten Kräfte hatten bestimmt in Moskau signalisiert:Krenz herzlich unbeliebt ("Großmutter, was hast Du für große Zähne?"), die Regierung Stoph am Ende und die Machtübernahme durch Hans Modrow steht bevor. Sicher war freilich gar nichts, aber das sollte mich nicht mehr hindern, zum Alexanderplatz zu ziehen.

Ich wohnte etwa einen Kilometer vom Alexanderplatz entfernt. Als ich mich näherte, hörte ich ein Summen in der Luft, als wenn eine große Menschenmasse unterwegs wäre. Man hatte mit mehreren hundert Teilnehmern gerechnet, vielleicht einigen Tausend, aber dass es so viele werden würden ...

Die Regierung hatte befürchtet, dass sich die Demonstranten in Richtung Brandenburger Tor bewegen würden und dass es dort zu Ausschreitungen kommen könnte. Eine lächerliche Fehleinschätzung. Die hunderten Ordner mit grün-gelben Armbinden, auf denen geschrieben stand "Keine Gewalt", und die Volkspolizisten, von denen viele eine Nelke im Knopfloch hatten, brauchten überhaupt nicht in Erscheinung zu treten. Die überwiegende Mehrzahl der Demonstranten hatte nicht das Brandenburger Tor und die Mauer vor Augen, sondern sie zogen zum Alexanderplatz, weil sie Veränderungen im System wollten.
Ich kam in dem Moment, als Stefan Heym ausrief: "Es ist, als hätte einer das Fenster aufgestoßen und den ganzen Mief herausgelassen! Christa Wolf deklinierte das Wortfeld der "Wende" durch, wobei auch der "Wendehals" vorkam. Dann erlitt sie, wie sie später in ihren Erinnerungen festhielt, eine Herzattacke. Gregor Gysi: "Rechtssicherheit ist die beste Staatssicherheit!"


Für mich blieb der 4. November in den Erinnerungen der herausragende Tag. Weil man nicht daran erinnern will, dass sich eine solche Menge unter freiem Himmel versammelte, hat man in den folgenden Jahren in den Medien die Aufmerksamkeit auf den Mauerfall am 9. November konzentriert, den Anfang vom Ende der DDR.


Heute ist wieder dieser besondere Tag. Die inzwischen erschienenen Erinnerungen von Christa Wolf und Friedrich Schorlemmer ergänzen meine Eindrücke.

Ab heute werde ich wieder für einige Wochen keinen Fernseher mehr haben. Das ist nicht weiter schlimm, wenn im Vorfeld des 9. November die immer gleichen Filmkonserven aus der ersten Hälfte der 1990er Jahre gezeigt werden, die die Bilder lieferten für eine ganz bestimmte Geschichtsdeutung, die normierend wurde. Nun wächst nach 1989 schon wieder eine nächste Generation heran, die nur diese eine offizielle Version kennt ("Sonnenallee", "Das Leben der Anderen" oder "Der Turm" liefern Ausschnitte, manches hatte mit der selbst erlebten Wirklichkeit kaum etwas zu tun).

Niemand in meinem Umfeld will die DDR so wiederhaben, wie sie war, ich denke mit Grausen an etliche Szenen und fahre manchmal, von aus der Kindheit und Schulzeit herrührenden Albträumen heimgesucht, aus dem Schlaf. Die Bedrohungen, die man damals spürte, kamen aus einer anderen Richtung als die heutigen, die nicht weniger gravierend sein können.
Ich höre mir die Geschichten derer an, die damals, aus dem Westen kommend, beim Transit kontrolliert wurden, die sich immer ein wenig ähneln und beschließe jedes Mal, sie doch ernst zu nehmen, besonders wenn sie von eher Nahestehenden erzählt werden. Aber das Gefühl, wie es war, ständig über Jahrzehnte hinweg in einem anders aufgebauten System zu leben, können sie nicht kennen, für sie ist das Land, in dem sie aufgewachsen sind, die Bundesrepublik, Normalität, und die Lebensrealität in ihr konnte außerordentlich bunt und verschieden ausfallen.

Heute ist aber der Tag, an dem ich über verpasste Chancen nachdenke (manchem mag das freilich als müßig erscheinen), wie alles noch besonders vergeigt wurde durch eine Gruppe besonders vernagelter "Staatsmänner", die in einem abgeschlossenen System lebten, aber durch die hierarchische Struktur in Partei und Staat alle zaghaften Alternativen niederbügelte. Nach der Lektüre des neuen Buches der Enkelin von Christa Wolf, Jana Simon, die die Gespräche mit ihren Großeltern aufzeichnete, war ich etwas verwundert über zwei Dinge (das andere glaubte ich schon aus anderen Erinnerungsbänden zu kennen):

Markus Wolf äußerte um 1987 gegenüber dem Ehepaar Christa und Gerhard Wolf, dass er Hoffnungen nur in das etwas mehr als 100 Leute umfassende Korps der Kombinatsdirektoren setze, die wissen müssen, wie es in der Wirtschaft aussah. Ähnliches wurde schon um 1980 in Berlin in meinem Umfeld diskutiert, damals hörte ich im Hauptgebäude des Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) in Moskau einen Vortrag über die besondere Rolle dieser Kombinate, großer zentralisierter Wirtschaftsunternehmen. Aber das war doch jetzt Markus Wolf, der Chef des Auslandsgeheimdienstes bis 1986, und er meinte es ernst gegenüber den Freunden seines Bruders Konrad Wolf! Die Kombinatsdirektoren konnten keinerlei politischen Druck ausüben und den Dachdecker, den Maurer (nichts gegen diese ehrenwerten Berufe!) und den "Expedienten" an der Spitze nicht vom Ernst der Lage überzeugen. Blieb nur noch der relativ ehrliche, täppische Krenz, der voll ins Messer lief und jahrelang im Knast saß, weil er nicht gegen einen von anderen Jahre zuvor in Moskau und Berlin gefassten Beschluss protestierte, der beibehalten wurde, als er 1984 den Vorsitz im Sicherheitsapparat übernahm. Personalia spielen in der Geschichte doch eine Rolle dafür, in welchem Tempo und auf welche Weise etwas verlaufen kann, was ohnehin kommen musste.

Das andere war die doch eigene Sicht der heute etwa 40 Jahre alten Jana, die noch die letzten 16/17 Jahre der DDR am eigenen Leibe miterlebt hatte, darunter das Vorgehen der Staatsmacht gegen ihre Mutter Annette, die von ihren Eltern nicht davor bewahrt werden konnte, von der Schule zu fliegen und tagelang eingesperrt zu werden. Die Sicht dieser Generation ist doch wieder eine andere als in der von Annette (eher meine Generation, gleichaltrig etwa mit Angela Merkel), es beginnt sich wieder Widerstandsgeist gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu regen. Große Teile meiner Generation jedoch dürfte eine der resigniertesten und unpolitischsten sein, für die die Wende zu spät kam, für andere kam sie noch rechtzeitig.

Schließlich: man kann beobachten, wie der amtierende Bundespräsident, der in den Jahren 1992/93 nahezu uneingeschränkt entsprechend seinen vereinfachend polarisierenden Vorstellungen schalten, walten und anstelle der einstigen Machthaber Schicksal spielen konnte, von Biographen und Kommentaren zunehmend auf das reduziert wird, was er ist ...
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