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funkeimdunkeln
Bösmensch



Anmeldungsdatum: 12.05.2014
Beiträge: 878

Beitrag(#1935948) Verfasst am: 22.07.2014, 14:09    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo Tarvoc,

oha, diese Antwort hatte ich übersehen. Das wäre doch zu schade, weil sie wirklich interessant ist. Ich bin mir allerdings noch nicht sicher, ob ich sie richtig verstehe.

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Dies gebietet die erkenntnistheoretische Bescheidenheit.

Nein, tut sie nicht. "Erkenntnistheoretische Bescheidenheit" ist selbst überhaupt kein erkenntnistheoretisches, sondern ein rein moralisches Konzept.

Dass sich auch erkenntnistheoretische Modelle als falsch herausstellen können, ist schon richtig. Nur ergibt das überhaupt nur dann Sinn, wenn wir materielle Gelingensbedingungen für Modelle überhaupt zulassen. Wenn du mit dem Verweis darauf, dass auch diese Bedingungen bereits theoretisiert sind, den ganzen Prozess zurückweist, hast du damit gleichzeitig den Boden verlassen, auf dem du überhaupt erst Bescheidenheit gefordert hast.


Okay, den Teil verstehe ich ehrlich gesagt nicht. "Erkenntnistheoretische Bescheidenheit" ist gleichbedeutend mit der Aussage "im geschichtlichen Verstehen ist objektives Erkenntnis unmöglich." - inwiefern das eine moralische und keine erkenntnistheoretische Aussage ist, erschließt sich mir ehrlich gesagt nicht. Zum Glück formulierst du deine Überlegugen im Nachfolgenden etwas verständlicher, was ich als große Erleichterung empfinde.

Zitat:

Einfacher formuliert: Wenn Theorien nicht mehr wahr sein können, können meine Theorien eben auch nicht mehr falsch sein. Ich müsste sie dann auch nicht mehr der Kritik und der Diskussion aussetzen.


Doch, kann ich. Genauso wie ich Film-Kritik oder Buch-Kritik betreiben kann. Film- oder Buch-Kritik bezieht sich jedoch nie auf objektive Erkenntnis, sondern auf ästhetische Erfahrungen. Ein Kritiker in diesem Zusammenhang wird nie behaupten "der Film ist falsch" oder "der Film ist wahr", sondern "der Film ist langweilig" oder "der Film ist stark".

Zitat:
"Erkenntnistheoretische Bescheidenheit" im hier relevanten Sinne ist erstens als Forderung inkonsistent


"inkonsistent" - wieso? "weil ich den ganzen Prozess zurückweise"

Ich weise Teile des Prozesses zurück - denjenigen Teil, der sich auf die Konstruktion von Faktenwissen bezieht.

Natürlich kann ich Kritik an der Vorgehensweise in einer Disziplin üben. Wenn Mathematiker ihr Wissen nicht mit Hilfe von Logik, sondern mit Intuition erlangen würde, könnte man das auch kritisieren, ohne den gesamten Prozess "Mathematik" zurückzuweisen. Genauso kann ich den Anspruch an der Geschichtswissenschaft "Wahrheiten" erreichen zu wollen kritisieren.

Also, dass muss ich doch mal klarstellen. Ich will keinem verbieten sich mit Geschichte zu beschäftigen und dabei Spaß zu haben und subjektive "Wahrheiten" zu finden, wie er lustig ist. Ich behaupte bloß, dass diese Wahrheiten nicht verobjektivierbar sind. Dass das als "zurückweisen des ganzen Prozesses" bezeichnet wird, verstehe ich ehrlich gesagt nicht.

Mit besten Grüßen,
Mirko
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Marcellinus
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Anmeldungsdatum: 27.05.2009
Beiträge: 7429

Beitrag(#1935961) Verfasst am: 22.07.2014, 15:41    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:

Wenn Theorien nicht mehr wahr sein können, können meine Theorien eben auch nicht mehr falsch sein.

DAS halte ich für falsch! Man muß kein Anhänger von Herrn Popper sein, um festzustellen, daß man Theorien ab einer bestimmten Komplexität nicht mehr 100% und für alle Zeit verifizieren kann. Sie zu widerlegen, ist dagegen durchaus möglich, weil es dazu reicht, ihren zentralen Aspekt zu widerlegen.

Was man dagegen kann, und in der Praxis ja auch tut, ist festzustellen, ob eine neue Theorie BESSER ist als ihr Vorgänger, wobei dieses "besser" kein abstraktes, philosophisches Kriterium ist, sondern praktische, von den Maßstäben des jeweiligen Fachgebietes abhängige.

Theorien sind also niemals "wahr", höchstens für eine gewisse Zeit die bestverfügbaren, aber falsch können sie durchaus sein.
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"Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen ... Alles aber ist geworden;
es gibt keine ewigen Tatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten gibt."

Friedrich Nietzsche
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Tarvoc
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Anmeldungsdatum: 01.03.2004
Beiträge: 44647

Beitrag(#1936003) Verfasst am: 22.07.2014, 18:07    Titel: Antworten mit Zitat

@ Marcellinus: Mein Wahrheitsbegriff ist sehr viel pragmatischer als der, den du angreifst. Es geht um den Zusammenhang zwischen den Wahrheitsansprüchen und den Gelingensbedingungen einer Theorie. Ohne Wahrheit kann auch nicht von Falschheit die Rede sein, weil die Wahrheit einer Theorie gerade in den Gelingensbedingungen ihrer Wahrheitsansprüche besteht, die sie selbst für ihre Anwendung vorsieht, insofern wir die Erfüllung dieser Bedingungen nach wie vor als Bestätigung der Theorie auffassen. Eine Theorie, deren Gelingensbedingungen so weit suspendiert sind, dass sie sie nicht mehr erfüllen kann, kann auch nicht mehr an ihnen scheitern, weil zwischen Gelingen und Scheitern nicht mehr unterschieden werden kann. Eine Theorie, die grundsätzlich nicht bestätigt werden kann, kann auch nicht widerlegt werden. Daher kann man keinen Wahrheitsanspruch widerlegen, den man a priori suspendiert, indem man ihn z.B. nicht mal als Anspruch ernst nimmt. Eine noch nicht widerlegte Theorie nenne ich in genau dem Grad "wahr", in dem sich ihre Anwendung am Gegenstand bewährt. Ich übernehme nicht deinen Begriff "gut" bzw. "besser", weil ich glaube, dass diese Begrifflichkeit dazu verführt, erkenntnistheoretische Fragen mit moralischen und ästhetischen Fragen durcheinander zu bringen.

@ funkeimdunkeln: Ich antworte auf deinen Beitrag später noch. Dieser Beitrag sollte dir aber schon ein paar Hinweise geben.
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Marcellinus
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Anmeldungsdatum: 27.05.2009
Beiträge: 7429

Beitrag(#1936049) Verfasst am: 22.07.2014, 20:36    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
@ Marcellinus: Mein Wahrheitsbegriff ist sehr viel pragmatischer als der, den du angreifst. Es geht um den Zusammenhang zwischen den Wahrheitsansprüchen und den Gelingensbedingungen einer Theorie. Ohne Wahrheit kann auch nicht von Falschheit die Rede sein, weil die Wahrheit einer Theorie gerade in den Gelingensbedingungen ihrer Wahrheitsansprüche besteht, die sie selbst für ihre Anwendung vorsieht, insofern wir die Erfüllung dieser Bedingungen nach wie vor als Bestätigung der Theorie auffassen. Eine Theorie, deren Gelingensbedingungen so weit suspendiert sind, dass sie sie nicht mehr erfüllen kann, kann auch nicht mehr an ihnen scheitern, weil zwischen Gelingen und Scheitern nicht mehr unterschieden werden kann. Eine Theorie, die grundsätzlich nicht bestätigt werden kann, kann auch nicht widerlegt werden. Daher kann man keinen Wahrheitsanspruch widerlegen, den man a priori suspendiert, indem man ihn z.B. nicht mal als Anspruch ernst nimmt. Eine noch nicht widerlegte Theorie nenne ich in genau dem Grad "wahr", in dem sich ihre Anwendung am Gegenstand bewährt. Ich übernehme nicht deinen Begriff "gut" bzw. "besser", weil ich glaube, dass diese Begrifflichkeit dazu verführt, erkenntnistheoretische Fragen mit moralischen und ästhetischen Fragen durcheinander zu bringen.

Nun, von „gut“ habe ich nicht gesprochen, nur von „besser“ im Sinne von sachgerechter, realistischer, besser durch Tatsachenbeobachtungen belegt, usw. Mit Moral oder Ästhetik, im Sinne einer irgendwie gearteten Wunscherfüllung hat das nichts zu tun, nur damit, was in den jeweiligen Fachgebieten als wissenschaftlicher Fortschritt verstanden wird.

„Wahrheit“ ist angemessen in Bereichen wie Mathematik oder Logik, von Menschen geschaffenen Symbolsystemen, die so geschaffen wurden, daß in ihnen Sätze entweder „wahr“ oder „falsch“ sind. Wissenschaftliche Theorien bedienen sich zwar auch menschengemachter Symbole, aber um etwas zu beschreiben, was durchaus nicht aus solchen Symbolen besteht, nämlich das, was wir gemeinhin Wirklichkeit nennen. Bei deren Beschreibung scheint mir der Komparativ dem beobachtbaren Erkenntnisprozeß angemessener als statische Begriffe wie „wahr“ oder „falsch“, wobei letzteres durchaus gelegentlich vorkommt. Manche Theorien haben sich zu einem gewissen Zeitpunkt als definitiv falsch herausgestellt, endgültig „wahr“ aber sicherlich keine.

Aber wir müssen das nicht vertiefen. Philosophen verstehen zwar offenbar unter dem Begriff „Wahrheit“ ganz unterschiedliche Dinge, verzichten möchten sie auf ihn aber nicht (damit ist der Wahrheitsbegriff der Philosophen dem Gottesbegriff der Theologen nicht unähnlich), während kein Wissenschaftler bei der Beschreibung seiner Arbeit auf die Idee käme, sie als „Wahrheit“ zu klassifizieren.
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Tarvoc
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Anmeldungsdatum: 01.03.2004
Beiträge: 44647

Beitrag(#1936057) Verfasst am: 22.07.2014, 21:00    Titel: Antworten mit Zitat

Marcellinus hat folgendes geschrieben:
Nun, von „gut“ habe ich nicht gesprochen, nur von „besser“ im Sinne von sachgerechter, realistischer, besser durch Tatsachenbeobachtungen belegt, usw.

Ja. Was soll denn sonst "wahr(er)" heißen wenn nicht das. zwinkern

Marcellinus hat folgendes geschrieben:
Mit Moral oder Ästhetik, im Sinne einer irgendwie gearteten Wunscherfüllung hat das nichts zu tun [...]

Die Worte "besser" oder "schlechter" stammen ja nun nicht aus der Erkenntnistheorie. Dass ein Ausdruck bei der Verschiebung in einen anderen Bereich auch einen Bedeutungswandel durchmacht, ist schon richtig, aber damit werden die Bedeutungen, die der Ausdruck in anderen Bereichen hat, nicht einfach gelöscht, sondern sie schwingen weiter mit. funkeimdunkeln hat ja sogar explizit versucht, erkenntnistheoretische Fragen mit ästhetischen Kategorien zu bearbeiten, und m.E. hängt das auch mit solchen nicht hinreichend reflektierten Begriffsübertragungen von einem Bereich in den anderen zusammen. Ich will zeigen, dass es ungewollte Konsequenzen haben kann, Begriffe unzureichend reflektiert aus einem Bereich in einen anderen zu übertragen, weil man mit den Begriffen, die man dort bereits hat, Probleme hat - anstatt an und mit diesen so lange zu arbeiten, bis die Probleme verschwinden. Z.B. die Konsequenz der Vermischung epistemischer Kategorien mit moralischen und ästhetischen Kategorien, aber auch die der Verführung zu unzureichend begründeten Varianten von Skeptizismus.

Marcellinus hat folgendes geschrieben:
„Wahrheit“ ist angemessen in Bereichen wie Mathematik oder Logik, von Menschen geschaffenen Symbolsystemen, die so geschaffen wurden, daß in ihnen Sätze entweder „wahr“ oder „falsch“ sind.

Nein. Die Beschränkung des Wahrheitsbegriffs auf die Logik ist keine zwingende Folgerung aus dem Begriff selbst, genauso willkürlich wie die Ausdehnung des Begriffs des Guten (oder Besseren) über die Moral hinaus auf die Erkenntnistheorie. Meine Ausführungen zeigen ja gerade, dass man Wahrheit auch anders verstehen kann, nämlich als Effekt von Wahrheitsansprüchen von Theorien, die an Gelingensbedingungen gekoppelt sind.

Marcellinus hat folgendes geschrieben:
Bei deren Beschreibung scheint mir der Komparativ dem beobachtbaren Erkenntnisprozeß angemessener als statische Begriffe wie „wahr“ oder „falsch“, wobei letzteres durchaus gelegentlich vorkommt.

Kann ja sein. Ich bin ja auch wirklich niemand, der einen Komparativ in diesem Bereich zurückweisen würde.

Marcellinus hat folgendes geschrieben:
Philosophen verstehen zwar offenbar unter dem Begriff „Wahrheit“ ganz unterschiedliche Dinge, verzichten möchten sie auf ihn aber nicht [...]

Wie kommst du denn jetzt wieder zu der Generalisierung? Ich kenne genug Philosophen, die nur allzu gerne alle Wahrheitsbegriffe loswären, und genug Naturwissenschaftler, die nach wie vor mit Wahrheitsbegriffen arbeiten.

Tatsächlich sind es größtenteils Philosophen, die für die Verdrängung des Wahrheitsbegriffs verantwortlich sind. Naturwissenschaftler gehen - gerade auf der metatheoretischen Ebene, um die es hier geht - mit Begriffen pragmatisch um, ihnen sind solche begrifflichen Skrupel weitestgehend fremd. Wenn es in einem Augenblick üblich ist, für die Ansprüche von Theorien den Wahrheitsbegriff zu verwenden, nennen sie ihre bestätigten Theorien eben "wahr", wenn etwas anderes üblich wird, sind sie nur noch "gut" oder "besser", etc., ohne dass sich aus ihrer Sicht viel an ihrer Praxis ändern würde. Probleme tauchen erst dann auf, wenn sich verschiedene Bereiche von Begriffen zu überschneiden beginnen bzw. die Überschneidungen offensichtlich werden. Diese Probleme sind dann aber üblicherweise philosophische und nicht direkt naturwissenschaftliche Probleme. Tatsächlich argumentierst auch du nicht mit naturwissenschaftlichen, sondern mit philosophischen Argumenten gegen meinen Wahrheitsbegriff (jedenfalls da, wo du argumentierst und nicht Ähnlichkeiten zu Theologen herbeifantasierst, ohne sie zu belegen). Dein einziges nicht philosophisches, (pseudo-)empirisches Argument ist, dass kein Naturwissenschaftler mit dem Wahrheitsbegriff operiert, und das ist erstens ohne weitere Informationen kaum hilfreich (die interessante Frage wäre ja gerade, warum sie das nicht tun) und zweitens in dieser Allgemeinheit klar falsch.

Marcellinus hat folgendes geschrieben:
damit ist der Wahrheitsbegriff der Philosophen dem Gottesbegriff der Theologen nicht unähnlich

Die Freigeisterhaus-Variante des "ad-Hitlerum-Fehlschlusses": "Ein Theologe macht irgendwie etwas entfernt ähnliches, also muss es falsch sein." Tatsächlich ist diese Variante oft sogar noch dümmer als der "klassische" "ad-Hitlerum", weil dieser (jedenfalls meistens) immerhin noch die Gleichheit der jeweiligen Vorstellungen oder Handlungsweisen voraussetzt, während die Freigeisterhaus-Variante nur vage, nicht näher spezifizierte Ähnlichkeiten herbeifantasiert.

Dass mein Wahrheitsbegriff inhaltlich dem Gottesbegriff der Theologen ähnelt, hättest du erst am Begriff selbst zu zeigen. Und selbst damit wäre noch nicht zwingend gezeigt, dass der Begriff zu verwerfen ist.

Marcellinus hat folgendes geschrieben:
während kein Wissenschaftler bei der Beschreibung seiner Arbeit auf die Idee käme, sie als „Wahrheit“ zu klassifizieren.

Naturwissenschaftler neigen, wenn sie einen Wahrheitsbegriff verwenden, in der Regel (und nicht ganz ohne Grund) zum Adjektiv statt zum Substantiv. Aber schon wenn ein Naturwissenschaftler sowas sagt wie "ich habe recht (weil...)" (und es kommt sehr wohl oft genug vor, dass Naturwissenschaftler so sprechen), hat er damit einen Wahrheitsanspruch artikuliert. Meine Ausführungen stellen eine Theorie dazu dar, was er dabei eigentlich gemacht hat bzw. was er damit über seine Theorie ausgesagt hat. Naturwissenschaftliche Theorien artikulieren also durchaus Wahrheitsansprüche - manchmal unter diesem Namen, manchmal unter anderen Namen. Was darunter zu verstehen ist, habe ich bereits oben gesagt. Es handelt sich eben um einen Effekt der Koppelung eines bestimmten Anspruchs der Theorie an ihre Gelingensbedingungen, und diese Koppelung selbst ist für die Theorie konstitutiv - jedenfalls insofern es eine Theorie ist, die sich bewähren können soll, und nicht eine komplizierte Art der Poesie oder sowas.
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Tarvoc
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Anmeldungsdatum: 01.03.2004
Beiträge: 44647

Beitrag(#1936069) Verfasst am: 22.07.2014, 22:02    Titel: Antworten mit Zitat

@ funkeimdunkeln: Ich werde nochmal etwas detaillierter auf eine Passage von dir eingehen, weil ich denke, dass ich damit auch deine anderen Einwände behandeln kann.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Als Beispiel für einen anderen Roman sei die Bibel genannt.Prinzipiell könnte ich mir das "Verständnis der gesellschaftlichen und politischen Dimension" eines Christen bei der Bibel-Lektüre folgendermaßen vorstellen (Ich entschuldige mich im Voraus für die Widergabe einer Bibelstelle, sie dient lediglich der Veranschaulichung meines Standpunktes):
"Aha, in der Bibel steht: Jesus sagte zu ihm: Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater außer durch mich. (Joh. 14,6) - das erklärt vieles! Die Politiker glauben nicht an Jesus und machen deswegen alles falsch. Und übrigens: Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen. (Matth. 5,28 ) Bei den ganzen nackten Frauen in den Medien bedeutet das ja - den ultimativen Sittenverfall! Hurra, ich habe endlich die Probleme der heutigen Zeit verstanden."


Das ist in mehrerer Hinsicht gerade kein Beispiel für das, was du verdeutlichen willst. Erstens ist es doch recht klar, dass ein Christ, der so verfährt, die Bibel eben nicht als Roman behandelt. Zweitens kann man sich natürlich von Romanen zu Schlussfolgerungen über gesellschaftliche oder geschichtliche Prozesse inspirieren lassen, aber das, was dann anhand von Gelingensbedingungen einer Überprüfung unterzogen wird, sind eben die gezogenen Schlussfolgerungen, also die Theorie, und nicht der Roman.

Ich weiss ehrlich nicht, wie man auf die Idee kommen kann, geschichtswissenschaftliche, gesellschaftswissenschaftliche oder politikwissenschaftliche Theorien ließen sich nicht überprüfen. Wenn ich eine politikwissenschaftliche Arbeit schreibe, dann liefere ich in der Tat etwas ab, das Gelingensbedingungen artikuliert, an denen es scheitern oder sich bewähren kann, und das den Anspruch stellt, sich zu bewähren. Eine politikwissenschaftliche oder auch geschichtswissenschaftliche Arbeit ist kein Kunstwerk, und wer das nicht versteht und das Lernen der Standards dieser Wissenschaften mit dem Argument verweigert, dass es in diesen Wissenschaften gar keine Standards geben könne, der kommt völlig zu Recht nicht mal durch das erste Semester. Ein Lehrbuch für Geschichtswissenschaft ist kein historischer Roman. Schon dem Anspruch nach nicht. Was spricht denn theoretisch dagegen, dass Geschichtswissenschaften Kriterien formulieren, nach denen sie verfahren, und nach diesen Kriterien ihren Anspruch an sich selbst artikulieren? Boshafter gefragt: Aufgrund welches Wahrheitsanspruchs forderst du, die Geschichtswissenschaft solle nicht die den ihren eigenen Kriterien entsprechenden (bzw. sogar gar keine) Wahrheitsansprüche stellen? Welche Anmaßung verbirgt sich hinter der Forderung nach Bescheidenheit?
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Kival
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Anmeldungsdatum: 14.11.2006
Beiträge: 24071

Beitrag(#1936185) Verfasst am: 23.07.2014, 10:59    Titel: Antworten mit Zitat

Marcellinus hat folgendes geschrieben:
während kein Wissenschaftler bei der Beschreibung seiner Arbeit auf die Idee käme, sie als „Wahrheit“ zu klassifizieren.


Du musst in einer anderen Welt leben als ich.
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funkeimdunkeln
Bösmensch



Anmeldungsdatum: 12.05.2014
Beiträge: 878

Beitrag(#1936461) Verfasst am: 24.07.2014, 12:52    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo Tarvoc,

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
@ Marcellinus: Mein Wahrheitsbegriff ist sehr viel pragmatischer als der, den du angreifst. Es geht um den Zusammenhang zwischen den Wahrheitsansprüchen und den Gelingensbedingungen einer Theorie.


Was sind denn Gelingensbedingungen?

Zitat:
Eine noch nicht widerlegte Theorie nenne ich in genau dem Grad "wahr", in dem sich ihre Anwendung am Gegenstand bewährt.


Wie messen wir das sich bewähren am Gegenstand?

Tarvoc hat folgendes geschrieben:

Ich weiss ehrlich nicht, wie man auf die Idee kommen kann, geschichtswissenschaftliche, gesellschaftswissenschaftliche oder politikwissenschaftliche Theorien ließen sich nicht überprüfen. Wenn ich eine politikwissenschaftliche Arbeit schreibe, dann liefere ich in der Tat etwas ab, das Gelingensbedingungen artikuliert, an denen es scheitern oder sich bewähren kann, und das den Anspruch stellt, sich zu bewähren. Eine politikwissenschaftliche oder auch geschichtswissenschaftliche Arbeit ist kein Kunstwerk, und wer das nicht versteht und das Lernen der Standards dieser Wissenschaften mit dem Argument verweigert, dass es in diesen Wissenschaften gar keine Standards geben könne, der kommt völlig zu Recht nicht mal durch das erste Semester.


Und warum sind diese Standards objektiv? Ich würde das Formulierungen von Beurteilungsmaßstäben eher mit unserem Streben in Zusammenhang bringen die Wirklichkeit zu strukturieren. Die Geistes-Wissenschaften ermöglichen uns einen systematischen Zugang zur Wirklichkeit. Nicht mehr und nicht weniger. Das Erlernen einer Geisteswissenschaften ist eher mit dem Erlernen einer Fremdsprache zu vergleichen als mit dem Erlernen einer Wahrheitstheorie. Wenn ich eine Fremdsprache erlerne, dann lerne ich neue sprachliche Gebilde kennen, die mir ein neues Verstehen der Ereignisse ermöglichen. Mal ganz davon abgesehen, dass ich neue kulturelle Verhaltensweisen und neue Mentalitäten kennenlerne. Und das ist doch ein erheblicher Gewinn.

Natürlich kann ich innerhalb eines grammatikalischen Kontext von "Wahrheit" und "Falschheit" sprechen. Ich kann zum Beispiel einen Meister Yoda Satz "Die Macht mit dir sein möge." als "grammatikalisch falsch" beurteilen, während ich den Satz "Möge die Macht mit dir sein" als "grammatikalisch richtig beurteilen kann. Allerdings stellen diese Gebilde nicht in einem übergeordneten Sinn spirituelle Wahrheiten dar. Ob es Sinn macht jemanden diesen Segenspruch mitzuteilen, das muss jeder für sich selber entscheiden. In diesem Sinne ist natürlich formale Messbarkeit der politikwissenschaftlichen Arbeiten eines Studenten möglich. Nicht mehr.

Zitat:
Was spricht denn theoretisch dagegen, dass Geschichtswissenschaften Kriterien formulieren, nach denen sie verfahren, und nach diesen Kriterien ihren Anspruch an sich selbst artikulieren?
Boshafter gefragt: Aufgrund welches Wahrheitsanspruchs forderst du, die Geschichtswissenschaft solle nicht die den ihren eigenen Kriterien entsprechenden (bzw. sogar gar keine) Wahrheitsansprüche stellen? Welche Anmaßung verbirgt sich hinter der Forderung nach Bescheidenheit?


Dagegen, dass Geschichtswissenschaften Kriterien formulieren, spricht überhaupt nichts. Das können die tun, wie die lustig sind. Dabei kommt allerdings nur eine "formale Richtigkeit" heraus.

Der Wahrheitsanspruch, den ich kritisiere, ist nicht der einer "formalen Richtigkeit", sondern der einer "allgemeinen Gültigkeit". Ein bestimmtes Springer-Manöver, welches in einem Schachspiel zum Matt des Königs führt, besitzt zeitlose Gültigkeit. Wenn unsere Nachkommen in vierhundert Jahren sich die gleiche Ausgangskonstellation ansehen und die gleichen Regeln befolgen, werden sie in der gleichen Matt-Konstellation enden. Dass wir sterben müssen, ist ebenfalls für alle Menschen wahr. Und dies wird solange wahr bleiben, bis eine neue Super-Technologie entwickelt wird, die das Sterben verhindert. Oder eine andere "Wahrheit" ist der Fakt, dass wir sexuelle Wesen sind. Das ist eine Wahrheit, die selbst dann ihre Gültigkeit nicht verliert, wenn einzelne Individuen aufgrund eines genetischen Defektes asexuelle Wesen sein sollten.

In diesem Sinne gibt es in der Geschichte keine "Wahrheiten". Man könnte Geschichte sogar definieren als diejenige Disziplin, die sich mit dem beschäftigt, was keine "Wahrheit" ist.

Mit besten Grüßen,
Mirko
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cem
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Beiträge: 171

Beitrag(#1937471) Verfasst am: 29.07.2014, 11:10    Titel: Antworten mit Zitat

Marcellinus hat folgendes geschrieben:
..., während kein Wissenschaftler bei der Beschreibung seiner Arbeit auf die Idee käme, sie als „Wahrheit“ zu klassifizieren.

Genauer: er DARF sie nicht als Wahrheit klassifizieren, da ihm die Richtlinien zur sauberen wissenschaftlichen Arbeit (die ja meistens irgendwie auf der Popperschen Wissenschaftstheorie aufsetzen) an seinem Institut das verbieten. Wieviel das mit seiner inneren Einstellung zu tun hat, ist eine ganz andere Frage.
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funkeimdunkeln
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Beiträge: 878

Beitrag(#1937671) Verfasst am: 29.07.2014, 21:17    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo,

cem hat folgendes geschrieben:
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
..., während kein Wissenschaftler bei der Beschreibung seiner Arbeit auf die Idee käme, sie als „Wahrheit“ zu klassifizieren.

Genauer: er DARF sie nicht als Wahrheit klassifizieren, da ihm die Richtlinien zur sauberen wissenschaftlichen Arbeit (die ja meistens irgendwie auf der Popperschen Wissenschaftstheorie aufsetzen) an seinem Institut das verbieten. Wieviel das mit seiner inneren Einstellung zu tun hat, ist eine ganz andere Frage.


ich kam mal in das Privileg mit einem Professor eine wissenschaftliche Arbeit zu veröffentlichen. Über eine Bemerkung des Reviewer zu einer Formel meinte er, er könne diese Bemerkung nicht verstehen. Denn die Formel sei nun mal richtig.

Mit besten Grüßen,
Mirko
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Tarvoc
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Anmeldungsdatum: 01.03.2004
Beiträge: 44647

Beitrag(#1937679) Verfasst am: 29.07.2014, 22:11    Titel: Antworten mit Zitat

cem hat folgendes geschrieben:
Genauer: er DARF sie nicht als Wahrheit klassifizieren, da ihm die Richtlinien zur sauberen wissenschaftlichen Arbeit (die ja meistens irgendwie auf der Popperschen Wissenschaftstheorie aufsetzen) an seinem Institut das verbieten.

Wenn ein Naturwissenschaftler seine Theorie in der Arbeit, in der er sie entwickelt, nicht als wahr bezeichnet, dann u.A. deshalb, weil er meist gar nicht in der Arbeit selbst auf diese Weise Metatheorie betreibt, sondern sich sozusagen ganz dem Gegenstand widmet. Ob er seine Theorie metatheoretisch für wahr oder "nur" für gut begründet und bestätigt hält (wobei mir noch immer niemand sagen konnte, was da eigentlich der praktische Unterschied sein soll), zeigt sich, sobald er über seine Theorie spricht, also z.B. in mündlichen Vorträgen, Diskussionen und dergleichen.
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Beiträge: 44647

Beitrag(#1937687) Verfasst am: 29.07.2014, 22:23    Titel: Antworten mit Zitat

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Wie messen wir das sich bewähren am Gegenstand?

Vielleicht informierst du dich einfach mal über die Methoden empirischer Überprüfung z.B. in der Soziologie oder in der Politikwissenschaft.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Ich würde das Formulierungen von Beurteilungsmaßstäben eher mit unserem Streben in Zusammenhang bringen die Wirklichkeit zu strukturieren.

Kann ja sein. Na und? Inwiefern ist eine Motivationstheorie überhaupt interessant für die hier zu diskutierenden erkenntnistheoretischen Fragen?

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Natürlich kann ich innerhalb eines grammatikalischen Kontext von "Wahrheit" und "Falschheit" sprechen. Ich kann zum Beispiel einen Meister Yoda Satz "Die Macht mit dir sein möge." als "grammatikalisch falsch" beurteilen, während ich den Satz "Möge die Macht mit dir sein" als "grammatikalisch richtig beurteilen kann. Allerdings stellen diese Gebilde nicht in einem übergeordneten Sinn spirituelle Wahrheiten dar. Ob es Sinn macht jemanden diesen Segenspruch mitzuteilen, das muss jeder für sich selber entscheiden. In diesem Sinne ist natürlich formale Messbarkeit der politikwissenschaftlichen Arbeiten eines Studenten möglich. Nicht mehr.

Die Gesellschaftswissenschaften verfahren aber nicht in dieser Weise normativ. Spielregeln, die a priori vorausgesetzt werden, gibt es genausowenig wie in den Naturwissenschaften. Daran scheitert auch dein Schachvergleich.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Dagegen, dass Geschichtswissenschaften Kriterien formulieren, spricht überhaupt nichts. Das können die tun, wie die lustig sind. Dabei kommt allerdings nur eine "formale Richtigkeit" heraus.

Hä? - Wie es zu verstehen ist, wenn ich von Wahrheit spreche, habe ich hier schon gesagt.
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Anmeldungsdatum: 12.05.2014
Beiträge: 878

Beitrag(#1937704) Verfasst am: 29.07.2014, 23:13    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo Tarvoc,

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Wie messen wir das sich bewähren am Gegenstand?

Vielleicht informierst du dich einfach mal über die Methoden empirischer Überprüfung z.B. in der Soziologie oder in der Politikwissenschaft.


Ich sehe, dass deine Antwort aus zwei Bestandteilen besteht: Einerseits aus einem Verweis auf empirische Fundierung und andererseits aus einem - wie soll ich das nennen - Handlungsvorschlag.

Zum ersten Bestandteil deiner Antwort: Wenn du mit "sich bewähren am Gegenstand" Empirische Fundierung meinst, dann schlage ich vor, dass du das auch einfach so sagst! zwinkern Man kann auch "Belegen mit Dokumenten" dazu sagen, man kann auch "archivbasiertes Vorgehen" dazu sagen, man kann auch "Begründung mit Quellen" dazu sagen, usw. Es gibt tausende von Möglichkeiten das zu umschreiben.

Ich halte es für sehr wichtig bei begrifflichen Fragestellungen gerade solche ganz primitiven und simplen Erklärungen hinzuzufügen. Diese Reduktion auf das Banale und Triviale ist eine Sache, die Intellektuelle meines Erachtens immer wieder unterschätzen. Dabei funktioniert Philosophie genauso wie in der Mathematik: Man führt das nicht-Offensichtliche auf Offensichtlichkeiten zurück. Auch wenn man dabei mitunter eine Menge Begriffsgefusel treiben muss.

So, zum zweiten Bestandteil deiner Antwort: Ich glaube, da es klar ist, dass du mit deinem "sich bewähren am Gegenstand" evidenzbasiertes Vorgehen meinst, ist mir völlig unklar, wieso ich mich mit den Standards für Politikwissenschaft beschäftigen muss. Wenn du der Meinung bist, dass ich die Verwendung deiner Begrifflichkeiten nicht präzise genug erfasst habe, freue ich mich über deine Rückmeldung. Und weil wir das auf so allgemeinem Niveau behandeln, brauchen wir dazu keinen Rekurs auf Formalitäten der Studienordnung. Das philosophische Gespräch erachte ich als Methode völlig ausreichend, um diese Begrifflichen Fragen zu untersuchen.

Zitat:
funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Natürlich kann ich innerhalb eines grammatikalischen Kontext von "Wahrheit" und "Falschheit" sprechen. Ich kann zum Beispiel einen Meister Yoda Satz "Die Macht mit dir sein möge." als "grammatikalisch falsch" beurteilen, während ich den Satz "Möge die Macht mit dir sein" als "grammatikalisch richtig beurteilen kann. Allerdings stellen diese Gebilde nicht in einem übergeordneten Sinn spirituelle Wahrheiten dar. Ob es Sinn macht jemanden diesen Segenspruch mitzuteilen, das muss jeder für sich selber entscheiden. In diesem Sinne ist natürlich formale Messbarkeit der politikwissenschaftlichen Arbeiten eines Studenten möglich. Nicht mehr.

Die Gesellschaftswissenschaften verfahren aber nicht in dieser Weise normativ.


Wie verfahren sie dann? Empirische Begründung. Die Auswertung empirischer Quellen beruht jedoch immer auf Interpretation.

Angenommen, du findest in einem Original-Dokument den Ausspruch "Es lebe der Kaiser". Woher willst du dann wissen, dass es sich hierbei um einen Segensspruch erfolgt, welches aus einem führerzentrierten Weltbild in einem Akt devoter Hingabe erfolgt oder um die Konstatierung von physiologisches Verhaltensweisen wie Pulsieren oder Zucken, welche man gewöhnlich lebenden Wesen zuschreibt, im Zusammenhang mit dem Kaiser.

Das ist Interpretation. Wie man es dreht und wendet. Man kann natürlich noch die Verwendung des Wortes "leben" in tausend anderen Original-Dokumentan nachschlagen, es bleibt immer noch Interpretation. Schließlich könnte ja in allen 1000 anderen Dokumenten das Wort "leben" im rein physiologischen Sinne eines Pulsierens oder Zucken gemeint sein.

Interpretation und subjektive Bewertung ist der Kern- und Angelstück im Umgang mit geschichtlichen Fakten. Das ist der Punkt, wo es erst richtig anfängt Spaß zu machen, und geil zu werden. Sonst ist Geschichte langweilig.

Und zu den Interpretationen uns subjektiven Bewertungen gehören Einfühlungsvermögen und Nachvollziehen von Motiven und Sehnsüchten dazu. Also kommt man unweigerlich zu einer Motivationstheorie. Und wenn ich erst einmal soweit bin, dann finde ich es sehr erstaunlich, wie Menschen früher ihre Sehnsüchte und Wünsche auf den Kaiser konzentrieren konnten und empfinde eine große Erleichterung darüber ein freier Mensch zu sein, der sich seine eigenen Ziele setzen kann und unabhängig von äußeren Autoritäten bin.

Mit besten Grüßen,
Mirko
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Beitrag(#1937707) Verfasst am: 29.07.2014, 23:26    Titel: Antworten mit Zitat

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Und zu den Interpretationen uns subjektiven Bewertungen gehören Einfühlungsvermögen und Nachvollziehen von Motiven und Sehnsüchten dazu. Also kommt man unweigerlich zu einer Motivationstheorie.

Wie bitte? Du sprachst von den Motivationen des Theoretikers. Und es ging hier um die erkenntnistheoretische Frage nach den Kriterien der Überprüfung. Dass die Motivation des Theoretikers für diese Frage überhaupt interessant ist, hättest du erst zu zeigen.

(Zum Thema des "Einfühlens" in geschichtliche Epochen oder Personen empfehle ich übrigens einen Blick in Walter Benjamins Thesen zum Begriff der Geschichte. Da wird das schön demontiert. Aber darum ging es wie gesagt nicht.)

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Wie verfahren sie dann? Empirische Begründung. Die Auswertung empirischer Quellen beruht jedoch immer auf Interpretation. Angenommen, du findest in einem Original-Dokument den Ausspruch "Es lebe der Kaiser". Woher willst du dann wissen, dass es sich hierbei um einen Segensspruch erfolgt, welches aus einem führerzentrierten Weltbild in einem Akt devoter Hingabe erfolgt oder um die Konstatierung von physiologisches Verhaltensweisen wie Pulsieren oder Zucken, welche man gewöhnlich lebenden Wesen zuschreibt, im Zusammenhang mit dem Kaiser. Das ist Interpretation. Wie man es dreht und wendet. Man kann natürlich noch die Verwendung des Wortes "leben" in tausend anderen Original-Dokumentan nachschlagen, es bleibt immer noch Interpretation. Schließlich könnte ja in allen 1000 anderen Dokumenten das Wort "leben" im rein physiologischen Sinne eines Pulsierens oder Zucken gemeint sein.

Wenn du mit "Interpretation" die Banalität meinst, dass wissenschaftliches Arbeiten Denkleistungen erfordert, dann weiss ich ehrlich nicht, was das beweisen soll.
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Beitrag(#1937960) Verfasst am: 30.07.2014, 21:50    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo Torvac,

danke für deine Empfehlung.

Zitat:
Wie bitte? Du sprachst von den Motivationen des Theoretikers. Und es ging hier um die erkenntnistheoretische Frage nach den Kriterien der Überprüfung. Dass die Motivation des Theoretikers für diese Frage überhaupt interessant ist, hättest du erst zu zeigen.


Ich zitiere mal einen Ausschnitt aus dem Werk von Walter Benjamin, vielleicht können wir uns damit mal auseinandersetzen.

Walter Benjamin hat folgendes geschrieben:
Die Natur dieser Traurigkeit wird deutlicher, wenn man die Frage aufwirft, in wen sich der Geschichtsschreiber des Historismus eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemals zugut.


Später heißt es:

Walter Benjamin hat folgendes geschrieben:
Denn was er an Kulturgütern überblickt, das ist ihm samt und sonders von einer Abkunft, die er nicht ohne Grauen bedenken kann.


Und davor heißt es:

Zitat:
Dem historischen Materialismus geht es darum ein Bild der Vergangenheit festzuhalten, wie es sich im Augenblick der Gefahr dem historischen Subjekt unversehens einstellt.


Die Frage ist nun, woher dieses Grauen und diese Traurigkeit, die Beschreibung eines "Augenblicks der Gefahr" oder eines Bildes, das sich "unversehens" einstellt, denn kommt? Sie kommt doch daher, dass der Autor hier ein starkes Mitgefühl mit den Opfern beschreibt, welche von der Geschichtsschreibung verdrängt werden. Der Autor beschreibt, wie aus einem von ihm postulierten Klassenkampf eine dramatische Geschichtsverfälschung folgt, und der historische Materialismus wird von ihm als Möglichkeit beschrieben diese Geschichtsverfälschung aufzuheben.

Also, ich habe von Klassenkampf und historischem Materialismus wirklich nicht viel Ahnung, aber mir scheint es, als ob es nur dann Sinn macht, sich damit zu beschäftigen, wenn es einem um Mitgefühl mit deren Opfern geht. Das Mitgefühl ist doch der entscheidende Antrieb für den historischen Materialismus, der hier beschrieben wird. Überhaupt macht es nur dann Sinn, das ununterbrochene Siegen der Sieger unterbrechen zu wollen, wenn man Mitgefühl mit den Leidtragenden hat. Ohne Mitgefühl könnte einem nämlich dieser ständige Kreislauf ziemlich egal oder lediglich als intellektuelle Spielerei interessant erscheinen.

Mit besten Grüßen,
Mirko
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Beitrag(#1937963) Verfasst am: 30.07.2014, 21:54    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo,

Tarvoc hat folgendes geschrieben:

Wenn du mit "Interpretation" die Banalität meinst, dass wissenschaftliches Arbeiten Denkleistungen erfordert, dann weiss ich ehrlich nicht, was das beweisen soll.


Dass Denkleistungen in politikwissenschaftlichen Arbeiten immer subjektiv sind.

Mirko
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Beitrag(#1938008) Verfasst am: 30.07.2014, 23:31    Titel: Antworten mit Zitat

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Also, ich habe von Klassenkampf und historischem Materialismus wirklich nicht viel Ahnung, aber mir scheint es, als ob es nur dann Sinn macht, sich damit zu beschäftigen, wenn es einem um Mitgefühl mit deren Opfern geht. Das Mitgefühl ist doch der entscheidende Antrieb für den historischen Materialismus, der hier beschrieben wird.

Nein, "Mitgefühl" ist charakteristisch für das Paradigma, das Benjamin Historismus nennt. Dem historischen Materialisten geht es nicht um Mitgefühl mit vergangenem Leid, sondern um das Wiedererkennen des eigenen Leids in der Geschichte.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Dass Denkleistungen in politikwissenschaftlichen Arbeiten immer subjektiv sind.

Und ich weiss nicht, was das heißen soll.
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Beitrag(#1938013) Verfasst am: 30.07.2014, 23:43    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Also, ich habe von Klassenkampf und historischem Materialismus wirklich nicht viel Ahnung, aber mir scheint es, als ob es nur dann Sinn macht, sich damit zu beschäftigen, wenn es einem um Mitgefühl mit deren Opfern geht. Das Mitgefühl ist doch der entscheidende Antrieb für den historischen Materialismus, der hier beschrieben wird.

Nein, "Mitgefühl" ist charakteristisch für das Paradigma, das Benjamin Historismus nennt. Dem historischen Materialisten geht es nicht um Mitgefühl mit vergangenem Leid, sondern um das Wiedererkennen des eigenen Leids in der Geschichte.


Zitat:
Und ich weiss nicht, was das heißen soll.

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Beitrag(#1938020) Verfasst am: 30.07.2014, 23:53    Titel: Antworten mit Zitat

Naja, das ist auch eigentlich etwas Off-Topic. Benjamins Punkt ist, dass objektive Geschichtsschreibung möglich ist, gerade weil die Geschichte, die der Geschichtsschreiber schreibt, die Geschichte der Gegenwart ist.

Der Geschichtsschreiber, den Benjamin den "historischen Materialisten" nennt, schreibt Geschichte nicht als "Einfühlung" in eine andere Zeit oder als "Interpretation", sondern als seine wirkliche Geschichte. Deshalb sagt Benjamin, dass er die Geschichte "gegen den Strich bürstet". "Subjektiv" ist seine Geschichtsschreibung nur insofern sie die Schreibung seiner Geschichte ist. Aber diese "Subjektivität" ist weder die Willkür beliebig austauschbarer "Interpretationen" noch eine "Einfühlung" in eine andere Zeit ohne Gegenwartsbezug.
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Beitrag(#1938296) Verfasst am: 31.07.2014, 22:24    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo,

gerade im ersten Absatz von Walter Benjamin "Über den Begriff der Geschichte" geht es doch darum, dass der historische Materialismus eben keine objektive Geschichtsschreibung ist! Smilie

Walter Benjamin hat folgendes geschrieben:
Bekanntlich soll es einen Automaten gegeben haben, der so konstruiert gewesen sei, daß er jeden Zug eines Schachspielers mit einem Gegenzuge erwidert habe, der ihm den Gewinn der Partie sicherte. Eine Puppe in türkischer Tracht, eine Wasserpfeife im Munde, saß vor dem Brett, das auf einem geräumigen Tisch aufruhte. Durch ein System von Spiegeln wurde die Illusion erweckt, dieser Tisch sei von allen Seiten durchsichtig. In Wahrheit saß ein buckliger Zwerg darin, der ein Meister im Schachspiel war und die Hand der Puppe an Schnüren lenkte. Zu dieser Apparatur kann man sich ein Gegenstück in der Philosophie vorstellen. Gewinnen soll immer die Puppe, die man ´historischen Materialismus´ nennt. Sie kann es ohne weiteres mit jedem aufnehmen, wenn sie die Theologie in ihren Dienst nimmt, die heute bekanntlich klein und häßlich ist und sich ohnehin nicht darf blicken lassen.


Für mich ist die Interpretation sehr naheliegend, dass der historische Materialismus vortäuscht eine objektive Geschichtsbetrachtung zu sein und dazu eine ganz komplizierte Theorie-Apparatur entwickelt, die jene Objektivität vortäuscht. In Wirklichkeit ist der Verwender dieser Methodik ein Meister der Interpretation, der es schafft mit Lexika und Wörterbücher bewaffnet zu jeder Fragestellung eine umfangreiche und mit Quellen belegte Analyse vorlegt, die jedesmal den Eindruck erweckt, dass kein anderer Schluss möglich sei. Weil aber natürlich bei jeder Fragestellung sowohl eine andere Quellenauswahl als auch eine andere Methodenwahl und folglich ein abweichendes Resultat möglich ist, ist dieser Eindruck von Objektivität trügerisch! Smilie

Mit besten Grüßen,
Mirko
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Beitrag(#1938298) Verfasst am: 31.07.2014, 22:33    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo,

kleiner Nachtrag zu meiner Interpretation von dem ersten Absatz:

Mir ist aufgefallen, dass Walter Benjamin von dem "historischen Materialismus" als "Puppe in der Philosophie" spricht.

Demzufolge geht es in dem Rest der Arbeit von Benjamin darum eine abweichende Begriffsdefinition von "historischer Materialismus" zu geben. Das ist eine Feinheit, die mir zunächst entgangen ist.

Ich denke dennoch, dass die Metapher sehr gut zu den Anmerkung von Torvac bezüglich der Studienordnung im Studienfach Politikwissenschaft passt. Denn die Metapher von der Schachmaschine impliziert ja gerade die Kritik, die ich an dieser Studienordnung übe. Ich behaupte ja eben, dass die Gefahr besteht, dass man Komplexität und theoretischen Anspruch mit Objektivität verwechselt. Und ich bin Walter Benjamin sehr dankbar, dass er diese Gefahr in einer wundervollen Metapher ausdrückt. Ich bin nun sehr gespannt auf den restlichen Teil des Artikels, wo er eine Antwort auf das Problem der Wahrheitsfindung geben will.

Mit besten Grüßen,
Mirko
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Beitrag(#1938345) Verfasst am: 01.08.2014, 07:58    Titel: Antworten mit Zitat

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Für mich ist die Interpretation sehr naheliegend, dass der historische Materialismus vortäuscht eine objektive Geschichtsbetrachtung zu sein und dazu eine ganz komplizierte Theorie-Apparatur entwickelt, die jene Objektivität vortäuscht.

Das passt aber nicht dazu, dass Walter Benjamin sich selbst als historischen Materialisten versteht und dem von ihm kritisierten Historismus gerade einen positiven Begriff von historischem Materialismus gegenüberstellt. (Abschnitte IV-VII, XVI-XVII,)

Was Walter Benjamins Verhältnis zur Theologie angeht, so bezeichnet er seine eigene Philosophie in einem anderen Text als Löschblatt. Sie saugt sich zwar ganz mit Theologie voll, aber so, dass von dieser nichts mehr übrig bleibt.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Ich behaupte ja eben, dass die Gefahr besteht, dass man Komplexität und theoretischen Anspruch mit Objektivität verwechselt.

Abenteuerlich. Dass "Komplexität" hier das von mir vorgeschlagene Kriterium wäre, hättest du mir erstmal nachzuweisen. Die ganze Geschichte mit der "Objektivität" ist ohnehin primär deine Redeweise. Ich muss das nicht weiter vertiefen, es reicht aber, zu sagen, dass ich nicht in der Weise wie du Objektivität und Subjektivität einander als Gegensätze gegenüberstelle, womit deine Bedenken in diesem Bereich weitestgehend gegenstandslos werden. Was die Sache mit dem theoretischen Anspruch angeht: Wie ich in diesem Beitrag bereits angedeutet habe, gibt es in der Tat einen Zusammenhang zwischen Wahrheitsansprüchen und Wahrheit, nämlich insofern die Wahrheitsansprüche einer Theorie nicht von ihren Gelingensbedingungen (bzw. den Bedingungen ihrer Falsifikation) zu trennen sind. Was dir anscheinend nicht in den Kopf will, ist, dass du eine Theorie nicht widerlegen kannst, deren Wahrheitsansprüche du nicht mal ernst nimmst. Das gilt auf der philosophisch-metatheoretischen Ebene genauso wie auf der Ebene des Objektbezugs der Theorie selbst.
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Beitrag(#1938559) Verfasst am: 01.08.2014, 19:28    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo,

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Für mich ist die Interpretation sehr naheliegend, dass der historische Materialismus vortäuscht eine objektive Geschichtsbetrachtung zu sein und dazu eine ganz komplizierte Theorie-Apparatur entwickelt, die jene Objektivität vortäuscht.

Das passt aber nicht dazu, dass Walter Benjamin sich selbst als historischen Materialisten versteht und dem von ihm kritisierten Historismus gerade einen positiven Begriff von historischem Materialismus gegenüberstellt. (Abschnitte IV-VII, XVI-XVII,)

Was Walter Benjamins Verhältnis zur Theologie angeht, so bezeichnet er seine eigene Philosophie in einem anderen Text als Löschblatt. Sie saugt sich zwar ganz mit Theologie voll, aber so, dass von dieser nichts mehr übrig bleibt.



Nun, nach der ersten Lektüre von dem 1. Abschnitt war ich mir nicht sicher, ob Benjamin die Metapher als Kritik gemeint hat oder nicht. Nun wird mir klarer, dass die Metapher nicht als Kritik gemeint ist. Es ist mir nun klar, dass Benjamin sein Programm einer Subjektivierung der Geschichtsschreibung konsequent durchzieht. Benjamin verherrlicht in geradezu drastischer Weise den Bezug zur Jetztzeit. Das verweilen im Augenblick ist sozusagen der Punkt, von dem aus Geschichte geschrieben wird.

Nun ist mir noch nicht klar, wie daraus "Objektivität" wird. Was Benjamin beschreibt, ist gerade das Gegenteil von Objektivität. Jedenfalls, nach meinen Begrifflichkeiten. Irgendwie verstehe ich noch nicht, wie do "Objektiv" verwendest.

Zitat:
Was die Sache mit dem theoretischen Anspruch angeht: Wie ich in diesem Beitrag bereits angedeutet habe, gibt es in der Tat einen Zusammenhang zwischen Wahrheitsansprüchen und Wahrheit, nämlich insofern die Wahrheitsansprüche einer Theorie nicht von ihren Gelingensbedingungen (bzw. den Bedingungen ihrer Falsifikation) zu trennen sind. Was dir anscheinend nicht in den Kopf will, ist, dass du eine Theorie nicht widerlegen kannst, deren Wahrheitsansprüche du nicht mal ernst nimmst. Das gilt auf der philosophisch-metatheoretischen Ebene genauso wie auf der Ebene des Objektbezugs der Theorie selbst.


Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was du mit "Gelingensbedingungen" und mit "Wahrheitsansprüchen" meinst. Das will mir in der Tat nicht in den Kopf. Empirische Fundierung? Formaler Rahmen unter Verwendung von logisch exakten Symbolsprachen? Ich verstehe es einfach nicht und bitte um Erläuterung.

Mit besten Grüßen,
Mirko
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Beitrag(#1938567) Verfasst am: 01.08.2014, 19:56    Titel: Antworten mit Zitat

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Nun, nach der ersten Lektüre von dem 1. Abschnitt war ich mir nicht sicher, ob Benjamin die Metapher als Kritik gemeint hat oder nicht. Nun wird mir klarer, dass die Metapher nicht als Kritik gemeint ist.

Naja - Benjamins Bezug zur Theologie ist genauso ambivalent wie der zum Marxismus. Benjamin ist oft viel zu subtil und übt mit ein und der selben Figur gleichzeitig Kritik und gibt ein positives Statement ab.
Gerade in den Thesen zum Begriff der Geschichte merkt man diese Subtilität und Vielschichtigkeit. Man denke nur an den Abschnitt über Angelus Novus.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Es ist mir nun klar, dass Benjamin sein Programm einer Subjektivierung der Geschichtsschreibung konsequent durchzieht.

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich verstehe, was du damit sagen willst. Läuft diese Aussage von dir immer noch unter dem Paradigma der Entgegensetzung von subjektiv und objektiv? Wenn ja, bist du schon begrifflich auf dem falschen Dampfer. zwinkern

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Nun ist mir noch nicht klar, wie daraus "Objektivität" wird. Was Benjamin beschreibt, ist gerade das Gegenteil von Objektivität. Jedenfalls, nach meinen Begrifflichkeiten.

Wieso denn? Das entscheidende Element ist doch die Reflektion auf die eigenen Voraussetzungen, die dadurch explizit werden. Wenn das nicht Objektivität ist, was denn sonst?

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Benjamin verherrlicht in geradezu drastischer Weise den Bezug zur Jetztzeit. Das Verweilen im Augenblick ist sozusagen der Punkt, von dem aus Geschichte geschrieben wird.

Ja, hic Rhodus, hic salta. Das ist zunächst mal primär ein reflexives Moment: Der Historiker stellt sich selbst die Frage, warum er sich eigentlich hier und heute gerade für diesen Teil der Geschichte interessiert, den er behandelt.
Auf diese Weise wird ihm klar, was er mit seiner Theoriebildung eigentlich will. Die Ansprüche, die er an seine Theorie und seine Geschichtsschreibung stellt, werden explizit.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was du mit "Gelingensbedingungen" und mit "Wahrheitsansprüchen" meinst. Das will mir in der Tat nicht in den Kopf. Empirische Fundierung? Formaler Rahmen unter Verwendung von logisch exakten Symbolsprachen?

Zum Beispiel. Aber fangen wir doch mal ganz von vorne an: Was ist eine Theorie und was will man mit Theorien?
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Beitrag(#1938682) Verfasst am: 02.08.2014, 12:49    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo Tarvoc,

Zitat:
funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Nun ist mir noch nicht klar, wie daraus "Objektivität" wird. Was Benjamin beschreibt, ist gerade das Gegenteil von Objektivität. Jedenfalls, nach meinen Begrifflichkeiten.

Wieso denn? Das entscheidende Element ist doch die Reflektion auf die eigenen Voraussetzungen, die dadurch explizit werden. Wenn das nicht Objektivität ist, was denn sonst?


Nun, ich bin der Meinung, dass die Möglichkeit zur Reflektion eine objektive Tatsache ist, dass jedoch der Prozess der Reflektion von der Person abhängt und somit keine objektiven Resultate mehr zu bringen vermag.

Dass die Möglichkeit zur Reflektion eine objektive Tatsache ist, hängt damit zusammen, dass du sie feststellen kannst, unabhängig davon welche Voraussetzungen du mitbringst. Jeder Mensch kann Reflektion üben, auch die, die es gewohnt sind in Klischees und Stereotypen zu denken.

Malcolm macht an einer anderen Stelle gerade den Versuch gegen diese Überlegungen zu argumentieren. Er behauptet indirekt, dass Menschen nicht zur Reflektion fähig seien und demzufolge Einschüchterung und "Verbalradikalismus" bräuchten. Gerade dieser Argumentationsversuch macht deutlich, dass man zwangsläufig auf die Anwendung von Gewalt, ob körperlicher oder psychologischer, kommt, wenn man den Menschen ihre Fähigkeit zur Reflektion abspricht.

"Objektivität" bezieht sich also auf die Möglichkeit unabhängig von historischen oder lebensgeschichtlichen Voraussetzungen bestimmte Feststellungen zu machen. Mathematische Aussagen sind also objektiv, weil jeder sie verstehen kann, unabhängig davon aus welcher historischer Epoche er kommt.

Zitat:

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was du mit "Gelingensbedingungen" und mit "Wahrheitsansprüchen" meinst. Das will mir in der Tat nicht in den Kopf. Empirische Fundierung? Formaler Rahmen unter Verwendung von logisch exakten Symbolsprachen?

Zum Beispiel. Aber fangen wir doch mal ganz von vorne an: Was ist eine Theorie und was will man mit Theorien?


Eine Theorie ist eine Menge von Aussagen, die man mit der Absicht bildet ein bestimmtes Phänomen in möglichst großer Allgemeinheit und Umfänglichkeit zu verstehen. Zum Beispiel kann ich eine Theorie bilden, die ausgehend von einer empirischen Fundierung durch naturwissenschaftliche Versuche Erklärungsmuster beinhaltet, welche uns ein Verständnis der Entstehung neuer Arten ermöglicht. Oder ich kann eine Theorie bilden, welche von allgemeinen Annahmen über die Menschennatur ausgehend versucht ökonomische Prozesse zu verstehen.

Nun stellt sich die Frage, warum eine Theorie, um ein Verständnis zu ermöglichen, Wahrheitsansprüche braucht.

Mit besten Grüßen,
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Beitrag(#1938688) Verfasst am: 02.08.2014, 13:19    Titel: Antworten mit Zitat

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Nun, ich bin der Meinung, dass die Möglichkeit zur Reflektion eine objektive Tatsache ist, dass jedoch der Prozess der Reflektion von der Person abhängt und somit keine objektiven Resultate mehr zu bringen vermag.

Huh? Was nennst du denn ein objektives Resultat? Das Explizitwerden der Positionalität des Geschichtsschreibers ist erstens sehr wohl ein objektives Resultat und erhöht zweitens die Objektivität seiner Geschichtsschreibung, indem es deren materielle Voraussetzungen offenlegt.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
"Objektivität" bezieht sich also auf die Möglichkeit unabhängig von historischen oder lebensgeschichtlichen Voraussetzungen bestimmte Feststellungen zu machen.

Aber was ist diese Unabhängigkeit und wie wird sie erreicht? Offensichtlich nicht dadurch, dass man von den eigenen Voraussetzungen einfach abstrahiert, denn dann bleiben sie einfach implizit wirksam. - Die bloße Entgegensetzung von Objektivität und Subjektivität ist immer einseitig abstrakt. Man muss die Beziehung dialektisch denken.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Mathematische Aussagen sind also objektiv, weil jeder sie verstehen kann, unabhängig davon aus welcher historischer Epoche er kommt.

Erstens ist der Begriff der Objektivität gerade bezüglich der Mathematik erklärungsbedürftig (was ist denn da das Objekt?), und zweitens ist das ein Mythos: Natürlich versteht nicht jeder jede mathematische Aussage unabhängig von seiner Erziehung und Ausbildung. Und auch die Mathematik hat eine Geschichte. Das ist genau was Benjamin meint: Gerade durch den Verzicht auf die Reflektion auf die eigenen materiellen Voraussetzungen geht auch die historische Objektivität verloren. Objektivität ist reflexiv.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Nun stellt sich die Frage, warum eine Theorie, um ein Verständnis zu ermöglichen, Wahrheitsansprüche braucht.

Verstehe ich nicht. Der Anspruch, ein Verständnis des Gegenstandes zu ermöglichen, ist der Wahrheitsanspruch der Theorie. Ohne solche Ansprüche hat man auch keine Theorie.
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Beitrag(#1938699) Verfasst am: 02.08.2014, 13:54    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo,

Zitat:

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
"Objektivität" bezieht sich also auf die Möglichkeit unabhängig von historischen oder lebensgeschichtlichen Voraussetzungen bestimmte Feststellungen zu machen.

Aber was ist diese Unabhängigkeit und wie wird sie erreicht? Offensichtlich nicht dadurch, dass man von den eigenen Voraussetzungen einfach abstrahiert, denn dann bleiben sie einfach implizit wirksam.


Diese "Unabhängigkeit" ist letzten Endes ein Etikett, welches man bestimmten Feststellungen anhaftet. Man macht die Aussage, dass alle Menschen die gleiche Feststellung machen können. Jeder kann zum Beispiel die Feststellung machen, dass der Tod auf ihn wartet. Jeden kann man damit konfrontieren. Es führt unter Umständen zu einem psychologischen Zusammenbruch, aber das soll hier nicht das Thema sein! zynisches Grinsen

Zitat:
funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Mathematische Aussagen sind also objektiv, weil jeder sie verstehen kann, unabhängig davon aus welcher historischer Epoche er kommt.

Erstens passt der Begriff der Objektivität auf die Mathematik gar nicht (was ist denn da das Objekt?), und zweitens ist das ein Mythos: Natürlich versteht nicht jeder jede mathematische Aussage unabhängig von seiner Erziehung und Ausbildung. Und auch die Mathematik hat eine Geschichte. Das ist genau was Benjamin meint: Gerade durch den Verzicht auf die Reflektion auf die eigenen materiellen Voraussetzungen geht auch die historische Objektivität verloren. Objektivität ist reflexiv.


Die Objekte in der Mathematik sind bestimmte Symbol-Konstruktionen, die Mathematiker aus irgendwelchen Gründen fasinierend findet.

Letzten Endes beruht diese Möglichkeit zur Symbol-Bildung auf der Möglichkeit zur Sprachbildung. Und Sprache wiederum ist ein Phänomen, welches man auch im Urwald findet. Ergo: Sprache kann jeder bilden, Symbole kann jeder bilden, folglich kann jeder zu mathematischen Konzepten gelangen.

Ein besonders schönes Beispiel für die Allgemeingültigkeit der Mathematik ist Fußball. Jedes Fußballspiel benötigt einen rudimentären mathematischen Formalismus, nämlich das Konzept der Zahlen und das Konzept der Addition. Damit kann man schon mal die Anzahl der Tore messen. Um dann auch noch den Sieger festzustellen braucht man dann ein Konzept einer Totalordnung, welches es ermöglicht Zahlen zu vergleichen.

Zitat:

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Nun stellt sich die Frage, warum eine Theorie, um ein Verständnis zu ermöglichen, Wahrheitsansprüche braucht.

Verstehe ich nicht. Der Anspruch, ein Verständnis des Gegenstandes zu ermöglichen, ist der Wahrheitsanspruch der Theorie. Ohne solche Ansprüche hat man auch keine Theorie, sondern vielleicht Literatur oder Poesie oder sowas.


Hmm, ich bin mir da nicht so sicher.

Ich will mal ein Zitat von einem Psychotherapeuten bringen. Und dann würde ich gerne von dir erfahren, ob es da immer noch um Wahrheitsansprüche geht.

Irvin D. Yalom in Existenzielle Psychotherapie hat folgendes geschrieben:
Dem Therapeuten wird ein Bezugsrahmen an die Hand gegeben, der seine Effektivität wesentlich erhöht. So, wie die Natur vor einem Vakuum zurückschreckt, schrecken wir für Unsicherheit zurück. Eine der Aufgaben des Therapeuten ist es das Empfinden von Sicherheit und Handhabbarkeit des Patienten zu erhöhen. Es ist von nicht geringer Bedeutung, dass man in der Lage ist die Ereignisse in seinem Leben in einem zusammenhängenden und vorhersagbarem Muster zu ordnen und sie zu erklären. Etwas zu benennen, es in einer kausalen Folge einzuordnen, bedeutet, dass wir anfangen es als unter unserer Kontrolle stehend zu erfahren. Unsere innere Erfahrung oder unser Verhalten ist dann nicht mehr erschreckend, fremd oder außer Kontrolle; stattdessen verhalten wir uns (oder haben eine bestimmte innere Erfahrung) wegen etwas, das wir benennen und identifizieren können.


Also, mein Eindruck ist der, dass es hier um alles andere als um erkenntnistheoretischen Interessen geht. Oder wie siehst du das?

Mit besten Grüßen,
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Beitrag(#1938716) Verfasst am: 02.08.2014, 15:20    Titel: Antworten mit Zitat

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Diese "Unabhängigkeit" ist letzten Endes ein Etikett, welches man bestimmten Feststellungen anhaftet. Man macht die Aussage, dass alle Menschen die gleiche Feststellung machen können.

Wir sind ja jetzt mitten in der Metatheorie. Du sagst, es gibt Theorien, die jeder Mensch unabhängig von seinen wirklichen Voraussetzungen verstehen kann, und darin soll ihre Objektivität bestehen. Ist das eine empirische Behauptung? Wenn sich dann auch nur ein einziger Mensch findet, der die betreffende Theorie nicht versteht, der du nach diesem Kriterium Objektivität zugesprochen hast, ist deine ganze Metatheorie der Objektivität von Theorien falsch. Es sollte eigentlich klar sein, dass das kein vernünftiger Begriff von Objektivität sein kann. Dass möglichst allgemeine Verstehbarkeit ein Desiderat von Theorien sein kann, bestreitet keiner - u.A. deshalb reflektiert man ja gerade auf die eigenen Voraussetzungen. Der Wahrheitsanspruch einer Theorie kann aber nicht davon abhängen, ob alle Menschen unabhängig von den Umständen (die ja oft selbst Gegenstände der Theorie sind) zur selben Theorie kommen können.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Letzten Endes beruht diese Möglichkeit zur Symbol-Bildung auf der Möglichkeit zur Sprachbildung. Und Sprache wiederum ist ein Phänomen, welches man auch im Urwald findet. Ergo: Sprache kann jeder bilden, Symbole kann jeder bilden, folglich kann jeder zu mathematischen Konzepten gelangen.

Non sequitur. Das wäre genauso als würdest du sagen: Shakespeares Theaterstücke basieren auf Sprache und Symbolbildung, also kann jeder Theaterstücke wie Shakespeare schreiben. Oder: Einsteins Relativitätstheorie basiert auf Sprache und Mathematik, also kann nicht nur jeder sie verstehen, sondern jeder kann auch von selbst auf sie kommen. Von wesentlichen materiellen Voraussetzungen abstrahierst du einfach. Ein Einwohner eines Buschdorfs, das vom Jagen und Sammeln lebt, kann genausowenig auf den Gödelschen Unvollständigkeitsbeweis kommen wie auf "Hamlet" oder auf die Relativitätstheorie.

Es gibt historisch gewordene Sprachen und Symbolbildungen, aber nicht "die Sprache". Du setzt als gegeben voraus, was in Wahrheit Aufgabe ist.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Ich will mal ein Zitat von einem Psychotherapeuten bringen. Und dann würde ich gerne von dir erfahren, ob es da immer noch um Wahrheitsansprüche geht.

Sorry, ich verstehe nicht mal, was das überhaupt soll. Soll das Zitat ein Beispiel für eine Theorie sein? Ein inhaltlicher Beitrag zu unserer metatheoretischen Fragestellung? Oder was? Am Kopf kratzen

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Also, mein Eindruck ist der, dass es hier um alles andere als um erkenntnistheoretischen Interessen geht. Oder wie siehst du das?

Frag mich nicht. Ich weiss noch nicht mal, was du mit dem Zitat überhaupt willst.
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"Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der Ausnahmezustands in dem wir leben, die Regel ist."
- Walter Benjamin, VIII. These zum Begriff der Geschichte
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funkeimdunkeln
Bösmensch



Anmeldungsdatum: 12.05.2014
Beiträge: 878

Beitrag(#1938788) Verfasst am: 02.08.2014, 21:57    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo Tarvoc,

Zitat:
[quote="Tarvoc" postid=1938716]
funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Diese "Unabhängigkeit" ist letzten Endes ein Etikett, welches man bestimmten Feststellungen anhaftet. Man macht die Aussage, dass alle Menschen die gleiche Feststellung machen können.

Wir sind ja jetzt mitten in der Metatheorie. Du sagst, es gibt Theorien, die jeder Mensch unabhängig von seinen wirklichen Voraussetzungen verstehen kann, und darin soll ihre Objektivität bestehen. Ist das eine empirische Behauptung? Wenn sich dann auch nur ein einziger Mensch findet, der die betreffende Theorie nicht versteht, der du nach diesem Kriterium Objektivität zugesprochen hast, ist deine ganze Metatheorie der Objektivität von Theorien falsch. Es sollte eigentlich klar sein, dass das kein vernünftiger Begriff von Objektivität sein kann. Dass möglichst allgemeine Verstehbarkeit ein Desiderat von Theorien sein kann, bestreitet keiner - u.A. deshalb reflektiert man ja gerade auf die eigenen Voraussetzungen. Der Wahrheitsanspruch einer Theorie kann aber nicht davon abhängen, ob alle Menschen unabhängig von den Umständen (die ja oft selbst Gegenstände der Theorie sind) zur selben Theorie kommen können.


Nimm mal das Beispiel mit dem Sterben. Natürlich ist nicht jedem Menschen klar, was Sterben bedeutet. Man mag Grenzfälle nehmen wie frühestes Kindesalter, Geistig Behinderte, Eingesperrte Psychiatrieinsassen, usw. Diese Grenzfälle schließen nicht aus, dass das Wissen um seinen Tod eine universale Erfahrung ist. Universale Erfahrung bedeutet, dass jeder Mensch von möglichst allgemeinen Voraussetzungen aus gesehen - insoweit stimme ich dir zu - zu einem Wissen um den Tod gelangen kann und gelangen wird.

Was diese Voraussetzungen anbelangt, gibt es nun eine Skala, wo auf am anderen Ende hochspezialisierte Wissenschaftler stehen ("Spezialistenwissen") und auf der anderen alle Menschen, unabhängig von ihrer Pathologie ("Allgemeinwissen"). Und natürlich sind die Theorien auf der Skala unterschiedlich verteilt, das ist doch klar. Keine Theorie wird ganz am Ende der Skala des Allgemeinwissens angelangen. Dennoch werden manche Theorien einen hohen Grad an Notwendigkeit aufweisen insofern als dass jeder, der irgendwie denken und kommunizieren kann, dieser Theorie zustimmen wird, während manche Theorien bei vielen auf hohe Ablehnung stoßen werden.

Zitat:
funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Letzten Endes beruht diese Möglichkeit zur Symbol-Bildung auf der Möglichkeit zur Sprachbildung. Und Sprache wiederum ist ein Phänomen, welches man auch im Urwald findet. Ergo: Sprache kann jeder bilden, Symbole kann jeder bilden, folglich kann jeder zu mathematischen Konzepten gelangen.

Non sequitur. Das wäre genauso als würdest du sagen: Shakespeares Theaterstücke basieren auf Sprache und Symbolbildung, also kann jeder Theaterstücke wie Shakespeare schreiben. Oder: Einsteins Relativitätstheorie basiert auf Sprache und Mathematik, also kann nicht nur jeder sie verstehen, sondern jeder kann auch von selbst auf sie kommen. Von wesentlichen materiellen Voraussetzungen abstrahierst du einfach. Ein Einwohner eines Buschdorfs, das vom Jagen und Sammeln lebt, kann genausowenig auf den Gödelschen Unvollständigkeitsbeweis kommen wie auf "Hamlet" oder auf die Relativitätstheorie.

Es gibt historisch gewordene Sprachen und Symbolbildungen, aber nicht "die Sprache". Du setzt als gegeben voraus, was in Wahrheit Aufgabe ist.


Shakespeare habe ich nicht gelesen, aber was Romane angeht, ist es doch denkbar, dass bei den Ureinwohnern und bei dem Romanschreibern unterschiedliche kulturelle Hintergründe vorliegen. Dann ist die Frage ob Buschdorf-Bewohner und Romanschreiber überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Es sind also diese gesellschaftlichen Hintergründe, die eine Kommunikation eher schwer machen.

Im Falle von physikalischen und mathematischen Theorien sieht das anders aus. Da hat man einen gemeinsamen Nenner. Denn auch ein Ureinwohner hat eine primitive Vorstellung davon, was Zahlen sind. Ihm ist klar, dass es ungerecht ist, wenn er zwei Kinder hat und das eine Kind zwei Mangos bekommt und das andere Kind drei Mangos. Und der Grad an Ungerechtigkeit misst er eben mit einem mathematischen Konzept.

Ebenso hat auch der Buschdorf-Bewohner grundlegende physikalische Konzepte. Ohne die könnte er keine stabilen Hütten bauen.

Hier sieht man wiedermal, dass du Komplexität mit Objektivität verwechselst! nerv

Zitat:
funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Ich will mal ein Zitat von einem Psychotherapeuten bringen. Und dann würde ich gerne von dir erfahren, ob es da immer noch um Wahrheitsansprüche geht.

Sorry, ich verstehe nicht mal, was das überhaupt soll. Soll das Zitat ein Beispiel für eine Theorie sein? Ein inhaltlicher Beitrag zu unserer metatheoretischen Fragestellung? Oder was? Am Kopf kratzen


Das war eine Frage. Es kommt auch mal vor, dass ich nicht klugscheiße, sondern meine Dummheit offenbare und dazu eine Verständnisfrage stelle.

Mit freundlichen Grüßen,
Mirko
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Tarvoc
would prefer not to.



Anmeldungsdatum: 01.03.2004
Beiträge: 44647

Beitrag(#1938812) Verfasst am: 02.08.2014, 23:05    Titel: Antworten mit Zitat

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Nimm mal das Beispiel mit dem Sterben.

Wieso sollte ich? Eine Theorie des Sterbens, die nichts weiter sagt als dass wir alle sterben müssen, finde ich absolut langweilig. Im Übrigen sind die Wahrheitsansprüche einer solchen Theorie auch recht eindeutig und gerade kein Bisschen problematisch.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Hier sieht man wiedermal, dass du Komplexität mit Objektivität verwechselst! nerv

Ganz im Gegenteil. Ich versuche, zu zeigen, dass Komplexität in keine Richtung ein Kriterium für Objektivität sein kann, während du einfach Objektivität mit Einfachheit verwechselst. Nach den Kriterien, die du hier anlegst, ist "drei sind mehr als zwei" objektiver als der Gödelsche Unvollständigkeitssatz, und Alltagsphysik objektiver als die Relativitätstheorie. Sorry, ich weiss nicht, wieso das so sein sollte. Dein Kriterium taugt nicht. Dass ein allgemeines Kriterium der Objektivität für komplexe Theorien genauso taugen muss wie für einfache, sollte sich eigentlich von selbst verstehen.

funkeimdunkeln hat folgendes geschrieben:
Das war eine Frage. Es kommt auch mal vor, dass ich nicht klugscheiße, sondern meine Dummheit offenbare und dazu eine Verständnisfrage stelle.

Und ich sagte, dass ich die Frage nicht verstehe.
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