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smallie resistent!?
Anmeldungsdatum: 02.04.2010 Beiträge: 3726
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(#2037895) Verfasst am: 04.01.2016, 01:04 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | smallie hat folgendes geschrieben: | Beim Stöbern nach Neffe-Rezensionen bin ich auf folgendes Buch gestoßen. Da trifft Darwin, Kultur und Evolution wieder auf's Threadthema.
<schnipp>
Marcellinus wird mit den Augen rollen, wenn er "biologisch" liest.  |
Ich wunder' mich schon über nichts mehr. Das passiert, wenn man sich in Biologismen verliert, weil man keine halbwegs zuverlässige Theorie sozialer Prozesse hat, denn das sind Religionen: soziale Prozesse. |
Selbstverständlich sind Religionen soziale Prozesse - sonst müßte jeder seine eigene Kaspar-Hauser-Privatreligion entwickeln - und dürfte nie darüber sprechen, denn das würde einen sozialen Prozess in Gang setzen.
Zu Biologismen und zur Theorie. So stellt sich der Pfad von der biologischen zur sozialen Theorie für mich dar:
Was ist die erfolgreichste Art auf unserem Planeten? Der Mensch - oder die Ameisen? Darwin nannte die sozialen Insekten mit ihren unfruchtbaren Arbeiterinnen eins der größten Probleme für seine Theorie.
Zitat: | Entstehung der Arten
Ich will [...] bei einer besondern Schwierigkeit stehen bleiben, welche mir anfangs unübersteiglich und meiner ganzen Theorie wirklich verderblich zu sein schien. Ich will von den geschlechtlosen Individuen oder unfruchtbaren Weibchen der Insectencolonien sprechen; denn diese Geschlechtslosen weichen sowohl von den Männchen als den fruchtbaren Weibchen in Bau und Instinct oft sehr weit ab und können doch, weil sie steril sind, ihre eigenthümliche Beschaffenheit nicht selbst durch Fortpflanzung weiter übertragen.
[...]
Diese anscheinend unüberwindliche Schwierigkeit wird aber bedeutend geringer oder verschwindet, wie ich glaube, gänzlich, wenn wir bedenken, daß Zuchtwahl ebensowohl bei der Familie als bei den Individuen anwendbar ist und daher zum erwünschten Ziele führen kann.
https://de.wikisource.org/wiki/Entstehung_der_Arten_(1876)/Achtes_Capitel |
Über hundert Jahre, 1964, später fand William D. Hamilton eine mathematische Formulierung für das Problem.
Code: | rB > C
r = genetische Verwandschaft
B = Nutzen (benefit)
C = Kosten (cost) |
Aufgrund ihrer haploid-diploiden Vermehrung ist der Grad der Verwandtschaft unter Ameisen oder Bienen höher, als zum Beispiel beim Menschen. Deshalb kann kooperatives, altruistisches Verhalten entstehen. Was dem Bienenvolk nutzt, nutzt auch den Genen der einzelnen Biene, auch wenn sie nach dem Einsatz des Stachels hopps geht.
1971 wandte Robert Trivers das Prinzip auf nicht verwandte Individuen an.
Code: | wB > C
w = Wahrscheinlichkeit, mit der zwei Individuen wiederholt aufeinander treffen
B = Nutzen (benefit)
C = Kosten (cost) |
An dieser Stelle entkoppelt sich die Biologie von der Kultur. Das "wiederholt aufeinander treffen" läßt sich allgemeiner als Gruppenzusammenhalt beschreiben.
Wenn es nun mehrere Populationen gibt mit unterschiedlichem Zusammenhalt (= Kooperationsrate), die miteinander im Wettbewerb stehen, werden sich langfristig die kooperativeren Populationen durchsetzen.
In den Worten von Wilson und Wilson:
Das ist der Rahmen, auf dem viele weitere Arbeiten aufsetzen. Dazu gleich ein Beispiel nach folgendem Schlenker.
Wie kommt nun Religion ins Spiel?
Es wurde schon länger spekuliert, daß Religion eine von mehreren Mechanismen ist, Gruppenzusammenhalt zu erzeugen. Das meiner Meinung nach stärkste Argument geht so: nach der Entwicklung der Landwirtschaft entstanden immer größere soziale Verbände. Städte, Staaten und schließlich multiethnische Imperien. Letzteres fällt ganz grob ins erste Jahrtausaund vor der Zeitrechnung. In diese Zeit fällt auch die Entstehung der ersten Weltreligionen.
Zufall? Oder waren die damals entstanden Religionen eine der Klammern, die es brauchte, um Gruppenzusammenhalt in multiethnischen Gesellschaften zu erzeugen?
Um das konkret zu machen, hier eine Arbeit aus dem Jahr 2013. Die Autoren untersuchen die Entstehung von "Ultrasozialität" - das ist ihr Begriff für die Kooperation von unverwandten Individuen - über den Zeitraum von 1500 vor bis 1500 nach Christus.
Zitat: | War, space, and the evolution of Old World
Peter Turchin, Thomas E. Currie, Edward A. L. Turner, and Sergey Gavrilets
Wie kam es, daß sich menschliche Gesellschaften aus kleinen Gruppen, in denen jeder jeden von Angesicht kannte, bis zu den riesigen, anonymen und üblicherweise in Staaten organisierten Gesellschaften von heute entwickelten? Warum gibt es so große Unterschiede, wie verschiedene Populationen praktikable Staatswesen hervorbringen. Die bekannten Theorien sind üblicherweise verbal formuliert, deshalb erlauben sie keine scharf abgegrenzenten und quantitativen Vorhersagen, die unzweideutig an Daten überprüft werden können. Hier entwickeln wir ein kulturell-evolutionäres Modell, das vorhersagt, wo und wann großräumige, komplexe Gesellschaften im Lauf der menschlichen Geschichte entstanden.
Original:
How did human societies evolve from small groups, integrated by face-to-face cooperation, to huge anonymous societies of today, typically organized as states? Why is there so much variation in the ability of different human populations to construct viable states? Existing theories are usually formulated as verbal models and, as a result, do not yield sharply defined, quantitative predictions that could be unambiguously tested with data. Here we develop a cultural evolutionary model that predicts where and when the largest-scale complex societies arose in human history.
http://www.pnas.org/content/110/41/16384.full.pdf |
Das Modell zerlegt Afro-Eurasia in 100 x 100 km große Zellen. Die Zellen sind gekennzeichnet durch ihr Biom (Wüste, Marsch, Grasland, Wald), ihre geographische Höhe (Meeresspiegel, Hügel, Gebirge) und ob Landwirtschaft in der Zelle betrieben wird. Außerdem noch Kennzahlen für die Zugehörigkeit zu einer "Ultrasozialität" und für den Stand der Militärtechnik (Pferde, Streitwägen, Eisenpfeilspitzen, Steigbügel ... ).
Das spuckt das Modell gemittelt über mehrere Simulationsläufe aus.
Zitat: |
Unsere Analyse unterstützt den Gedanken, daß Geschichte nicht einfach "eine verdammte Sache nach der anderen" ist, sondern daß allgemeingültige Mechanismen die groben Muster der Geschichte bestimmen.
Original:
The model developed here does well at predicting the broad outlines of where and when such societies have traditionally formed and persisted. This is a remarkable result, given the limitations of historical data and a rudimentary representation of the environment and the causal mechanisms in the model. Due to the nature of the question addressed in our study, there are inevitably several sources of error in historical and geographical data we have used. [...]
Our analyses, however, also provide support for the idea that the story of the past is not just a case of “one damned thing after another”, but that there are general mechanisms at play in shaping the broad patterns of history. |
Für die Details dieses Modells würde ich meine Hand nicht ins Feuer legen. Aber es ist ein gutes Muster für das, was eine "zuverlässige Theorie" leisten muß.
_________________ "There are two hard things in computer science: cache invalidation, naming things, and off-by-one errors."
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2037931) Verfasst am: 04.01.2016, 12:27 Titel: |
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smallie hat folgendes geschrieben: |
Zu Biologismen und zur Theorie. So stellt sich der Pfad von der biologischen zur sozialen Theorie für mich dar:
Was ist die erfolgreichste Art auf unserem Planeten? Der Mensch - oder die Ameisen? Darwin nannte die sozialen Insekten mit ihren unfruchtbaren Arbeiterinnen eins der größten Probleme für seine Theorie.
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Nun sind aber Ameisen nicht mein Problem, sondern Menschen, und nicht Ameisengesellschaften, sondern Menschengesellschaften. Ameisen bilden immer wieder die gleichen Gesellschaften, weshalb es auch reicht, eine Königin und ein, zwei Arbeiterinnen zu haben, um ein neues Volk zu gründen. Die Erforschung von Ameisengesellschaften überlasse ich gern der Biologie.
Menschengesellschaften dagegen haben eine Geschichte, sie sind soziale Prozesse, und deren Mechanismen zu erforschen unterscheidet sich schon sehr von denen der Ameisen.
smallie hat folgendes geschrieben: |
Wie kommt nun Religion ins Spiel?
Es wurde schon länger spekuliert, daß Religion eine von mehreren Mechanismen ist, Gruppenzusammenhalt zu erzeugen. Das meiner Meinung nach stärkste Argument geht so: nach der Entwicklung der Landwirtschaft entstanden immer größere soziale Verbände. Städte, Staaten und schließlich multiethnische Imperien. Letzteres fällt ganz grob ins erste Jahrtausaund vor der Zeitrechnung. In diese Zeit fällt auch die Entstehung der ersten Weltreligionen.
Zufall? Oder waren die damals entstanden Religionen eine der Klammern, die es brauchte, um Gruppenzusammenhalt in multiethnischen Gesellschaften zu erzeugen?
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Ja, Religionen können Gruppen und ihre Hierarchien stabilisieren, aber hier sind wir wieder an dem bekannten Problem: "Die" Religionen gibt es nicht. Die Funktion des Glaubens der alten Ägypter für den Pharaonenstaat war eine durchaus andere als die der Gottesvorstellungen zB der Griechen oder Römer. Wenn man die Sache soziologisch betrachtet, geht es auch nicht eigentlich um den jeweiligen Glauben (allein, was "Glauben" in den jeweiligen Gesellschaften bedeutete, wäre eine eigene, seitenlange Betrachtung wert), sondern zB um die Rolle der Priester im Verhältnis zur Landbevölkerung einerseits, und zum jeweiligen Pharao andererseits. So war die Bevölkerung Ägyptens gar nicht "multiethnisch", während die ohne Zweifel multiethnische Bevölkerung des persischen Großkönigreiches über ganz unterschiedliche Religionen verfügte.
Nichts davon findet man übrigens bei Ameisen! Ein Theorie sozialer Prozesse von Menschengesellschaften ist eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe, braucht eine Menge Faktenwissen über historische Abläufe, um zB auch die Frage zu klären, ob diese Abläufe überhaupt strukturiert sind (was immerhin die Voraussetzung für die Suche nach solch einer Theorie ist, wenn eine Theorie überhaupt möglich ist).
_________________ "Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen ... Alles aber ist geworden;
es gibt keine ewigen Tatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten gibt."
Friedrich Nietzsche
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
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(#2038089) Verfasst am: 05.01.2016, 12:29 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | ....
Ja, Religionen können Gruppen und ihre Hierarchien stabilisieren, aber hier sind wir wieder an dem bekannten Problem: "Die" Religionen gibt es nicht. Die Funktion des Glaubens der alten Ägypter für den Pharaonenstaat war eine durchaus andere als die der Gottesvorstellungen zB der Griechen oder Römer. Wenn man die Sache soziologisch betrachtet, geht es auch nicht eigentlich um den jeweiligen Glauben (allein, was "Glauben" in den jeweiligen Gesellschaften bedeutete, wäre eine eigene, seitenlange Betrachtung wert), sondern zB um die Rolle der Priester im Verhältnis zur Landbevölkerung einerseits, und zum jeweiligen Pharao andererseits. So war die Bevölkerung Ägyptens gar nicht "multiethnisch", während die ohne Zweifel multiethnische Bevölkerung des persischen Großkönigreiches über ganz unterschiedliche Religionen verfügte..... |
Warum muss es für diese Betrachtung "die Religion" geben? Hier wird nicht der Inhalt betrachtet, sondern die Funktion. Religion und ihre Regeln (die einzige Ausnahme, die mir einfällt: Buddhismus) sorgt für eine Einteilung der Menschheit in Mitglieder und Auswärtige und ihre Priesterschaft strukturiert und exekutiert die Weitergabe der konstituierenden Mythen, die auch das Regelwerk enthalten. Gemeinsam ausgeführte Riten sorgen für die Einordnung / Unterordnung des Individuums in die religiös definierte Gemeinde. Das letztere ist übrigens ein lange bekanntes Muster in der Ethologie: synchronisiertes Verhalten als bandstiftendes Verhalten schon auf der Ebene der Partnerwahl für die Paarung. Dass man damit auch Kampfverbände formen kann, benutzt die Bundeswehr in der Formalausbildung und eine wunderschöne Vorführung, wie das funktioniert, gab Göbbels mit seiner Sportpalastrede. Religion fördert und nutzt die Gefühle, die stammesgeschichtlich mal dazu in die Lage versetzten, als Gemeinschaft zu handeln.
Den Kabbes mit der genauen Verwandschaft der Götter, Welterklärung und Seelsorge kannst Du für diese Betrachtungsebene einfach vergessen.
_________________ Ich glaube an die Existenz der Welt in der ich lebe.
The skills you use to produce the right answer are exactly the same skills you use to evaluate the answer. Isso.
Es gibt keinen Gott. Also: Jesus war nur ein Bankert und alle Propheten hatten einfach einen an der Waffel (wenn es sie überhaupt gab).
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2038094) Verfasst am: 05.01.2016, 12:55 Titel: |
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fwo hat folgendes geschrieben: |
Warum muss es für diese Betrachtung "die Religion" geben? Hier wird nicht der Inhalt betrachtet, sondern die Funktion. Religion und ihre Regeln (die einzige Ausnahme, die mir einfällt: Buddhismus) sorgt für eine Einteilung der Menschheit in Mitglieder und Auswärtige und ihre Priesterschaft strukturiert und exekutiert die Weitergabe der konstituierenden Mythen, die auch das Regelwerk enthalten. Gemeinsam ausgeführte Riten sorgen für die Einordnung / Unterordnung des Individuums in die religiös definierte Gemeinde. Das letztere ist übrigens ein lange bekanntes Muster in der Ethologie: synchronisiertes Verhalten als bandstiftendes Verhalten schon auf der Ebene der Partnerwahl für die Paarung. Dass man damit auch Kampfverbände formen kann, benutzt die Bundeswehr in der Formalausbildung und eine wunderschöne Vorführung, wie das funktioniert, gab Göbbels mit seiner Sportpalastrede. Religion fördert und nutzt die Gefühle, die stammesgeschichtlich mal dazu in die Lage versetzten, als Gemeinschaft zu handeln.
Den Kabbes mit der genauen Verwandschaft der Götter, Welterklärung und Seelsorge kannst Du für diese Betrachtungsebene einfach vergessen. |
Ja, aber nur, wenn man Fakten für "Kabbes" hält. So ist es für die "Funktion" einer Religion durchaus ein Unterschied, ob man den König für den Sohn des Sonnengottes hält, wie im alten Ägypten, oder zwei Konsuln von der Bürgerschaft gewählt werden, wie im antiken Rom. Die "Gemeinde" war dort auch nicht religiös definiert, sondern sozial, und die Götter eher ferne Grußauguste, denen man seine Referenz erwies, aber mehr auch nicht. Nur wenn man sich über solche "Feinheiten" hinwegsetzt, kommt man zu einer allen Religionen gemeinsamen "Funktion", sonst nicht.
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Friedrich Nietzsche
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
Wohnort: im Speckgürtel
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(#2038104) Verfasst am: 05.01.2016, 14:36 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | fwo hat folgendes geschrieben: |
Warum muss es für diese Betrachtung "die Religion" geben? Hier wird nicht der Inhalt betrachtet, sondern die Funktion. Religion und ihre Regeln (die einzige Ausnahme, die mir einfällt: Buddhismus) sorgt für eine Einteilung der Menschheit in Mitglieder und Auswärtige und ihre Priesterschaft strukturiert und exekutiert die Weitergabe der konstituierenden Mythen, die auch das Regelwerk enthalten. Gemeinsam ausgeführte Riten sorgen für die Einordnung / Unterordnung des Individuums in die religiös definierte Gemeinde. Das letztere ist übrigens ein lange bekanntes Muster in der Ethologie: synchronisiertes Verhalten als bandstiftendes Verhalten schon auf der Ebene der Partnerwahl für die Paarung. Dass man damit auch Kampfverbände formen kann, benutzt die Bundeswehr in der Formalausbildung und eine wunderschöne Vorführung, wie das funktioniert, gab Göbbels mit seiner Sportpalastrede. Religion fördert und nutzt die Gefühle, die stammesgeschichtlich mal dazu in die Lage versetzten, als Gemeinschaft zu handeln.
Den Kabbes mit der genauen Verwandschaft der Götter, Welterklärung und Seelsorge kannst Du für diese Betrachtungsebene einfach vergessen. |
Ja, aber nur, wenn man Fakten für "Kabbes" hält. So ist es für die "Funktion" einer Religion durchaus ein Unterschied, ob man den König für den Sohn des Sonnengottes hält, wie im alten Ägypten, oder zwei Konsuln von der Bürgerschaft gewählt werden, wie im antiken Rom. Die "Gemeinde" war dort auch nicht religiös definiert, sondern sozial, und die Götter eher ferne Grußauguste, denen man seine Referenz erwies, aber mehr auch nicht. Nur wenn man sich über solche "Feinheiten" hinwegsetzt, kommt man zu einer allen Religionen gemeinsamen "Funktion", sonst nicht. |
Sei doch nicht so puristisch.
Die von mir skizzierten Funktionen von Religion kann sie natürlich nur erfüllen, solange sie mit der weltlichen Macht verstrickt ist. Auch wenn Religionen diese Funktion hatten/haben, heißt das nicht, dass sie sie behalten mussten/müssen. Selbst wenn ich im alten Rom von 15% Schriftkundigen ausgehe (die Schätzungen reichen von 15% bis 80%) dann bin ich schon nicht mehr nur bei den Priestern, auch die Gesetze kamen nicht mehr aus dem Klerus, heißt das, dass diese Funktionen zumindest teilweise bereits von andere Institutionen übernommen worden waren. Das ging allerdigs mit dem Christentum auch wieder zurück. Mit der Benutzung der Schrift auch zu anderen als buchhalterischen Zwecken kann man wohl allgemein sagen, dass die Aufgabe der Tradition an die fiel, die auch die Weitergabe der Schrift kontrollierten. Regelmäßig übrigens wieder Priesterschaften.
Das ist auch der Hintergrund, vor dem ich sage, dass die Kirchen und Religionen nicht durch die Wissenschaften, sondern durch die Schulen ersetzt werden. Eine Betrachtung der Art, wie Smallie sie hier vorgestellt hat, sagt nicht, dass nur Religion diese Funktionen besitzt und erfüllt und immer erfüllen wird, sie zeigt nur, dass das ein gutes Modell für die Entstehung der "Ultrasozialitäten" ist.
Ob und inwieweit dann andere Mechanismen gefunden werden, die diese Funktionen erfüllen, ist erstmal kein Widerspruch dazu.
_________________ Ich glaube an die Existenz der Welt in der ich lebe.
The skills you use to produce the right answer are exactly the same skills you use to evaluate the answer. Isso.
Es gibt keinen Gott. Also: Jesus war nur ein Bankert und alle Propheten hatten einfach einen an der Waffel (wenn es sie überhaupt gab).
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2038181) Verfasst am: 05.01.2016, 19:30 Titel: |
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fwo hat folgendes geschrieben: |
Sei doch nicht so puristisch.
Die von mir skizzierten Funktionen von Religion kann sie natürlich nur erfüllen, solange sie mit der weltlichen Macht verstrickt ist. Auch wenn Religionen diese Funktion hatten/haben, heißt das nicht, dass sie sie behalten mussten/müssen. Selbst wenn ich im alten Rom von 15% Schriftkundigen ausgehe (die Schätzungen reichen von 15% bis 80%) dann bin ich schon nicht mehr nur bei den Priestern, auch die Gesetze kamen nicht mehr aus dem Klerus, heißt das, dass diese Funktionen zumindest teilweise bereits von andere Institutionen übernommen worden waren. Das ging allerdigs mit dem Christentum auch wieder zurück. Mit der Benutzung der Schrift auch zu anderen als buchhalterischen Zwecken kann man wohl allgemein sagen, dass die Aufgabe der Tradition an die fiel, die auch die Weitergabe der Schrift kontrollierten. Regelmäßig übrigens wieder Priesterschaften.
Das ist auch der Hintergrund, vor dem ich sage, dass die Kirchen und Religionen nicht durch die Wissenschaften, sondern durch die Schulen ersetzt werden. Eine Betrachtung der Art, wie Smallie sie hier vorgestellt hat, sagt nicht, dass nur Religion diese Funktionen besitzt und erfüllt und immer erfüllen wird, sie zeigt nur, dass das ein gutes Modell für die Entstehung der "Ultrasozialitäten" ist.
Ob und inwieweit dann andere Mechanismen gefunden werden, die diese Funktionen erfüllen, ist erstmal kein Widerspruch dazu. |
Purismus ist auch nicht mein Problem, mich interessieren auch nicht Religionen an sich, sondern die Entwicklungen von Gesellschaften, zB Prozesse von Säkularisierung, wie zB in der griechischen und römischen Antike, sowie der umgekehrte Vorgang der Wiederkehr der Priesterherrschaft mit dem Aufstieg des Christentums.
Wenn ich dann noch einmal auf deine Beschreibung der "Funktion" von Religionen zurückgreifen darf …
fwo hat folgendes geschrieben: |
Warum muss es für diese Betrachtung "die Religion" geben? Hier wird nicht der Inhalt betrachtet, sondern die Funktion. Religion und ihre Regeln (die einzige Ausnahme, die mir einfällt: Buddhismus) sorgt für eine Einteilung der Menschheit in Mitglieder und Auswärtige und ihre Priesterschaft strukturiert und exekutiert die Weitergabe der konstituierenden Mythen, die auch das Regelwerk enthalten. Gemeinsam ausgeführte Riten sorgen für die Einordnung / Unterordnung des Individuums in die religiös definierte Gemeinde. |
… dann stelle ich fest, daß diese Beschreibung sich wesentlich auf die Funktion monotheistischer Religionen bezieht, und da vor allem das Christentum. Das ist zwar aus "abendländischer" Perspektive verständlich, aber erklärt nicht wirklich viel, was man nicht vorher schon zu "wissen" glaubte.
Wenn man dann einen kleinen Schritt zeitlich zurücktritt, stellt man fest (zumindest ist das mein Eindruck), daß Religionen ganz unterschiedliche "Funktionen" haben. Ich habe daher ein erhebliches Mißtrauen gegenüber einem allgemeinen Religionsbegriff überhaupt. Daß das nicht ganz unbegründet ist, sehe ich daran, daß es bis heute keine allgemeinverbindliche Definition von "Religion" gibt, obwohl es nun wirklich versucht wurde!
Wenn in der Praxis von "Religion" gesprochen wird, meint man eigentlich nur zwei, das Christentum und den Islam, und gelegentlich noch das Judentum. Schon zwischen denen sind die Unterschiede erheblich.
Du erwähnst als Ausnahme den Buddhismus. Aber warum nicht auch den Shintoismus, den Hinduismus (der wieder ein Sonderfall ist, weil er sich erst in der Gegenwart zu einer politischen Ideologie zu wandeln beginnt). Ich komme immer wieder zurück auf Wittgenstein und seinen Begriff der "Familienähnlichkeit" (du weißt schon: Vom Opa die Nase, die Ohren von der Tante, alle verwandt, und trotzdem sieht jeder anders aus).
Dann stelle ich fest, daß es eigentlich nicht so sehr um die Religionen selbst geht, sondern um ihre Funktionen in der jeweiligen Gesellschaft. Soweit wären wir uns also noch einig. Aber diese Funktionen sind eben meiner Ansicht nach durchaus unterschiedlich, und so auch ihrer Einfluß auf die jeweilige Gesellschaft.
Deine Beschreibung "… Einteilung der Menschheit in Mitglieder und Auswärtige und ihre Priesterschaft strukturiert und exekutiert die Weitergabe der konstituierenden Mythen, die auch das Regelwerk enthalten. Gemeinsam ausgeführte Riten sorgen für die Einordnung / Unterordnung des Individuums in die religiös definierte Gemeinde." paßt perfekt auf das, was mit dem Judentum unter deren König Josia in die Welt kam, und von Jan Assmann die "mosaischen Unterscheidung" genannt wird, die Unterteilung in die eigene, "wahre" Religion, und die anderen, "falschen", und damit auch die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Außenseitern; im Judentum erst nur auf die Mitglieder eines Volkes angewendet, im Christentum und Islam dann mit allgemeinem Anspruch.
Deine Beschreibung bezieht sich eher auf die, die Assmann "sekundäre Religionen" nennt. Davon unterscheiden sich die anderen, meist älteren Religionen doch erheblich. Wie sich das entwickelt hat, das interessiert mich, denn wie alle anderen sozialen Tatsachen sind auch Religionen nicht vom "Himmel" gefallen.
_________________ "Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen ... Alles aber ist geworden;
es gibt keine ewigen Tatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten gibt."
Friedrich Nietzsche
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
Wohnort: im Speckgürtel
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(#2038190) Verfasst am: 05.01.2016, 20:05 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | ....
Deine Beschreibung "… Einteilung der Menschheit in Mitglieder und Auswärtige und ihre Priesterschaft strukturiert und exekutiert die Weitergabe der konstituierenden Mythen, die auch das Regelwerk enthalten. Gemeinsam ausgeführte Riten sorgen für die Einordnung / Unterordnung des Individuums in die religiös definierte Gemeinde." paßt perfekt auf das, was mit dem Judentum unter deren König Josia in die Welt kam, und von Jan Assmann die "mosaischen Unterscheidung" genannt wird, die Unterteilung in die eigene, "wahre" Religion, und die anderen, "falschen", und damit auch die Unterscheidung zwischen Mitgliedern und Außenseitern; im Judentum erst nur auf die Mitglieder eines Volkes angewendet, im Christentum und Islam dann mit allgemeinem Anspruch.
Deine Beschreibung bezieht sich eher auf die, die Assmann "sekundäre Religionen" nennt. Davon unterscheiden sich die anderen, meist älteren Religionen doch erheblich. Wie sich das entwickelt hat, das interessiert mich, denn wie alle anderen sozialen Tatsachen sind auch Religionen nicht vom "Himmel" gefallen. |
Ich sehe nicht, dass sich das nur auf die "sekundären Religionen" bezieht. Wenn Du statt des einzig wahren Gottes nun ein Pantheon hast, bedeutet das ja nicht, dass da der eine den einen und der andere den anderen Gott anbetet. Du hast zwar verschiedene Priesterschaften mit unterschiedlichen Traditionen, die sich wahrscheinlich auch um ihre Machtansprüche streiten, aber die Aufteilung der Gottesdienste ist eher zeitlich als durch die Bevölkerung, so dass auch die Aufteilung in Insider und Outsider weiterhin funktioniert. Die Götter sind nicht umsonst miteinander verwandt. Die Gemeinschaft wird hier allerdiungs weniger durch ein Glaubensbekenntnis als durch die gemeinsamen Gottesdienste hergestellt. Ich meinte mit Religion das gesamte "spirituelle Gedöns" ab dem Zeitpunkt, ab dem der Animismus durch einen Priester tradiert wird, also feste Form annimmt und damit beginnt, die gesamte Tradition zu strukturieren.
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2038226) Verfasst am: 05.01.2016, 22:25 Titel: |
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fwo hat folgendes geschrieben: |
Ich sehe nicht, dass sich das nur auf die "sekundären Religionen" bezieht. Wenn Du statt des einzig wahren Gottes nun ein Pantheon hast, bedeutet das ja nicht, dass da der eine den einen und der andere den anderen Gott anbetet.
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Doch, das bedeutet es.
fwo hat folgendes geschrieben: |
Du hast zwar verschiedene Priesterschaften mit unterschiedlichen Traditionen, die sich wahrscheinlich auch um ihre Machtansprüche streiten, aber die Aufteilung der Gottesdienste ist eher zeitlich als durch die Bevölkerung, so dass auch die Aufteilung in Insider und Outsider weiterhin funktioniert. Die Götter sind nicht umsonst miteinander verwandt. Die Gemeinschaft wird hier allerdiungs weniger durch ein Glaubensbekenntnis als durch die gemeinsamen Gottesdienste hergestellt.
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Sowas wie "gemeinsame Gottesdienste" gab es selbst im Christentum nicht überall. Daher waren die Kirchen im Osten ursprüglich ziemlich klein, und kannten auch keine großen Glockentürme. Keine regelmäßigen Gottesdienste, kein Glockengebimmel.
Von den polytheistischen Heiden reden wir dabei noch gar nicht. Gemeinschaftsbildend war im antiken Griechenland die Polis, im antiken Rom die Staatsbürgerschaft.
fwo hat folgendes geschrieben: |
Ich meinte mit Religion das gesamte "spirituelle Gedöns" ab dem Zeitpunkt, ab dem der Animismus durch einen Priester tradiert wird, also feste Form annimmt und damit beginnt, die gesamte Tradition zu strukturieren. |
Du bist so nahe dran, und tust es dann als "Gedöns" ab. In manchen Gesellschaften bestimmen die Priester weitgehend die Tradition, in anderen nicht. Was ist der Grund dafür? Du müßtest nach der jeweiligen Rolle der Priester in den einzelnen Gesellschaften fragen, und nach der Bedeutung dieser Rolle. Und dann würden ganz unterschiedliche Bilder entstehen.
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smallie resistent!?
Anmeldungsdatum: 02.04.2010 Beiträge: 3726
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(#2038234) Verfasst am: 05.01.2016, 23:36 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | smallie hat folgendes geschrieben: |
Zu Biologismen und zur Theorie. So stellt sich der Pfad von der biologischen zur sozialen Theorie für mich dar:
Was ist die erfolgreichste Art auf unserem Planeten? Der Mensch - oder die Ameisen? Darwin nannte die sozialen Insekten mit ihren unfruchtbaren Arbeiterinnen eins der größten Probleme für seine Theorie.
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Nun sind aber Ameisen nicht mein Problem, sondern Menschen, und nicht Ameisengesellschaften, sondern Menschengesellschaften. Ameisen bilden immer wieder die gleichen Gesellschaften, weshalb es auch reicht, eine Königin und ein, zwei Arbeiterinnen zu haben, um ein neues Volk zu gründen. Die Erforschung von Ameisengesellschaften überlasse ich gern der Biologie. |
Die Ameisen waren nur der Aufhänger, weil das historisch der Ausgangspunkt war, an dem das allgemeine Prinzip sozialer Lebensweise das erste Mal erkannt wurde. Ich kann ja schlecht behaupten, hinter der biologischen Evolution des Sozialen steckten die gleichen Gesetze wie hinter der kulturellen, wenn ich nichts über die biologische Seite schreibe.
Aber mein Post war noch etwas länger. Spätestens ab "An dieser Stelle entkoppelt sich die Biologie von der Kultur" ging es nicht mehr um Ameisen.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | Menschengesellschaften dagegen haben eine Geschichte, sie sind soziale Prozesse, und deren Mechanismen zu erforschen unterscheidet sich schon sehr von denen der Ameisen. |
Selbstverständlich haben nur Menschen eine kumulative Kultur. Selbstverständlich wird Kultur nicht biologisch vererbt und basiert deshalb auf anderen Mechanismen.
Aber die Mathematik, um das zu beschreiben, ist die gleiche.
Möglicherweise haben wie unterschiedliche Vorstellungen, was "sozial" ist. Für mich ist sozial, wenn Lebewesen kooperieren und darum in Sozialverbänden leben, seien es nun Ameisen, Nacktmulle oder Menschen. Kooperation und Altruismus müssen erklärt werden. Erst wenn man versteht, warum soziales Verhalten überhaupt entsteht - im Gegensatz zu einer Welt des "jeder gegen jeden" -, kommt man über "Inventarwissenschaft" hinaus.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | smallie hat folgendes geschrieben: |
Wie kommt nun Religion ins Spiel?
Es wurde schon länger spekuliert, daß Religion eine von mehreren Mechanismen ist, Gruppenzusammenhalt zu erzeugen. Das meiner Meinung nach stärkste Argument geht so: nach der Entwicklung der Landwirtschaft entstanden immer größere soziale Verbände. Städte, Staaten und schließlich multiethnische Imperien. Letzteres fällt ganz grob ins erste Jahrtausaund vor der Zeitrechnung. In diese Zeit fällt auch die Entstehung der ersten Weltreligionen.
Zufall? Oder waren die damals entstanden Religionen eine der Klammern, die es brauchte, um Gruppenzusammenhalt in multiethnischen Gesellschaften zu erzeugen?
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Ja, Religionen können Gruppen und ihre Hierarchien stabilisieren, aber hier sind wir wieder an dem bekannten Problem: "Die" Religionen gibt es nicht. |
Ich würde auch eher sagen: Was Religion ist, das läßt sich nur durch Aufzählung der unterschiedlichen Typen festlegen.
Wobei: Robert N. Bellah gibt diese Definition von Religion:
Zitat: | Religion ist jedes symbolische System, das Menschen nutzen, um mächtige, allumfassende und dauerhafte Stimmungen und Antriebe zu erzeugen, die im Rahmen einer Idee allgegenwärtiger Ordnung im Dasein sinnhaft sind.
Religion is any system of symbols which, when enacted by human beings, establishes powerful, pervasive, and long-lasting moods and motivations that make sense in terms of an idea of a general order of existence.
http://www.the-american-interest.com/2012/06/10/the-evolution-of-religion/ |
Das finde ich ganz in Ordnung, auch wenn es etwas breit ist.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | [...] während die ohne Zweifel multiethnische Bevölkerung des persischen Großkönigreiches über ganz unterschiedliche Religionen verfügte. |
Ha! Erwischt. Die Behauptung habe ich ungeprüft übernommen, ohne die Quelle gelesen zu haben. Sie soll das aktuelle Standardwerk zum Thema sein:
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | Ein Theorie sozialer Prozesse von Menschengesellschaften ist eine durchaus anspruchsvolle Aufgabe, braucht eine Menge Faktenwissen über historische Abläufe, ... |
Kein Einzelner kann die einschlägige Literatur mehr überblicken. Deshalb wurden Datenbanken wie HRAF (Human Resource Area File) oder HVS (Human Value Survey) geschaffen. Das ist die Datenbasis, um Soziologie etc auf eine harte, wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Dieses Jahr soll es eine Erweiterung geben, die auch historische Gesellschaften beschreibt.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | ... um zB auch die Frage zu klären, ob diese Abläufe überhaupt strukturiert sind (was immerhin die Voraussetzung für die Suche nach solch einer Theorie ist, wenn eine Theorie überhaupt möglich ist). |
Weiter oben hatte ich eine Arbeit zur Entstehung der Monogamie verlinkt. Das scheint mir bereits die gelungene Anwendung einer solchen Theorie zu sein.
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Anmeldungsdatum: 10.10.2010 Beiträge: 3326
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(#2038238) Verfasst am: 06.01.2016, 00:20 Titel: |
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smallie hat folgendes geschrieben: | Selbstverständlich haben nur Menschen eine kumulative Kultur. Selbstverständlich wird Kultur nicht biologisch vererbt und basiert deshalb auf anderen Mechanismen.
Aber die Mathematik, um das zu beschreiben, ist die gleiche. |
Aber ich bin skeptisch, dass in diesem Bereich so etwas wie Gesetze gelten können die in der Praxis anwendbar wären.
Es gibt z.B. Beispiele in denen Vergesellschaftung vorteilhaft und Beispiele in denen Vergeselllschaftung nachteilig war. Angenommen wir könnten alle ursächlichen Variablen hierfür zusammen stellen. Würden wir aber zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidung für oder gegen eine Vergesellschaftung treffen, könnte eine durch gesellschaftliches Handeln neue Variable hinzu gekommen sein, die wir gar nicht berücksichtigen können, da wir sie nicht kannten.
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smallie resistent!?
Anmeldungsdatum: 02.04.2010 Beiträge: 3726
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(#2038348) Verfasst am: 06.01.2016, 18:39 Titel: |
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unquest hat folgendes geschrieben: | smallie hat folgendes geschrieben: | Selbstverständlich haben nur Menschen eine kumulative Kultur. Selbstverständlich wird Kultur nicht biologisch vererbt und basiert deshalb auf anderen Mechanismen.
Aber die Mathematik, um das zu beschreiben, ist die gleiche. |
Aber ich bin skeptisch, dass in diesem Bereich so etwas wie Gesetze gelten können die in der Praxis anwendbar wären. |
Die Skepsis ist berechtigt. Mehr oder weniger, je nach dem, woran du bei "Praxis" denkst.
Vorweg sollte ich kurz sagen, welche Mathematik meiner Ansicht nach für biologische wie für kulturelle Evolution gilt.
Für Evolution braucht es drei Dinge: Abstammung, Veränderung und Selektion. In den sechziger Jahren fand George Price eine Formel, die das mathematisch unter einen Hut brachte:
GLEICHUNG VON PRICE
Die i sind hier beliebige Elemente einer Population.
z sind Eigenschaften dieser Elemente
w ist die Fitness der Elemente
Auf der linken Seite die neu gewichteten Eigenschaften der nächsten Generation, also die Abstammung.
Der erste Term rechts beschreibt natürliche Selektion.
Der zweite Term beschreibt die Variation der Eigenschaften der Elemente.
Ich sage absichtlich Elemente und nicht Individuen oder Gene, denn die Gleichung macht keine Aussage, was die Elemente sind. Es könnten auch die charakteristischen Elemente der oben erwähnten kreationistischen Gesetzesvorschläge sein. Aus der Gleichung läßt sich die oben erwähnte Hamiltonsche Regel ableiten.
Ganz im Sinne von Marcellinus läßt sich damit klären,
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | ... ob diese Abläufe überhaupt strukturiert sind (was immerhin die Voraussetzung für die Suche nach solch einer Theorie ist, wenn eine Theorie überhaupt möglich ist). |
Ein Praxisbeispiel. Nochmal Jürgen Neffe:
Zitat: | Das »survival of the fittest« ist eine Tautologie: Sieger ist, wer gesiegt hat
Hier liegt die Ursache für Darwins blinden Fleck: Er verkennt die Macht der kulturellen Evolution, die sich spätestens mit der Sesshaftwerdung des Menschen über die biologische Evolution zu erheben begann. Anders als seine nächsten Verwandten kann Homo sapiens die verfügbare Nahrungsmenge über ihre natürlichen Grenzen steigern. Ohne Ackerbau und Viehzucht, ohne Züchtung und Lebensmitteltechnologie hätte unsere Art schon die Mitgliederzahl von einer Milliarde zu Darwins Zeiten niemals erreicht.
http://www.zeit.de/2009/02/N-Darwin-Biografie/seite-3 |
Neffe nimmt die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht als gegeben hin. Aber warum sollte ein Jäger-und-Sammler-Volk plötzlich die Mühsal auf sich nehmen und ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts erwerben? Ein einzelner Jäger-und-Sammler hat wenig Nutzen davon, auf Landwirtschaft umzustellen.
Die naheliegende Antwort ist, zwischen den beiden Kulturen findet natürliche Selektion statt. Der höheren Bevölkerungszahl der Landwirte haben die Jäger-und-Sammler bald nichts mehr entgegenzusetzen. Sie werden assimiliert oder aufgerieben. Die Europäer sind im Wesentlichen Nachkommen der Einwanderer aus dem fruchtbaren Halbmond oder meinetwegen dem heutigen Ungarn. Es scheint nicht so gewesen zu sein, daß die Ur-Europäer die Landwirtschaft übernommen hätten.
Jene Kultur, die als erste Landwirtschaft entdeckt, hat einen darwinistischen Überlebensvorteil. Deshalb hat sich Landwirtschaft verbreitet.
In diesem Sinn halte ich das alles für praktisch anwendbar. Du meintest aber höchstwahrscheinlich etwas anderes.
unquest hat folgendes geschrieben: | Es gibt z.B. Beispiele in denen Vergesellschaftung vorteilhaft und Beispiele in denen Vergeselllschaftung nachteilig war. Angenommen wir könnten alle ursächlichen Variablen hierfür zusammen stellen. Würden wir aber zu einem bestimmten Zeitpunkt eine Entscheidung für oder gegen eine Vergesellschaftung treffen, könnte eine durch gesellschaftliches Handeln neue Variable hinzu gekommen sein, die wir gar nicht berücksichtigen können, da wir sie nicht kannten. |
Richtig.
- Erstens sagt die obige Gleichung nur etwas über die anteilige Veränderung bereits bekannter Merkmale in einer Population. Darüber, welche neuen Merkmale möglich sind, sagt sie nichts.
- Zweitens ist die Fitness eines Merkmals nicht konstant. Was nützt dem Wollnashorn sein Pelz in einer Warmzeit? Was nutzt Sichelzellenanämie einem Schwarzen in Nordamerika, wo es keine Malaria gibt. Was nutzt eine Stadtmauer nach der Erfindung der Artillerie?
So gesehen ist deine Skepsis berechtigt.
(Gäbe noch mehr zu sagen, aber das soll erstmal reichen.)
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2038350) Verfasst am: 06.01.2016, 18:47 Titel: |
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smallie hat folgendes geschrieben: |
Neffe nimmt die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht als gegeben hin. Aber warum sollte ein Jäger-und-Sammler-Volk plötzlich die Mühsal auf sich nehmen und ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts erwerben? Ein einzelner Jäger-und-Sammler hat wenig Nutzen davon, auf Landwirtschaft umzustellen.
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Das ist doch nun ganz einfach zu beantworten: Bier! Man braucht den Ackerbau, um Getriede für Bier anzubauen! Und wenn man nicht mehr herumzieht, zäunt man seine Viecher einfach ein: Viehzucht!
Übrigens, auch wenn deine Darstellung etwas anderes nahelegt, Nomaden und Seßhafte haben lange Zeit nebeneinander gelebt, waren sogar wirtschaftlich von einander abhängig. Aber das ist ein anderes Thema. Oder auch nicht. Das Thema heißt: Fakten!
Oder um es mit Benjamin Franklin zu sagen: "One of the greatest tragedies in life is the murder of a beautiful theory by a gang of brutal facts."
_________________ "Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen ... Alles aber ist geworden;
es gibt keine ewigen Tatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten gibt."
Friedrich Nietzsche
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2038353) Verfasst am: 06.01.2016, 19:03 Titel: |
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smallie hat folgendes geschrieben: | Aber warum sollte ein Jäger-und-Sammler-Volk plötzlich die Mühsal auf sich nehmen und ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts erwerben? Ein einzelner Jäger-und-Sammler hat wenig Nutzen davon, auf Landwirtschaft umzustellen.
Die naheliegende Antwort ist, zwischen den beiden Kulturen findet natürliche Selektion statt. Der höheren Bevölkerungszahl der Landwirte haben die Jäger-und-Sammler bald nichts mehr entgegenzusetzen. Sie werden assimiliert oder aufgerieben. Die Europäer sind im Wesentlichen Nachkommen der Einwanderer aus dem fruchtbaren Halbmond oder meinetwegen dem heutigen Ungarn. Es scheint nicht so gewesen zu sein, daß die Ur-Europäer die Landwirtschaft übernommen hätten.
Jene Kultur, die als erste Landwirtschaft entdeckt, hat einen darwinistischen Überlebensvorteil. Deshalb hat sich Landwirtschaft verbreitet.
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Das ist natürlich die völlig falsche Frage! Historisch gesehen ist es einfach passiert. Die Frage ist, warum es sich durchgesetzt hat. Und da kommt dann die Antwort: Weil man pro Fläche viel mehr Menschen ernähren kann, und damit mehr Leute zur Verfügung hat, um die anderen umzubringen. So ist es zum Beispiel den amerikanischen Ureinwohnern ergangen. Nur "natürlich" ist daran nichts. Man muß es auch wollen.
BTW was waren eigentlich die Mongolen für Leute. Die haben fast die halbe Erde beherrscht, das mächtige China unterworfen, fast Europa überrannt. Und das gegen Ackerleute. Es gehört offenbar sehr viel mehr dazu, als eine einfache mathematische Formel.
Da hilft auch Darwin nicht mehr weiter. Die biologische Evolution ist ein strukturierter, aber ungeplanter, ungerichteter Prozeß. Der Prozeß der sozialen Entwicklungen von Menschengesellschaften ist zwar auch ungeplant und ungerichtet, aber die Objekte dieses Prozesses sind Menschen und die Gesellschaften, die sie miteinander bilden. Und diese Menschen machen durchaus Pläne, haben durchaus Absichten und Ziele, entscheiden sich für Kooperation oder Konfrontation. Das Ergebnis ist zwar nicht immer so wie geplan (eigentlich eher selten), aber um es zu verstehen, muß man ihre Absichten zumindest kennen.
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Friedrich Nietzsche
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
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(#2038355) Verfasst am: 06.01.2016, 19:09 Titel: |
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smallie hat folgendes geschrieben: | ....
- Zweitens ist die Fitness eines Merkmals nicht konstant. Was nützt dem Wollnashorn sein Pelz in einer Warmzeit? Was nutzt Sichelzellenanämie einem Schwarzen in Nordamerika, wo es keine Malaria gibt. Was nutzt eine Stadtmauer nach der Erfindung der Artillerie?
.... |
Das trifft nicht zu für die beiden Funktionen, die ich für die Hauptfunktionen der Religion in der Evolution der Kulturen halte: Verstärkung des sozialen Zusammenhaltes und Sicherung der Weitergabe der Wissens.
_________________ Ich glaube an die Existenz der Welt in der ich lebe.
The skills you use to produce the right answer are exactly the same skills you use to evaluate the answer. Isso.
Es gibt keinen Gott. Also: Jesus war nur ein Bankert und alle Propheten hatten einfach einen an der Waffel (wenn es sie überhaupt gab).
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
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(#2038359) Verfasst am: 06.01.2016, 19:24 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | ....
fwo hat folgendes geschrieben: |
Du hast zwar verschiedene Priesterschaften mit unterschiedlichen Traditionen, die sich wahrscheinlich auch um ihre Machtansprüche streiten, aber die Aufteilung der Gottesdienste ist eher zeitlich als durch die Bevölkerung, so dass auch die Aufteilung in Insider und Outsider weiterhin funktioniert. Die Götter sind nicht umsonst miteinander verwandt. Die Gemeinschaft wird hier allerdiungs weniger durch ein Glaubensbekenntnis als durch die gemeinsamen Gottesdienste hergestellt.
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Sowas wie "gemeinsame Gottesdienste" gab es selbst im Christentum nicht überall. Daher waren die Kirchen im Osten ursprüglich ziemlich klein, und kannten auch keine großen Glockentürme. Keine regelmäßigen Gottesdienste, kein Glockengebimmel.
Von den polytheistischen Heiden reden wir dabei noch gar nicht. Gemeinschaftsbildend war im antiken Griechenland die Polis, im antiken Rom die Staatsbürgerschaft.
..... |
Entschuldigung für die miese Wortwahl, die in diesem Fall auch noch auf die christliche Sozialisierung zurückgeht. Meine Antworten sind normalerweise spontan und meine Belesenheit hält sich in Grenzen .
Ich hatte mir unter gemeinsame Gottesdienste aber kein präzise regelmentiertes Religionsleben vorgestellt, wie wir es heute kennen, sondern das anlassbezogene gemeinsame Anrufen der Götter, etwa, wenn man wieder Regen brauchte, oder einen Sieg feierte. Denn das ist das, was viel verlässlicher zu einem Wir-Gefühl führt als der rationale Bezug zur Polis oder zum Staat. Der Mensch ist nicht so vernünftig wie Du ihn da siehst und damals mit Sicherheit noch weniger als heute. Ich habe nicht aus Versehen das Beispiel der Sportpalastrede genommen. Was Göbbels da vorgeführt hat, war kein Appell an die Ratio sondern das Gegenteil: die Überrumpelung jeglicher Ratio durch ein Gefühl der Gemeinsamkeit, durch das Aufgehen des Individuums in der Masse oder im "Volk", im Grunde reine Mystik.
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2038392) Verfasst am: 06.01.2016, 21:49 Titel: |
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Mach dir keinen Kopf. So weit sind wir ja nicht auseinander. Du beschreibst Religionen anhand der …
fwo hat folgendes geschrieben: |
… beiden Funktionen, die ich für die Hauptfunktionen der Religion in der Evolution der Kulturen halte: Verstärkung des sozialen Zusammenhaltes und Sicherung der Weitergabe der Wissens. |
… also die Erzeugung eines Wir-Gefühls und die Bereitstellung von gedanklichen Orientierungsmitteln; und das sind ja auch ohne Zweifel Funktionen, die manche Religionen erfüllen, und die den Priestern, die diese Mittel zur Erzeugung eines Wir-Gefühls und zur gedanklichen Orientierung verwalten, Macht und Einfluß verleihen.
Aber, auch das hattest du in einem älteren Post geschrieben, sie haben kein Monopol auf dieses Mittel. Im antiken Rom wie in den griechischen Poleis waren es die Volksversammlungen, die gemeinsamen Feste und gemeinschaftlichen Kriegszüge, das Feiern der Siege wie das Betrauern der Toten, die die Volksgemeinschaften zusammenschweißten. Du siehst, auch hier wenig "rationaler" Bezug.
Die Weitergabe des Wissens geschah zB im antiken Rom durch die öffentlichen Bibliotheken, die zwar prinzipiell jedem offenstanden, aber nicht selten Teil von Villen reicher Römer waren. Hier hatten die Priester ihr Informationsmonopol längst verloren, und die überwiegende Zahl der Bücher waren säkularer Natur. Das änderte sich erst mit dem Aufkommen des Christentum, unter dessen Ägide fast alle dieser Bibliotheken verschwanden und mit ihnen die weltliche Literatur. Übrig blieben die Klosterbibliotheken mit ihren weit teureren und selteneren Kirchenbüchern.
Mich interessieren die Machtbalancen und deren Verschiebungen hin zu mehr Säkularisierung und wieder zurück zur Priesterherrschaft. Dafür gibt es exemplarische Zeiten in der Menschheitsgeschichte, und die klassische Antike gehört zu ihnen. Aber wie gesagt, weit auseinander sind wir wohl nicht, setzen nur vermutlich andere Schwerpunkte, und dagegen spricht ja auch nichts.
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smallie resistent!?
Anmeldungsdatum: 02.04.2010 Beiträge: 3726
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(#2038945) Verfasst am: 10.01.2016, 21:36 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | smallie hat folgendes geschrieben: |
Neffe nimmt die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht als gegeben hin. Aber warum sollte ein Jäger-und-Sammler-Volk plötzlich die Mühsal auf sich nehmen und ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts erwerben? Ein einzelner Jäger-und-Sammler hat wenig Nutzen davon, auf Landwirtschaft umzustellen.
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Das ist doch nun ganz einfach zu beantworten: Bier! Man braucht den Ackerbau, um Getriede für Bier anzubauen! |
Landwirtschaft wurde mehrmals unabhängig von einander erfunden. Über ein halbes dutzend Mal.
Im Nahen Osten ist Bierbrauen belegt, soviel weiß ich. Wie war es an anderen Orten? Viele Asiaten vertragen Alkohol nicht, das spricht gegen die These.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | Und wenn man nicht mehr herumzieht, zäunt man seine Viecher einfach ein: Viehzucht! |
Hmm? Auch Jäger-und-Sammler können seßhaft sein. Umgekehrt sind gerade in kargen Gegenden Viehzüchter Nomaden, denke ich.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | Übrigens, auch wenn deine Darstellung etwas anderes nahelegt, Nomaden und Seßhafte haben lange Zeit nebeneinander gelebt, waren sogar wirtschaftlich von einander abhängig. |
Das wollte ich eigentlich nicht nahelegen. Ich kann mir gut vorstellen, daß beide eine Weile nebeneinander gelebt haben. Wie lange? Ich tippe auf 2000 Jahre. Viel länger nicht.
Ob das hinkommt, kann ich ohne Nachschlagen nicht sagen.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | Aber das ist ein anderes Thema. Oder auch nicht. Das Thema heißt: Fakten! |
Ja, genau. Zeig doch mal die Fakten, daß Europa vor Ankunft der Ackerbauern von Nomaden bewohnt war. Oder daß Bier immer und überall der Ausgangspunkt für Landwirtschaft war.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | smallie hat folgendes geschrieben: | Aber warum sollte ein Jäger-und-Sammler-Volk plötzlich die Mühsal auf sich nehmen und ihr Brot im Schweiße ihres Angesichts erwerben? Ein einzelner Jäger-und-Sammler hat wenig Nutzen davon, auf Landwirtschaft umzustellen.
Die naheliegende Antwort ist, zwischen den beiden Kulturen findet natürliche Selektion statt. Der höheren Bevölkerungszahl der Landwirte haben die Jäger-und-Sammler bald nichts mehr entgegenzusetzen. Sie werden assimiliert oder aufgerieben. Die Europäer sind im Wesentlichen Nachkommen der Einwanderer aus dem fruchtbaren Halbmond oder meinetwegen dem heutigen Ungarn. Es scheint nicht so gewesen zu sein, daß die Ur-Europäer die Landwirtschaft übernommen hätten.
Jene Kultur, die als erste Landwirtschaft entdeckt, hat einen darwinistischen Überlebensvorteil. Deshalb hat sich Landwirtschaft verbreitet.
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Das ist natürlich die völlig falsche Frage! |
Weiter unten meinst du dann, man müsse die Absichten der Menschen verstehen, um zu einem Ergebnis zu kommen.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | Historisch gesehen ist es einfach passiert. Die Frage ist, warum es sich durchgesetzt hat. Und da kommt dann die Antwort: Weil man pro Fläche viel mehr Menschen ernähren kann, und damit mehr Leute zur Verfügung hat, um die anderen umzubringen. |
Ein klarer Fall von natürlicher Selektion einer kulturellen Eigenschaft.
Vergleiche:
- die Individuen eines Stammes tragen eine genetische Mutation, durch die sie Nahrung doppelt so gut verwerten können als andere.
- die Individuen eines Stammes kennen eine Kulturtechnik, mit der sie doppelt soviel Nahrung erzeugen können.
Kommt doch letztlich auf's gleiche raus?!
Wenn "survival of the fittest" irgendeinen Sinn ergibt, dann sollte es auch auf Kultur anwendbar sein.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | ... um die anderen umzubringen. So ist es zum Beispiel den amerikanischen Ureinwohnern ergangen. Nur "natürlich" ist daran nichts. Man muß es auch wollen. |
Das streift eine sehr interessante Frage. Warum haben die Europäer die Welt kolonialisiert und nicht die Chinesen? Die Chinesen hatten das nötige Handwerkszeug dazu. Sie wollten aber nicht. Warum?
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | BTW was waren eigentlich die Mongolen für Leute. Die haben fast die halbe Erde beherrscht, das mächtige China unterworfen, fast Europa überrannt. Und das gegen Ackerleute. Es gehört offenbar sehr viel mehr dazu, als eine einfache mathematische Formel. |
Berittene Bogenschützen. Mit Steigbügeln.
Die Frage gehört zum Kern dessen, was in der obigen Arbeit von Turchin u.a. untersucht wird. Eine Übersetzung zu liefern, ist mir gerade zu viel Arbeit.
Zitat: | War, space, and the evolution of Old World complex societies
Historically one of the most important factors determining the intensity of Afroeurasian warfare was proximity to grasslands inhabited by horse-riding nomads. Steppe nomads influenced the dynamics of agrarian societies both directly, by eliminating weaker and less cohesive states, and indirectly, by innovating and spreading technologies that intensified warfare — most notably, chariots, horse-riding, and stirrup/heavy cavalry. These innovations were eagerly adopted by agrarian states so that new, intense forms of offensive warfare diffused out from the steppe belt. Our hypothesis, therefore, focuses on the interaction between ecology/geography and the historically attested development of military innovations.
http://www.pnas.org/content/110/41/16384.full.pdf |
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | Es gehört offenbar sehr viel mehr dazu, als eine einfache mathematische Formel. |
Das Beste daran habe ich noch nicht erwähnt: man kann sie in sich selbst einsetzen. In der inneren Gleichung stehen die Merkmale dann für Allele, es folgen in der nächsten Ebene die Individuen und irgendwann dann Zusammenschlüsse von Individuen, Stämme, Gesellschaften, Kultur.
Insofern liefert die Gleichung von Price in einer Zeile einen konzeptionellen Rahmen - Stephen J. Gould braucht in The Structure of Evolutionary Theory 40 Seiten, um das in Worte zu fassen.
Aber du hast natürlich Recht, wenn du bemängelst, daß dies keine mechanistische Erklärung liefert. Bedenke aber, daß es oft mehrere Blickwinkel auf eine Sache gibt. Die Wurfbahn eines Gegenstandes läßt sich mechanistisch mit Newton erklären. Sie läßt sich auch durch das Extremal-Prinzip erklären.
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | Da hilft auch Darwin nicht mehr weiter. Die biologische Evolution ist ein strukturierter, aber ungeplanter, ungerichteter Prozeß. Der Prozeß der sozialen Entwicklungen von Menschengesellschaften ist zwar auch ungeplant und ungerichtet, aber die Objekte dieses Prozesses sind Menschen und die Gesellschaften, die sie miteinander bilden. Und diese Menschen machen durchaus Pläne, haben durchaus Absichten und Ziele, entscheiden sich für Kooperation oder Konfrontation. Das Ergebnis ist zwar nicht immer so wie geplan (eigentlich eher selten), aber um es zu verstehen, muß man ihre Absichten zumindest kennen. |
Die natürliche Selektion ist blind für Absichten. Die urmenschliche Absicht, sich zu besaufen, spielt für die Bewertung der (möglicherweise) daraus entstandenen Getreidezucht keine Rolle. Für die ursächliche, mechanistische Erklärung natürlich schon.
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sehr gut dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 05.08.2007 Beiträge: 14852
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(#2038956) Verfasst am: 10.01.2016, 22:09 Titel: |
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smallie hat folgendes geschrieben: | Das streift eine sehr interessante Frage. Warum haben die Europäer die Welt kolonialisiert und nicht die Chinesen? Die Chinesen hatten das nötige Handwerkszeug dazu. Sie wollten aber nicht. Warum? |
Interessanter Punkt, zumal viele Dynastien über 2000 Jahre viele Mauern gebaut hatten (über 21000km lang, nicht nur die eine bekannte).
( Bild der Mauern )
Die anderen waren Barbaren die man nicht missionieren oder sie und ihr Land sonstwie 'nutzen' wollte(?).
Es 'brauchte' mehrere Kriege u.a. die 2 Opiumkriege der Europäer/GB um in dieses Reich reinzukommen.
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
Wohnort: im Speckgürtel
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(#2038991) Verfasst am: 11.01.2016, 03:59 Titel: |
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smallie hat folgendes geschrieben: | ......
Marcellinus hat folgendes geschrieben: | Da hilft auch Darwin nicht mehr weiter. Die biologische Evolution ist ein strukturierter, aber ungeplanter, ungerichteter Prozeß. Der Prozeß der sozialen Entwicklungen von Menschengesellschaften ist zwar auch ungeplant und ungerichtet, aber die Objekte dieses Prozesses sind Menschen und die Gesellschaften, die sie miteinander bilden. Und diese Menschen machen durchaus Pläne, haben durchaus Absichten und Ziele, entscheiden sich für Kooperation oder Konfrontation. Das Ergebnis ist zwar nicht immer so wie geplan (eigentlich eher selten), aber um es zu verstehen, muß man ihre Absichten zumindest kennen. |
Die natürliche Selektion ist blind für Absichten. Die urmenschliche Absicht, sich zu besaufen, spielt für die Bewertung der (möglicherweise) daraus entstandenen Getreidezucht keine Rolle. Für die ursächliche, mechanistische Erklärung natürlich schon. |
Ich glaube, Marcellinus macht da eine falsche Parallelisierung: Das Individuum besäuft sich zwar gerne, aber um deshalb anzufangen Bier zu brauen, bedarf es sehr viel Wissen, das erstmal angesammelt werden muss, und das angesammelt wird, ohne dass gleichzeitig erkannt wird, dass das Ergebnis zum Rausch führt.
Das planvolle Suchen / Entwickeln von Wissen, das wir heute als Wissenschaft betreiben, und das tatsächlich eine Absiccht kennt, ist etwas ganz Neues in der Menscheit und hilft deshalb kaum beim Verstehen einer kulturellen Evolution. btw: Auch heute noch werden viele wesentliche Erkenntnisse "unabsichtlich" gemacht.
Wissen entsteht zwar bei absichtlichen Handlungen, und heute auch bei Handlungen, die zum Teil mit der Absicht ausgeführt wurden, dieses Wissen zu erlangen - aber wie lange ist das so?
Wir können zwar schon länger absichtlich "Kultur" herstellen, indem wir Bilder malen, Lieder singen, Skulpturen herstellen. Aber sind das die Bestandteile von Kultur, die ihr einen direkten evolutionären Vorteil verschaffen? Einen indirekten evtl, indem sie eine Atmosphäre schaffen, in der auch andere Entdeckungen leichterfallen. Das war aber dann wieder ein unabsichtliches Ergebnis, dem keine Intention zu Grunde lag.
In der Evolution kann die individuelle Intention nur sehr langsam aus der angeborenen Appetenz hervorgegangen sein, und wenn sie die nicht sauber ersetzt hätte, hätte dieser Vorgang auch nicht geklappt. Insofern ist es für die grundsätzliche Dynamik erstmal wurst, ob da ein Wesen mit Intention durch Zufall ein neues Wissen erlangt, mit dem es ein neues Verhalten ausführt, das neue Randbedingungen für der weiteren Entwicklung seiner Population setzt, oder ob da genetisch irgendwo im Code ein Triplett falsch dupliziert wird und sich dadurch das Verhalten ändert und neue Randbedingungen für die Auslese schafft.
Auch machen wir einen Fehler, wenn wir uns den denkenden, planenden Menschen von Beginn an in einer Weise denkend und planend vorstellen, wie wir das heute tun. Wir benutzen eine Sprache als Denkvehikel, die der Container einer Erfahrung ist, die sich über zig-tausende von Jahren angesammelt hat, also nicht gleich in vergleichbarer Weise und für alles einfach benutzbar zur Verfügung gestanden haben kann. Um das am Ackerbau festzumachen: Als die Leute mit diesem Unfug anfingen, waren Gräser für sie etwas, das zu besonderen Zeiten Knubbel hatte, die satt machten. Das Wort für den Samen mit seiner Bedeutung als Saat dürfte noch nicht bekannt gewesen sein. Das Vokabular für den Ackerbau und seine Organisation entstand zum größten Teil mit Sicherheit erst parallel zur Entwicklung dieser Fähigkeit. Man konnte also nicht einfach auf die Idee kommen, das Gras nicht mehr zu suchen, sondern es stattdessen zu säen, weil weder das Vokabular für diesen Denkvorgang da war, noch das Wissen um die Zusammenhänge.
Die Einwände Marcellinus' sind eigentlich erst ab Newton wirklich passend, teilweise schon mal bei den alten Griechen, bei den Römern weiß ich es nicht.
Es gibt noch einen zweiten Grund, weshalb man die Intention bei der Evolution der Kultur nicht so hoch bewerten sollte: Der Träger der Kultur ist nicht das Individuum, sondern eine höhere Einheit die Population, kulturell definiert als Stamm? Staat? Nation? Und in dieser Ebene versetzt der intentionelle erfolgreiche Staatenführer vielleicht seine Population die Rolle eines besonderst starken Vererbers im primitivdarwinistischen Verständnis der Evolution vom Stärksten, der sich durchsetzt und macht die Sache dadurch etwas verwickelter, aber er ändert nicht wirklich was am Prinzip.
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2039012) Verfasst am: 11.01.2016, 12:14 Titel: |
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fwo hat folgendes geschrieben: |
Ich glaube, Marcellinus macht da eine falsche Parallelisierung... |
Vielleicht habe ich mich auch nur undeutlich ausgedrückt . Menschen machen Pläne, haben Absichten und Ziele. Das war vermutlich schon immer so. Manchmal erreichen sie ihr Ziel, nicht selten auch nicht, und oft ist es eine Mischung aus beidem.
Was sich sicher verändert hat, ist die beabsichtigte Reichweite dieser Ziele und Absichten. So gibt es die Vorstellung, daß Gesellschaften insgesamt etwas Planbares seien (und damit die Auseinandersetzung darüber, ob man das will oder nicht, also den Kampf zwischen Progressiven und Konservativen) erst seit dem 17./18. Jh.
Menschen bilden Gesellschaften, und diese Gesellschaften verändern sich, allein schon dadurch, daß Alte wegsterben und Junge geboren werden und heranwachsen. Teil dieser Veränderungen sind die Handlungen, die aus den Absichten und Ziele der beteiligten Menschen folgen. Das Ergebnis, das, was wir heute die Entwicklung von Gesellschaften nennen, entspricht allerdings in der Regel nicht diesen Absichten und Zielen. Man könnte es die unbeabsichtigten Folgen absichtlicher Handlungen nennen.
Diese Diskrepanz ist im Laufe der Jahrhunderte nicht kleiner geworden, eher im Gegenteil, und das, obwohl oder gerade weil Menschen sich heute mehr als früher einreden, die Entwicklung ihrer Gesellschaften planen und steuern zu können.
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
Wohnort: im Speckgürtel
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(#2039044) Verfasst am: 11.01.2016, 14:58 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | fwo hat folgendes geschrieben: |
Ich glaube, Marcellinus macht da eine falsche Parallelisierung... |
Vielleicht habe ich mich auch nur undeutlich ausgedrückt . Menschen machen Pläne, haben Absichten und Ziele. Das war vermutlich schon immer so.... |
Wir reden hier von Evolution, deshalb frage ich nach: Was ist immer? Als Homo sapiens sich vor ca. 200 000 JAhren von Afrika aus aufmachte, die Erde zu erobern, konnte er sprechen. Auch beim Neanderthaler, dessen Linie sich von unserer nach heutiger Meinung vor ca 1 Mio Jahre abspaltete (unabhängig von späteren Genflüssen) geht man heute davon aus, dass er bereits einen Sprache besaß. Vom Beginn einer Sprache in unserem heutigen Sinne geht man aber erst seit ca 100 000 Jahren aus. Die kulturelle Evolution beginnt jedoch breits vor ca 2.5 Mio Jahren mit dem Oldowan, also lange bevor der Mensch das Denkzeug Sprache auch nur ansatzweise besaß, auch wenn sein Hirn - wie das der Schimpansen - die grundsätzliche Fähigkeit zur Symbolverarbeitung bereits hatte. Wir sollten bei der Modellierung der kulturellen Evolution auf sehr lange Zeit davon ausgehen, dass die Fähigkeit Pläne zu machen und Absichten und Ziele zu haben, nicht viel größer war als beim Schimpansen heute.
@smallie: Sorry, dass ich immer dazwischenschieße. Immer noch etwas vorlaut eben.
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2039065) Verfasst am: 11.01.2016, 17:18 Titel: |
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fwo hat folgendes geschrieben: | Als Homo sapiens sich vor ca. 200 000 JAhren von Afrika aus aufmachte, die Erde zu erobern, konnte er sprechen. Auch beim Neanderthaler, dessen Linie sich von unserer nach heutiger Meinung vor ca 1 Mio Jahre abspaltete (unabhängig von späteren Genflüssen) geht man heute davon aus, dass er bereits einen Sprache besaß. Vom Beginn einer Sprache in unserem heutigen Sinne geht man aber erst seit ca 100 000 Jahren aus. |
Wenn Menschen sprechen konnten, hatten sie auch eine Sprache. Wenn sie keine Sprache im heutigen Sinne hatten, konnten sie im heutigen Sinne auch nicht sprechen. Das eine kann sich nicht entwickeln ohne das andere.
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
Wohnort: im Speckgürtel
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(#2039070) Verfasst am: 11.01.2016, 18:00 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | fwo hat folgendes geschrieben: | Als Homo sapiens sich vor ca. 200 000 JAhren von Afrika aus aufmachte, die Erde zu erobern, konnte er sprechen. Auch beim Neanderthaler, dessen Linie sich von unserer nach heutiger Meinung vor ca 1 Mio Jahre abspaltete (unabhängig von späteren Genflüssen) geht man heute davon aus, dass er bereits einen Sprache besaß. Vom Beginn einer Sprache in unserem heutigen Sinne geht man aber erst seit ca 100 000 Jahren aus. |
Wenn Menschen sprechen konnten, hatten sie auch eine Sprache. Wenn sie keine Sprache im heutigen Sinne hatten, konnten sie im heutigen Sinne auch nicht sprechen. Das eine kann sich nicht entwickeln ohne das andere. |
Sprache ist nicht so genau definiert - wir reden unpräzise bei Bienen genauso von Sprache wie bei Schimpansen - Jane Goodall macht bei Ihren Vorträgen regelmäßig eine Begrüßung auf Schimpansisch
Mit "Sprache in unserem heutigen Sinn" meine ich eine erweiterbare Symbolsprache mit Grammatik, über die eine Kommunikation möglich ist, die über das anzeigen der eigenen Gestimmtheit hinausgeht. Wobei man letzteres nicht unterschätzen sollte, weil die Interpretationsfähigkeit des Empfängers stammesgeschichtlich viel füher diffrenzieren konnte als die Kommunikationsfähigkeit des Senders. (Beispiel die verschiednen Warnrufe der Murmeltiere, für deren Existenz ich keine Symbolsprache annehmen muss, es reicht ein unterscheidlicher Ausdruck unterschiedlicher Erregungen, die duch verschiedene Umweltsignale ausgelöst werden). Ohne das jetzt weiter aufzupusseln (Interessierte mit zuviel Zeit bitte hier die Diskussion lesen), kann man aber Folgendes festhalten:
Unsere Sprache war nicht mit einem Schlag da und so zum Denken, Planen und Sabbeln zu gebrauchen, wie wir das heute bei uns erleben. Die Sonderstellung des Menschen, auf die Du Dich bei der Betrachtung der Evolution der Kulturen berufst, existiert noch nicht so lange, und existierte mit Sicherheit noch nicht während der anfänglichen Evolution der Sprache. Sprache und Sprechen/Denken entwickelten sich gleichzeitig und brachten dazu sehr viel Zeit. Ber bereits vor der Sprache, die ja selbst eine Kultur darstellt, gabe es schon kulturelle Evolution.
_________________ Ich glaube an die Existenz der Welt in der ich lebe.
The skills you use to produce the right answer are exactly the same skills you use to evaluate the answer. Isso.
Es gibt keinen Gott. Also: Jesus war nur ein Bankert und alle Propheten hatten einfach einen an der Waffel (wenn es sie überhaupt gab).
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2039079) Verfasst am: 11.01.2016, 19:18 Titel: |
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fwo hat folgendes geschrieben: |
Unsere Sprache war nicht mit einem Schlag da und so zum Denken, Planen und Sabbeln zu gebrauchen, wie wir das heute bei uns erleben. Die Sonderstellung des Menschen, auf die Du Dich bei der Betrachtung der Evolution der Kulturen berufst, existiert noch nicht so lange, und existierte mit Sicherheit noch nicht während der anfänglichen Evolution der Sprache. Sprache und Sprechen/Denken entwickelten sich gleichzeitig und brachten dazu sehr viel Zeit. Ber bereits vor der Sprache, die ja selbst eine Kultur darstellt, gabe es schon kulturelle Evolution. |
Das sind doch Wortspielereien. Der Begriff "Kultur" ist ebenso wenig "eindeutig definiert". Wenn eine Sprache noch nicht unsere Sprache ist, ist eine Kultur noch nicht unsere Kultur. Ich suche nicht nach absoluten Anfängen, und versuche nicht die Welt schwarz-weiß zu sehen. Wenn man den Begriff "Kultur" nur allgemein genug faßt, so allgemein wie den Begriff "Sprache", dann gibt es sicherlich auch außerhalb der Menschen "Kultur", aber eben nicht in dem Maße und Umfang.
Ich denke nicht in entweder-oder, sondern (meistens) in mehr-oder-weniger. Mich interessiert nicht "Kultur" an sich (allein über den Begriff "Kultur" im Unterschied zu "Zivilisation" sind schon Bücher geschrieben worden), sondern mich interessiert die Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Die setzten einen bestimmten Stand der Sprache voraus, und damit einen bestimmten Stand von gesellschaftlich vermittelten sprachlichen Symbolen.
Das passiert nicht plötzlich, das fällt nicht vom Himmel, das hat eine Vorgeschichte, aber alles hat eine Vorgeschichte. Emergenz heißt eben auch, irgendwo anzufangen. Die Sonderstellung der Menschen beruht auf der Einzigartigkeit des Zivilisationsprozesses, dem ihre Gesellschaften ihre Existenz verdanken, nicht darauf, daß Menschen nichts mit anderen Lebewesen gemeinsam hätten.
_________________ "Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen ... Alles aber ist geworden;
es gibt keine ewigen Tatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten gibt."
Friedrich Nietzsche
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
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(#2039108) Verfasst am: 11.01.2016, 21:44 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | ...
Das sind doch Wortspielereien. Der Begriff "Kultur" ist ebenso wenig "eindeutig definiert". Wenn eine Sprache noch nicht unsere Sprache ist, ist eine Kultur noch nicht unsere Kultur. Ich suche nicht nach absoluten Anfängen, und versuche nicht die Welt schwarz-weiß zu sehen. Wenn man den Begriff "Kultur" nur allgemein genug faßt, so allgemein wie den Begriff "Sprache", dann gibt es sicherlich auch außerhalb der Menschen "Kultur", aber eben nicht in dem Maße und Umfang. ... |
Ich benutze hier den Begriff Kultur in dieser Bedeutung:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kultur#Der_Kulturbegriff_in_der_Biologie
Ansonsten geht es mir gerade darum, dass da insgesamt ein Kontinuum vorliegt, in dem die Evolution im Schwerpunkt von einer ursprünglich rein genetischen in eine kulturelle übergeht, und das ohne dass sich die eigentlichen Mechanismen ändern.
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2039109) Verfasst am: 11.01.2016, 22:00 Titel: |
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fwo hat folgendes geschrieben: |
Ich benutze hier den Begriff Kultur in dieser Bedeutung:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kultur#Der_Kulturbegriff_in_der_Biologie
Ansonsten geht es mir gerade darum, dass da insgesamt ein Kontinuum vorliegt, in dem die Evolution im Schwerpunkt von einer ursprünglich rein genetischen in eine kulturelle übergeht, und das ohne dass sich die eigentlichen Mechanismen ändern. |
Na, wenn du die "Mechanismen" schon kennst, weißt du ja schon alles und wir brauchen uns nicht mehr zu unterhalten.
_________________ "Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen ... Alles aber ist geworden;
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
Wohnort: im Speckgürtel
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(#2039111) Verfasst am: 11.01.2016, 22:11 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | fwo hat folgendes geschrieben: |
Ich benutze hier den Begriff Kultur in dieser Bedeutung:
https://de.wikipedia.org/wiki/Kultur#Der_Kulturbegriff_in_der_Biologie
Ansonsten geht es mir gerade darum, dass da insgesamt ein Kontinuum vorliegt, in dem die Evolution im Schwerpunkt von einer ursprünglich rein genetischen in eine kulturelle übergeht, und das ohne dass sich die eigentlichen Mechanismen ändern. |
Na, wenn du die "Mechanismen" schon kennst, weißt du ja schon alles und wir brauchen uns nicht mehr zu unterhalten. |
Die charakteristischen dafür, dass wir das Evolution nennen und damit selben wie bei der genetischen Evolution: Variation und Selektion.
Es ist nur etwas undurchsichtiger, weil horizontaler Transfer zumindest theoretisch viel leichter ist. Da ist es dann schön, wenn Priester drauf achten, dass die Populationsgrenzen nicht (zu häufig) überschritten werden.
Dass es ab der Erfindung der Schrift dann noch einmal unordentlicher wird, will ich aber nicht verschweigen. Das ist dann auch der Bereich, in dem Du kommst.
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Marcellinus Outsider
Anmeldungsdatum: 27.05.2009 Beiträge: 7429
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(#2039116) Verfasst am: 11.01.2016, 22:38 Titel: |
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fwo hat folgendes geschrieben: | Marcellinus hat folgendes geschrieben: |
Na, wenn du die "Mechanismen" schon kennst, weißt du ja schon alles und wir brauchen uns nicht mehr zu unterhalten. |
Die charakteristischen dafür, dass wir das Evolution nennen und damit selben wie bei der genetischen Evolution: Variation und Selektion.
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Diese Welt ist ein Kontinuum. In ihr haben sich chemische Elemente, Sonnensysteme, Planeten, biologische Arten und am Ende Menschen und ihre Gesellschaften gebildet. Alles geht bruchlos ineinander über. Alles mit den gleichen "Mechanismen"? Das glaubst du doch selbst nicht!
Wir haben die physikalische Entwicklung der unbelebten Materie, die biologische Entwicklung der Arten, die wir Evolution nennen, und sie soziale Entwicklung menschlicher Gesellschaften. Jede dieser drei Entwicklungsstufen lassen sich als eigene Ebenen beschreiben, und sie funktionieren nach eigenen Mechanismen.
Kein Physiker würde die Entstehung der Elemente, vom Wasserstoff angefangen, erklären, indem er sagt, sie entstünden durch Variation und Selektion. Das mag man in der Biologie für eine Erklärung halten. Mit der Soziologie ist es ähnlich. Das Gesellschaften sich verändern, ist keine besonders umwerfende Erkenntnis, auch wenn manche Systemtheoretiker das zu vergessen scheinen. WARUM sie sich so und nicht anders entwickeln, DAS ist die entscheidende Frage. Dafür braucht man soziologische Entwicklungsmodelle, und die findet man nicht in der Biologie, weil es da diese Art von Entwicklungen überhaupt nicht gibt.
Mich erinnert das an den Reduktionismus der Physiker, oder besser, von Philosophen, die die physikalischen Wissenschaften für das Rollenmodell der Wissenschaften überhaupt hielten. Auf die Idee, aus physikalischen "Gesetzen" die Entwicklung der biologischen Natur erklären zu wollen, kann man vermutlich nur kommen, wenn man von biologischen Fragestellungen keine Ahnung hat.
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fwo Caterpillar D9
Anmeldungsdatum: 05.02.2008 Beiträge: 26443
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(#2039119) Verfasst am: 11.01.2016, 23:01 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: | ....
Kein Physiker würde die Entstehung der Elemente, vom Wasserstoff angefangen, erklären, indem er sagt, sie entstünden durch Variation und Selektion. Das mag man in der Biologie für eine Erklärung halten. Mit der Soziologie ist es ähnlich. Das Gesellschaften sich verändern, ist keine besonders umwerfende Erkenntnis, auch wenn manche Systemtheoretiker das zu vergessen scheinen. WARUM sie sich so und nicht anders entwickeln, DAS ist die entscheidende Frage. Dafür braucht man soziologische Entwicklungsmodelle, und die findet man nicht in der Biologie, weil es da diese Art von Entwicklungen überhaupt nicht gibt.
Mich erinnert das an den Reduktionismus der Physiker, oder besser, von Philosophen, die die physikalischen Wissenschaften für das Rollenmodell der Wissenschaften überhaupt hielten. Auf die Idee, aus physikalischen "Gesetzen" die Entwicklung der biologischen Natur erklären zu wollen, kann man vermutlich nur kommen, wenn man von biologischen Fragestellungen keine Ahnung hat. |
Es würde allerdings auch kein Physiker von der Evolution des Alls sprechen. EDIT: P.S. na Gut. Ich sehe grad unter diesem Post, dass es mindestens einen Physiker gibt, daer das tut. Ich kenne allerdings dessen Definition von Evolution nicht.
Du benutzt gerade Evolution in einer derart verwässerten Bedeutung, dass ich Dich an diese Stelle verweisen möchte: Da sind wir beide in einer ähnlichen Diskussion und zelig bringt dann auch das Beispiel Weltall. Brauchst auch nicht den ganzen Thread zu lesen, es geht nur um 7 Posts.
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Es gibt keinen Gott. Also: Jesus war nur ein Bankert und alle Propheten hatten einfach einen an der Waffel (wenn es sie überhaupt gab).
Zuletzt bearbeitet von fwo am 11.01.2016, 23:15, insgesamt einmal bearbeitet |
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Klaus-Peter auf eigenen Wunsch deaktiviert
Anmeldungsdatum: 10.01.2004 Beiträge: 1534
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(#2039121) Verfasst am: 11.01.2016, 23:07 Titel: |
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Marcellinus hat folgendes geschrieben: |
Kein Physiker würde die Entstehung der Elemente, vom Wasserstoff angefangen, erklären, indem er sagt, sie entstünden durch Variation und Selektion. |
So generell kannst du das nicht behaupten. Es gibt mindestens einen prominenten Physiker, der der Meinung ist, die Naturgesetze seien in einer Art Evolution entstanden, und seien in einer wichtigen Weise "emergent", also nicht auf tieferliegende Naturgesetze (also auf so etwas wie eine Weltformel) reduzierbar. Robert Laughlin heißt der Mann, ist Nobelpreisträger von 1998 und ein kreativer Querdenker. Hier eine gute Rezension seines Buches "Abschied von der Weltformel".
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