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GWUP: Diskussion um den sogenannten _Wokeismus_
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Tarvoc
would prefer not to.



Anmeldungsdatum: 01.03.2004
Beiträge: 44209

Beitrag(#2305349) Verfasst am: 16.05.2024, 21:39    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Myron hat folgendes geschrieben:
Israel führt einen gerechtfertigten Vergeltungskrieg

Ich hoffe doch sehr, du hast dich da nur aus Versehen vertippt und wolltest eigentlich was anderes schreiben. Ansonsten darfst du mir gerne erklären, in welchem rechtlichen oder ethischen Zusammenhang heuzutage Vergeltung als legitimer Kriegsgrund geführt wird.

Addendum: Übrigens kann natürlich auch eine Kriegspartei, deren Kriegsziele als solche gerechtfertigt sind, bei der Verfolgung dieser Ziele Kriegsverbrechen begehen, die als Massaker bezeichnet werden. Bei Bedarf suche ich gerne historische Beispiele heraus.
(Allerdings ist natürlich zu beachten, dass "Massaker" weder ein Rechtsbegriff noch scharf definiert ist.)

[edit] Noch ein Nachtrag, um das vielleicht etwas abzukürzen:

Myron hat folgendes geschrieben:
Der Völkermord-Vorwurf ist jedenfalls völlig haltlos.

Einverstanden, aber um den Begriff des Völkermords ging es weder in deiner Kritik an dem von Fraser unterzeichneten offenen Brief noch in meiner Nachfrage.
_________________
Geh mir aus der Sonne, Alexander!
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Myron
Metaphysischer Materialist



Anmeldungsdatum: 01.07.2007
Beiträge: 3537

Beitrag(#2305358) Verfasst am: 17.05.2024, 16:23    Titel: Antworten mit Zitat

Interview mit dem neuen GWUP-Vorsitzenden André Sebastiani
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smallie
resistent!?



Anmeldungsdatum: 02.04.2010
Beiträge: 3658

Beitrag(#2305363) Verfasst am: 17.05.2024, 19:11    Titel: Antworten mit Zitat

tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Das sollte man der woken Seite - hier finde ich den Begriff angebracht - immer wieder mal süffisant unter die Nase reiben, daß die US-woken eher anti-israelisch eingestellt sind.

Du beschreibst die Tatsache, dass es innerhalb dessen, was i.d.R. diffamierend als "woke" angegriffen wird, völlig unterschiedliche Ansichten zum Konflikt in Israel/Palästina gibt.

Daraus könnte man jetzt den Schluss ziehen, dass das eben gar keine klar abgrenzbare Gruppe ist, sondern ganz viele verschiedene Gruppen, Grüppchen und Personen sind, die sich mit einer Vielzahl verschiedener Themen beschäftigen und zu diesen Themen denn auch oft unterschiedliche Meinungen haben.

Ja, dein Schluß ist zur Hälfte richtig. Leider habe ich versäumt, Roß und Reiter klar zu nennen. Sorry.

Es sind nicht viele Gruppen, sondern nur zwei. Auf der einen Seite die speziell deutsche Sicht auf das Thema Israel, auf der anderen Seite der Rest der Welt, vielleicht mit Ausnahme der USA.


tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben:
Aber das wäre ja sachlich.

Unsachlich wäre: "Das und das ist falsch, weil es woke ist." Falls ich jemals derartiges schreibe, ruft bitte den Arzt.

Süffisanz, Spott und Häme möchte ich mir aber nicht verkneifen, wenn ich denke sie sei angebracht. Ich habe unten im Text eine überraschende Konstellation untergebracht - möglicherweise wirst du Schmunzeln. Dann wäre meine Süffisanz bei dir angekommen. zwinkern


tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben:
Macht viel mehr Spaß, unverdrossen gegen diese Evidenz weiter so zu tun, als wäre es eben doch eine solche zusammengehörige Gruppe, bei der man einen Teil der angeblichen Gruppe damit ärgern könnte, was ein anderer tut.

Ich kann schon sagen, warum beide Gruppen zusammengehören. Beide Gruppen tun dasselbe. Beide verhindern öffentliche Debatten.

    - In Amsterdam wird Jerry Coyne ausgelanden, bei uns Nancy Fraser. In Deutschland wurde "From the River to the Sea" verboten, auf US-Campusen im Chor gesungen.

    - Dies ohne Wertung, weil ich die Details nicht verfolgt habe: Varoufakis wurde mit Einreiseverbot belegt, es bestand angeblich Gefahr, daß er sich antisemitisch äußert.


Du sagst, wir hätten es "nicht mit klar abgegrenzten Gruppen" zu tun. Beispielhaft einen Einzelaspekt herausgegriffen, der als allgemeines Kriterium dienen kann. Es gab: "LGBTQ for Palestine". Wenn es nennenswerte Anteile von "LGBTQ for Israel" gibt, ziehe ich Teile meiner Behauptungen zurück.

Man kann sich darüber streiten wer recht hat und wer nicht. Ich finde es spannender, über Kriterien zu streiten. Unter welchen Voraussetzung habe ich recht, unter welchen liege ich falsch. Das zwingt mich dazu, über die Grenzen meiner Behauptungen nachzudenken.

Wo siehst du die Grenzen deiner Behauptung? Was müßte eintreten, damit du sagst: "Ich habe mich in Sachen woke geirrt."


tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben:
Wer will sich ein Feindbild schon gern durch die Realität kaputt machen lassen?

Du übersiehst, daß die internationale Stimmung stark anti-israelisch ist. Wenn du sagst, die hätten ein Feindbild, werden die Leute entgegnen, du hättest ein philosemitisches Freundbild.

Wie weit liegen Myron, du, ich im Fall Israel/Hamas auseinander? Nicht all zu sehr, denke ich, besonders im internationalen Vergleich. Wären wir drei an einer US-Uni, uns würde strammer Gegenwind entgegenpfeifen. Schon blöd, daß du ausgerechnet mit uns beiden in eine Feindbildschublade gesteckt wirst.


Soviel dazu. Schmunzelst du jetzt oder ärgerst du dich?

Der Parallelfall Jerry Coyne/Nancy Fraser wäre eine gute Gelegenheit, sich Kriterien zu erarbeiten, wann Absagen, Streichungen, Ausladungen gerechtfertigt sind und wann nicht. Sonst müssen wir beim nächsten Mal wieder von vorne im Klein-klein anfangen. Moment, halt, da war doch was! Solche Kriterien gibt es schon längst, siehe Aufklärung und John Stuart Mill, On Liberty. Schon wieder ein Fall von Geschichtsvergessenheit? Ach, die Leute sind einfach nicht woke genug.

Ich schlage ein neues, gemeinsames Feindbild vor. Mr. Green Bisher war ich gegen cancel culture. Möglicherweise war das ein Fehler?! Wäre doch besser pro cancel culture zu sein und die cancler zu canceln.

Unverschämtheit
_________________
"There are two hard things in computer science: cache invalidation, naming things, and off-by-one errors."
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tillich (epigonal)
hat Spaß



Anmeldungsdatum: 12.04.2006
Beiträge: 21849

Beitrag(#2305645) Verfasst am: 02.06.2024, 13:19    Titel: Antworten mit Zitat

Vorbemerkung: Ich habe das eine Weile liegenlassen. Ich möchte ber die Beleglinks, die ich für einen Teil der Antwort sehr schnell sammeln konnte, nicht vergammeln lassen.
smallie hat folgendes geschrieben:
tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Das sollte man der woken Seite - hier finde ich den Begriff angebracht - immer wieder mal süffisant unter die Nase reiben, daß die US-woken eher anti-israelisch eingestellt sind.

Du beschreibst die Tatsache, dass es innerhalb dessen, was i.d.R. diffamierend als "woke" angegriffen wird, völlig unterschiedliche Ansichten zum Konflikt in Israel/Palästina gibt.

Daraus könnte man jetzt den Schluss ziehen, dass das eben gar keine klar abgrenzbare Gruppe ist, sondern ganz viele verschiedene Gruppen, Grüppchen und Personen sind, die sich mit einer Vielzahl verschiedener Themen beschäftigen und zu diesen Themen denn auch oft unterschiedliche Meinungen haben.

Ja, dein Schluß ist zur Hälfte richtig. Leider habe ich versäumt, Roß und Reiter klar zu nennen. Sorry.

Es sind nicht viele Gruppen, sondern nur zwei. Auf der einen Seite die speziell deutsche Sicht auf das Thema Israel, auf der anderen Seite der Rest der Welt, vielleicht mit Ausnahme der USA.

Nein. Das, was als "woke Seite" konstruiert wird, sind tatsächlich eine Unzahl verschiedener Gruppen, Grüppchen und Einzelpersonen, die sich mit verschiedensten Themen befassen (Rassismus, Frauenrechte, LGBTQ+-Rechte, Rechte anderer Minderheiten, Umweltschutz usw.) und dazu ganz unterschiedliche Meinungen vertreten, im Extremfall (wenn es nicht um das Kernthema der jeweiligen Gruppe geht, wie das Thema Israel bei Klimaschützern) sogar vollkommen gegensätzliche.

Beim Thema Israel sieht man diese unterschiedlichen Meinungen derzeit nur besonders gut. Das könnte man als Realitätscheck für die ganze Konstruktion "woke Seite" nehmen und sie in den Müll schmeißen, wo sie hingehört. Oder man hält am einmal konstruierten Feindbild "woke Seite" wider die Evidenz fest und meint, man könnte einen Teil der angeblichen "woken Seite" damit ärgern, dass ein anderer Teil der angeblichen "woken Seite" zu einem Thema eine andere Meinung hat. Was auf der für Feindbildeinflüsse korrigierten tillichschen Überraschungsskala einen Wert von 0 erreicht.

smallie hat folgendes geschrieben:
Süffisanz, Spott und Häme möchte ich mir aber nicht verkneifen, wenn ich denke sie sei angebracht.

Es ist Süffisanz, Spott und Häme darüber, dass verschiedene Leute, die nur nach deiner Konstruktion zu einer gemeinsamen Gruppe wie der angeblichen "woken Seite" gehören, verschiedene Meinungen haben. Welchen Sinn haben aber Spott, Häme und Süffisanz, die sich nur auf deine Einbildung beziehen?

(Gegen diese Meinung spricht nicht, sondern es bestätigt sie im Gegenteil, wenn innerhalb konkreter Gruppen auf einmal dadurch Risse auftreten, dass es in ihnen zu einem Thema, das nicht ihr eigentliches Thema ist, unterschiedliche Meinungen gibt. Beispiel Klimabewegung und das Thema Israel. Bestätigung, denn Israel ist nun mal nicht das Thema der Klimabewegung, und so ist es geradezu erwartbar, dass es dazu verschiedene Meinungen gibt. Häme und Süffisanz sind unangebracht, denn es widerlegt die Klimabewegung bei ihrem eigentlichen Thema überhaupt nicht.)

smallie hat folgendes geschrieben:
Du sagst, wir hätten es "nicht mit klar abgegrenzten Gruppen" zu tun. Beispielhaft einen Einzelaspekt herausgegriffen, der als allgemeines Kriterium dienen kann. Es gab: "LGBTQ for Palestine". Wenn es nennenswerte Anteile von "LGBTQ for Israel" gibt, ziehe ich Teile meiner Behauptungen zurück.

Danke für das Beispiel. Obwohl ich diesen Post lange aufgeschoben habe, war es sehr leicht, dafür Beispiele zu finden:
- zu den Unterstützern des "No Al-Quds-Tag" gehören - schon lange vor der aktuellen Eskalation - Volker Beck als einer der bekanntesten Protagonisten der LGBTQ-Szene (und jetzt Vorsitzender der deutsch israelischen Gesellschaft!), ein bekanntes schwules Anti-Gewalt-Projekt und der Landesverband des größten Verbandes der LGBTQ-Szene überhaupt.
https://www.no-al-quds-tag.de/
- hier eine kleine queerfeministische Gruppe:
http://queerfem.de/warum-es-uns-bedrueckt-dass-queerfeminist-innen-die-hamas-verharmlosen/
- hier eine passende IG-Seite:
https://www.instagram.com/queers.for.israel/?hl=de

Die "Queers for Palestine"-Clowns werden halt lediglich von Anti-"Woke"-Propagandisten so gerne angeführt, weil es so absurd ist, sich explizit als Queers für das aktuelle Palästina und gegen Israel einzusetzen. Die Mehrheit der Szene weiß aber mE sehr gut, wo LGBTQ-Leute es besser haben.
Sind die Beispiele nennenswert genug?

smallie hat folgendes geschrieben:
Wo siehst du die Grenzen deiner Behauptung? Was müßte eintreten, damit du sagst: "Ich habe mich in Sachen woke geirrt."

Du müsstest mir zeigen, dass es "woke" als auch nur einigermaßen zusammengehörende Bewegung, die man deswegen auch insgesmt kritisieren könnte statt über Einmzelthemen und -gruppen zu sprechen, überhaupt gibt. Viel Glück.

Tatsächlich aber ist das, was "woke" angeblich sein soll, ja schon bei den Gegnern des angeblichen "woken" schon völlig unterschiedlich, je nachdem ob man religiöse Rechte, säkulare Rechte, anti-"woke" TERFs und LGB-Leute, anti-"woke" Skeptiker usw. usw. fragt. Bis dahin, dass die verschiedenen anti-"woke" Propagandisten sich gegenseitig in ihre jeweiligen Konstruktionen, was "woke" sein soll, hineinstecken würden.

smallie hat folgendes geschrieben:
Wie weit liegen Myron, du, ich im Fall Israel/Hamas auseinander? Nicht all zu sehr, denke ich, besonders im internationalen Vergleich. Wären wir drei an einer US-Uni, uns würde strammer Gegenwind entgegenpfeifen. Schon blöd, daß du ausgerechnet mit uns beiden in eine Feindbildschublade gesteckt wirst. [...]
Soviel dazu. Schmunzelst du jetzt oder ärgerst du dich?

Warum sollte das blöd sein? Warum sollte ich entweder schmunzeln oder mich ärgern?

Dass ich mit einigen Leuten bei einem Thema eine ähnliche Meinung habe, bei einem anderen Thema aber eine entgegengesetzte - sprich: dass sich die Menschheit nicht in zwei Gruppen "haben in allem die gleichen Meinung wie ich" und "haben in allem eine andere Meinung als ich" sortieren lasst - ist für mich einfach völlig normal.
That's the whole fucking point, warum das Gerede vom "Wokismus" Unfug ist.
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"YOU HAVE TO START OUT LEARNING TO BELIEVE THE LITTLE LIES." -- "So we can believe the big ones?" -- "YES."

(Death / Susan, in: Pratchett, Hogfather)
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Myron
Metaphysischer Materialist



Anmeldungsdatum: 01.07.2007
Beiträge: 3537

Beitrag(#2305650) Verfasst am: 03.06.2024, 00:53    Titel: Antworten mit Zitat

tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben:
Das, was als "woke Seite" konstruiert wird, sind tatsächlich eine Unzahl verschiedener Gruppen, Grüppchen und Einzelpersonen, die sich mit verschiedensten Themen befassen (Rassismus, Frauenrechte, LGBTQ+-Rechte, Rechte anderer Minderheiten, Umweltschutz usw.) und dazu ganz unterschiedliche Meinungen vertreten, im Extremfall (wenn es nicht um das Kernthema der jeweiligen Gruppe geht, wie das Thema Israel bei Klimaschützern) sogar vollkommen gegensätzliche.

Dass ich mit einigen Leuten bei einem Thema eine ähnliche Meinung habe, bei einem anderen Thema aber eine entgegengesetzte - sprich: dass sich die Menschheit nicht in zwei Gruppen "haben in allem die gleichen Meinung wie ich" und "haben in allem eine andere Meinung als ich" sortieren lasst - ist für mich einfach völlig normal.
That's the whole fucking point, warum das Gerede vom "Wokismus" Unfug ist.


Zu jener "Unzahl verschiedener Gruppen, Grüppchen und Einzelpersonen" gibt es doch keine entsprechende Unzahl verschiedener politischer Ideologien, die sich unter keinerlei gemeinsamen Nenner bringen lassen. Wo du eine zusammenhangslose Vielheit siehst—"Bäume ohne einen Wald"—, sehen andere eine vielteilige Ganzheit—"einen Wald von Bäumen".

Politische Makroideologien wie der Sozialismus sind ein Wald mit vielen (Arten von) Bäumen; aber das bedeutet nicht, dass das "Gerede" vom Sozialismus deshalb "Unfug" ist.

In historischer und ideologischer Hinsicht steht der "Wokeismus" im Kontext der theoretischen und praktischen Entwicklung der (kultur)sozialistischen Linken (insbesondere der akademischen kulturellen Linken) seit dem Ende der 70er/Anfang der 80er.
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tillich (epigonal)
hat Spaß



Anmeldungsdatum: 12.04.2006
Beiträge: 21849

Beitrag(#2305653) Verfasst am: 03.06.2024, 08:30    Titel: Antworten mit Zitat

Myron hat folgendes geschrieben:
tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben:
Das, was als "woke Seite" konstruiert wird, sind tatsächlich eine Unzahl verschiedener Gruppen, Grüppchen und Einzelpersonen, die sich mit verschiedensten Themen befassen (Rassismus, Frauenrechte, LGBTQ+-Rechte, Rechte anderer Minderheiten, Umweltschutz usw.) und dazu ganz unterschiedliche Meinungen vertreten, im Extremfall (wenn es nicht um das Kernthema der jeweiligen Gruppe geht, wie das Thema Israel bei Klimaschützern) sogar vollkommen gegensätzliche.

Dass ich mit einigen Leuten bei einem Thema eine ähnliche Meinung habe, bei einem anderen Thema aber eine entgegengesetzte - sprich: dass sich die Menschheit nicht in zwei Gruppen "haben in allem die gleichen Meinung wie ich" und "haben in allem eine andere Meinung als ich" sortieren lasst - ist für mich einfach völlig normal.
That's the whole fucking point, warum das Gerede vom "Wokismus" Unfug ist.


Zu jener "Unzahl verschiedener Gruppen, Grüppchen und Einzelpersonen" gibt es doch keine entsprechende Unzahl verschiedener politischer Ideologien, die sich unter keinerlei gemeinsamen Nenner bringen lassen. Wo du eine zusammenhangslose Vielheit siehst—"Bäume ohne einen Wald"—, sehen andere eine vielteilige Ganzheit—"einen Wald von Bäumen".

Politische Makroideologien wie der Sozialismus sind ein Wald mit vielen (Arten von) Bäumen; aber das bedeutet nicht, dass das "Gerede" vom Sozialismus deshalb "Unfug" ist.

In historischer und ideologischer Hinsicht steht der "Wokeismus" im Kontext der theoretischen und praktischen Entwicklung der (kultur)sozialistischen Linken (insbesondere der akademischen kulturellen Linken) seit dem Ende der 70er/Anfang der 80er.

Erstens gibt es sehr wohl ziemlich unterschiedliche "Ideologien"/Theorien, die in diesen großen Eintopf mit reingeworfen werden (teils in habebüchener Widersprüchlichkeit, aber den Part überlasse ich lieber tarvoc), und zweitens haben viele dieser Gruppen/ Strömungen/ Bewegungen nicht einmal eine bestimmte, explizite Theorie, auf die sie sich berufen.

Dein Vergleich mit dem Sozialismus erinnert mich aber an besondere Experten, die die SPD für unwählbar erklärten, weil Stalin, weil ist beides Sozialismus. Eine derartige Argumentation sollte eigentlich offenkundiger Unsinn sein, obwohl es da immerhin tatsächlich gemeinsame historische Wurzeln gibt, anders als beim sog. und rein als Feindbild konstruierten "Wokismus".
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(Death / Susan, in: Pratchett, Hogfather)
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Myron
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Anmeldungsdatum: 01.07.2007
Beiträge: 3537

Beitrag(#2305661) Verfasst am: 03.06.2024, 17:17    Titel: Antworten mit Zitat

@tillich:
Ich verweise auf meinen ersten Beitrag in diesem langen Diskussionsstrang und den darin gezogenen Vergleich mit der Neuen Linken der 1960er/70er:

https://freigeisterhaus.de/viewtopic.php?p=2301429#2301429
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Myron
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Anmeldungsdatum: 01.07.2007
Beiträge: 3537

Beitrag(#2305662) Verfasst am: 03.06.2024, 17:43    Titel: Antworten mit Zitat

tillich (epigonal) hat folgendes geschrieben:

Erstens gibt es sehr wohl ziemlich unterschiedliche "Ideologien"/Theorien, die in diesen großen Eintopf mit reingeworfen werden (teils in habebüchener Widersprüchlichkeit, aber den Part überlasse ich lieber tarvoc), und zweitens haben viele dieser Gruppen/ Strömungen/ Bewegungen nicht einmal eine bestimmte, explizite Theorie, auf die sie sich berufen.


Innerhalb der Wachen Linken (der post-70er "Neuen Neuen Linken") finden sich nichtsdestoweniger charakteristische theoretische Einflüsse, deren Quellen u.a. in den akademischen Kulturstudien liegen.
Siehe das Zitat zu The Intellectual Strands of Cultural Studies:

https://freigeisterhaus.de/viewtopic.php?p=2303742#2303742

Fußnote:
In jenem Zitat wird nur die Politics of Difference (Differenzpolitik) erwähnt. Es sollten auch die Politics of Identity (Identitätspolitik) und die Politics of Recognition (Anerkennungspolitik) erwähnt werden.
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Myron
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Anmeldungsdatum: 01.07.2007
Beiträge: 3537

Beitrag(#2305675) Verfasst am: 05.06.2024, 18:58    Titel: Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:

Ich kann schon sagen, warum beide Gruppen zusammengehören. Beide Gruppen tun dasselbe. Beide verhindern öffentliche Debatten.

In Amsterdam wird Jerry Coyne ausgelanden, bei uns Nancy Fraser.


Der Parallelfall Jerry Coyne/Nancy Fraser wäre eine gute Gelegenheit, sich Kriterien zu erarbeiten, wann Absagen, Streichungen, Ausladungen gerechtfertigt sind und wann nicht. Sonst müssen wir beim nächsten Mal wieder von vorne im Klein-klein anfangen. Moment, halt, da war doch was! Solche Kriterien gibt es schon längst, siehe Aufklärung und John Stuart Mill, On Liberty. Schon wieder ein Fall von Geschichtsvergessenheit? Ach, die Leute sind einfach nicht woke genug.

Ich schlage ein neues, gemeinsames Feindbild vor. Mr. Green Bisher war ich gegen cancel culture. Möglicherweise war das ein Fehler?! Wäre doch besser pro cancel culture zu sein und die cancler zu canceln.


Was die Kanzellierung von Coyne & Boudry betrifft, hier ist ein Kommentar der beiden:

https://quillette.com/2024/06/04/damned-in-amsterdam-cancel-culture-deplatforming/

Die abgesagte Diskussion in Amsterdam (mit dem Thema The Ideological Subversion of Science) fand schließlich ohne Publikum statt und ist nun im Netz zu sehen & zu hören:

https://www.youtube.com/watch?v=EThKYWbh0NY

Frasers geplante Vorlesungen wurden übrigens nur deshalb von der Uni Köln kanzelliert, weil sie im Zusammenhang mit der Albertus-Magnus-Ehrenprofessur standen, deren Fraser aufgrund ihrer Unterstützung des besagten extrem antiisraelischen offenen Briefes (Boykottaufruf + Apartheid- & Genozidvorwurf) vonseiten der Universitätsleitung für nicht mehr würdig erachtet wurde. Hätte es sich um bloße Gastvorlesungen gehandelt, wären sie nicht abgesagt worden. (So habe ich es verstanden.)
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Myron
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Anmeldungsdatum: 01.07.2007
Beiträge: 3537

Beitrag(#2305677) Verfasst am: 05.06.2024, 19:29    Titel: Antworten mit Zitat

smallie hat folgendes geschrieben:

Der Parallelfall Jerry Coyne/Nancy Fraser wäre eine gute Gelegenheit, sich Kriterien zu erarbeiten, wann Absagen, Streichungen, Ausladungen gerechtfertigt sind und wann nicht. Sonst müssen wir beim nächsten Mal wieder von vorne im Klein-klein anfangen. Moment, halt, da war doch was! Solche Kriterien gibt es schon längst, siehe Aufklärung und John Stuart Mill, On Liberty. Schon wieder ein Fall von Geschichtsvergessenheit? Ach, die Leute sind einfach nicht woke genug.


Frasers Kanzellierung wurde ganz konkret begründet mit der Unhinnehmbarkeit ihrer Unterstützung eines extrem israelfeindlichen offenen Briefes, worin (1) das Hamas-Massaker relativiert (und damit verharmlost oder gar entschuldigt) wird, (2) Israel des Genozids bezichtigt wird, (3) Israel als Apartheidstaat hingestellt wird, und (4) zu einem akademischen & kulturellen Boykott Israels aufgerufen wird, und (5) mit 4 ausdrücklich die antisemitische BDS-Kampagne unterstützt wird (BDS = Boycott, Divestment and Sanctions).

Die Begründung von BetaBreak (= die Leute, die die beiden eingeladen hatten) von Coyne's & Boudry's Absage lautet dagegen wie folgt:

"[M]any of the members in the committee did not feel comfortable giving Dr. Coyne and Dr. Boudry a platform given their stances on the Palestine/Israel conflict. Another fear is how it would reflect on us as a committee and that we might be blackballed at UvA/AUC."

Quelle: https://quillette.com/2024/06/04/damned-in-amsterdam-cancel-culture-deplatforming/

Hier war der Grund für die Absage also nichts weiter als ein unkonkretes, vages "Gefühl des Unwohlseins" sowie die Angst vor Gegenwind von der Free-Palestine-Seite.
Den Veranstaltern ist die politische Haltung der beiden zum Israel/Palästina-Konflikt also irgendwie zu wenig antiisraelisch bzw. zu wenig propalästinensisch. Eine konkrete Begründung anhand einzelner Äußerungen oder Handlungen Coyne's oder Boudry's gibt es nicht.
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Myron
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Anmeldungsdatum: 01.07.2007
Beiträge: 3537

Beitrag(#2305679) Verfasst am: 05.06.2024, 20:01    Titel: Antworten mit Zitat

Interessanterweise finden sich Judith Butler (2016) und Achille Mbembe (2019) unter den vorherigen Inhabern der Albertus-Magnus-Professor:

Im Jahr 2006, also ganze 10 Jahre vor ihrer Würdigung durch die Uni Köln, sagte Butler öffentlich:

Zitat:
“Yes, understanding Hamas, Hezbollah as social movements that are progressive, that are on the Left, that are part of a global Left, is extremely important. That does not stop us from being critical of certain dimensions of both movements. It doesn’t stop those of us who are interested in non-violent politics from raising the question of whether there are other options besides violence. So again, a critical, important engagement. I mean, I certainly think it should be entered into the conversation on the Left. I similarly think boycotts and divestment procedures are, again, an essential component of any resistance movement.”

Source: https://isgap.org/post/2023/10/judith-butler-and-the-normalization-of-hamas-and-hezbollah-within-progressive-social-movements/


Wie kann der Uni Köln das entgangen sein? Vielleicht ist es ihr nicht entgangen und sie dachte, Butler sei der Albertus-Magnus-Professor nichtsdestotrotz würdig.

Achille Mbembe ist ein postkolonialistischer Theoretiker, dessen Haltung zu Israel und den Juden auch ziemlich "problematisch" ist, gelinde gesagt: https://de.wikipedia.org/wiki/Achille_Mbembe#Antisemitismusdebatte_2020

Wie kann der Uni Köln das entgangen sein? Vielleicht ist es ihr nicht entgangen und sie dachte, Mbembe sei der Albertus-Magnus-Professor nichtsdestotrotz würdig.
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Tarvoc
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Anmeldungsdatum: 01.03.2004
Beiträge: 44209

Beitrag(#2305681) Verfasst am: 05.06.2024, 23:07    Titel: Antworten mit Zitat

Hamas und Hisbollah als Teil der globalen Linken zu klassifizieren ist ja mal ein ungewöhnlich dämlicher Shit Take. Eine derartige Identifikation habe ich bisher noch nicht mal von linken Gruppen oder Individuen gehört, die ansonsten mit der Hamas sympathisieren. Was auch immer Butler sich da für Pillen reingezogen hat, sie sollte auf jeden Fall lieber die Finger von dem Zeug lassen, das muss ein ganz extremes Dreckszeug sein. Pillepalle
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Zuletzt bearbeitet von Tarvoc am 05.06.2024, 23:23, insgesamt einmal bearbeitet
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Myron
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Anmeldungsdatum: 01.07.2007
Beiträge: 3537

Beitrag(#2305682) Verfasst am: 05.06.2024, 23:19    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Hamas und Hisbollah als Teil der globalen Linken zu klassifizieren ist ja mal ein ungewöhnlich dämlicher Shit Take. Eine derartige Identifikation habe ich bisher noch nicht mal von linken Gruppen oder Individuen gehört, die ansonsten mit der Hamas sympathisieren. Was auch immer Butler sich da reingezogen hat, sie sollte auf jeden Fall lieber die Finger von dem Zeug lassen, das muss ein ganz extremes Dreckszeug sein. Pillepalle


Ein Kommentar:

"Getrieben von Selbsthass – die weltrevolutionäre Linke opfert Israel auf dem Altar ihrer Erlösungsutopie

Mit den komplexen Realitäten um Gaza hat der Protestaufruhr in der linken westlichen Akademie nur oberflächlich zu tun. Der jüdische Staat muss herhalten als Inkarnation aller Sünden der Moderne. Und die Hamas ist das einmal mehr neu entdeckte revolutionäre Subjekt.…"


Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/die-westliche-linke-opfert-israel-auf-dem-alter-ihres-selbsthasses-ld.1830766
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Tarvoc
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Anmeldungsdatum: 01.03.2004
Beiträge: 44209

Beitrag(#2305683) Verfasst am: 06.06.2024, 00:34    Titel: Antworten mit Zitat

Leider finde ich den Artikel sehr durchwachsen.

NZZ hat folgendes geschrieben:
Foucault stellte sich vor, dass die islamistische revolutionäre Bewegung nicht in einer ruchlosen Theokratie enden würde, sondern in einer idealen «politischen Spiritualität», die nicht nur im Nahen Osten, sondern in der ganzen Welt einer neuen Form von nichtentfremdeter Politik zur Durchsetzung verhelfen würde.

Seit wann ist eine "authentische politische Spiritualität" ein linkes Anliegen? Am Kopf kratzen

So sehr ich Foucaults Leistungen in manchen Bereichen (z. B. Machttheorie, etc.) auch anerkennen kann, dieses Zitat und seine ganze Position zur iranischen Revolution ist m. E. ein Ausdruck seiner oft übersehenen und ach nie so richtig ausgearbeiteten unterschwellige Faschismusaffinität. Tatsächlich hätte ich aus der Richtung der Foucault-Jüngerschaft (zu der Butler ja auch gehört) eine Einstufung der Hamas als "links" noch am ehesten erwartet - wenn auch nicht gerade von Butler selbst. Aber die Foucaultianer waren in ihren Allianzen immer schon deutlich willkürlicher und offener nach rechts als andere Gruppen. Von denen sind ja auch enorm viele unter die Impfgegner und Coronaleugner gegangen, was sich auch aus Foucaults Kritik der Biomacht durchaus rechtfertigen lässt. Dass dieses Zeug außerhalb seines eigenen Kreises von Jüngern aber nicht wirklich ankam, schreibt der Artikel allerdings auch selbst:

NZZ hat folgendes geschrieben:
Die Tatsache, dass seine Vision moralisch und politisch scheiterte, verfolgte ihn in den letzten Jahren seines Lebens, worüber sein Biograf Didier Eribon schreibt: «Die Kritik und der Sarkasmus, den man Foucaults ‹Fehler› in Bezug auf den Iran zukommen liess, trugen zu seiner Verzweiflung bei . . . Lange Zeit äusserte sich Foucault kaum noch zu Politik oder Journalismus.»


Kleine Korrektur zu Baudrillard:
NZZ hat folgendes geschrieben:
Erneut begegnet uns der Kapitalismus als der teuflische Unhold, gegen den die Terroristen den Aufstand proben, und wieder ist da die Hoffnung auf eine authentische Existenz, welche durch die zwar schmerzhafte, aber auch «unvermeidliche» Arbeit des Massenmords herbeigeführt werden soll.

Der Begriff "Kapitalismus" spielt in Baudrillards Werk, soweit ich es kenne, nur eine sehr untergeordnete Rolle: Das "System", von dem Baudrillard in dem Zitat spricht, ist das System des Simulakrums, also grob vereinfacht ausgedrückt die das ganze gesellschaftliche Leben im Westen durchdringende Macht der modernen Massenmedien. Baudrillard hat zum Thema Ökonomie ganz generell nichts Ernstzunehmendes zu sagen.

Dafür ich aber:

NZZ hat folgendes geschrieben:
Der Übergang von der organischen Grossfamilie oder dem Dorf zur autonomen Individualität, von einer von Mythen und Glaubenssätzen durchdrungenen Welt zu einem entzauberten Universum, in dessen Mittelpunkt die Leistung des Einzelnen und die Ökonomie stehen, schafft jene «Anomie», vor der Émile Durkheim warnte, oder das, was Max Weber am Ende seines Meisterwerks «Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus» als «mechanisierte Versteinerung, mit einer Art von krampfhaftem Sich-wichtig-Nehmen» bezeichnete.

Natürlich kann die NZZ ihren Lesern es nicht ersparen, irgendwo das alte Märchen von der "Leistung des Einzelnen" zu rezitieren. Als wäre "moderne" kapitalistische Ökonomie (und zwar global und nicht nur vom "Westen" ausgehend) nicht ganz im Gegenteil die Aneignung (um mal nicht das böse Wort zu verwenden, das Marx dafür auf Lager hatte) der Leistungen der großen Masse der Gesellschaft durch einige wenige Einzelne. Wobei Zusammenhänge zu Anomie, gesellschaftlicher Versteinerung und Narzissmus natürlich bestehen.

NZZ hat folgendes geschrieben:
Und strebten nicht auch dominante Teile der marxistischen Bewegung, die sich gegen den Liberalismus wandten und eine neue Gesellschaft frei von Entfremdung verhiessen, in Wirklichkeit eine Rückkehr zur vormodernen Stammesgemeinschaft an?

Nein, taten sie nicht. Welche Teile sollen das denn bitte gewesen sein? Vom Marxismus-Leninismus des Ostblocks wollt ihr das ja wohl nicht ernsthaft behaupten, oder? Welche anderen Teile der marxistischen Bewegung wären denn sonst wie und wo "dominant" gewesen?
Ich kaufe dem Autoren ehrlich gesagt nicht einmal ab, dass er den Blödsinn glaubt, den er da schreibt.

Aber gut, ich will ja nicht nur negativ sein:
NZZ hat folgendes geschrieben:
Natürlich ist ein beträchtlicher Teil der Kritik an Israel nicht unbegründet. Israel unterdrückt ein anderes Volk militärisch und zeigt tragischerweise keine Bereitschaft, diese Unterdrückung zu beenden. Aber die Verquickung von Postkolonialismus, Postnationalismus und Antirassismus, wie sie sich in der Feier des «Widerstands» der Hamas im Gazastreifen manifestiert, signalisiert Tieferes als eine begründbare Ablehnung der Einschnürung durch die israelische Armee.

Diese Passage kann ich verbatim genau so unterschreiben (auch hinsichtlich der Analyse, was da signalisiert wird, ich komme gleich dazu).

NZZ hat folgendes geschrieben:
So wie die Absetzung des Schahs für Foucault gemessen an seiner Ablehnung der Moderne vernachlässigbar war oder der fundamentalistische Jihad von al-Kaida bei Baudrillard in seiner Destruktivität von der Bildfläche verschwand, weil es ihm angeblich um die Erreichung einer «irreduziblen Singularität» in einem imaginären Kampf gegen die kapitalistischen Marktkräfte ging, ist die mögliche Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser nur ein Nebenschauplatz in Anbetracht der imaginierten Auslöschung Israels als einer Insel des Westens inmitten des Ostens.

Ich fühle mich an Heidegger (dessen Einfluss auf Foucault zu den dreckigen Geheimnissen des Letzteren gehört) und seine Bagatellisierung des Holocaust im Angesicht der großen "seinsgeschichtlichen" Fragen des "Gestells der Moderne" und der Errichtung des "Gevierts aus Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen" erinnert, die dem "Problem der Moderne" bzw. der modernen Technik entspringt. Hier haben sich original rechte Denkmuster tief in vermeintlich "linkes" Denken eingegraben. Hier stimme ich der Analyse der NZZ zu - und zwar ohne Abstriche, wenn auch mit kleinem Asterisk.

NZZ hat folgendes geschrieben:
Darüber hinaus haftet Israel als ursprünglichem Kern des Westens natürlich auch dessen Erbsünde an: der territoriale und kulturelle Kolonialismus. Israel für seinen angeblichen rassistischen Kolonialismus büssen zu lassen, erscheint nicht nur als ein notwendiger Schritt auf dem langen Marsch zur Gerechtigkeit, sondern schafft für viele Reinigung und Absolution.

(Hervorhebung von mir.) - Hier versucht die NZZ, ihren Kuchen gleichzeitig zu essen und zu behalten. Eben hatte sie noch folgendes geschrieben:
NZZ hat folgendes geschrieben:
Natürlich ist ein beträchtlicher Teil der Kritik an Israel nicht unbegründet. Israel unterdrückt ein anderes Volk militärisch und zeigt tragischerweise keine Bereitschaft, diese Unterdrückung zu beenden.

Ja was nun? Unterdrückt Israel ein ganzes Volk militärisch oder tut es das nur angeblich? Und wenn es das tut, inwiefern ist das kein kultureller und territorialer Kolonialismus?

NZZ hat folgendes geschrieben:
Die Auslöschung Israels als westliche Inkarnation befreit den Westen selbst von seiner vergangenen Schuld. Der Wunsch, Israel zu vernichten, folgt dem Wunsch nach Therapie und Heilung.

Das Problem mit solchen Fern- und Massendiagnosen (gerade im politischen Diskurs) ist, dass sie willkürlich in jede beliebige Richtung verwendet werden können.
Das ist jetzt zwar ein wenig ein Gedankensprung (bear with me!), aber zum Beispiel wird Achille Mbembe für seine Äußerungen - jedenfalls soweit ich das sehen kann - primär von nichtjüdischen Deutschen angegriffen, während eine ganze Reihe jüdischer und israelischer Intellektueller ihn lautstark verteidigt haben:
Wikipedia hat folgendes geschrieben:
Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann verteidigte Mbembe mit der Begründung, man müsse zwischen Antizionismus, Antisemitismus und Israelkritik unterscheiden. [...]

Am 30. April erklärten 37 jüdische und israelische Wissenschaftler und Künstler ihre Solidarität mit Mbembe und forderten, Felix Klein aus seinem Amt abzuberufen.

(Aus dem von Myron selbst weiter oben verlinkten Wikipedia-Artikel zu Achille Mbembe.)
Nach einem ähnlichen Argumentationsmuster wie dem von NZZ verwendeten könnte man also fragen, ob im Fall Mbembe Nachkommen des Volkes der Täter des Holocaust versuchen, ihre eigene mangelnde Aufarbeitung durch einen Angriff auf Dritte zu überspielen und zu kompensieren, während die Nachkommen der Opfer dabei offenbar nicht mehr so einfach mitspielen wollen.
Ich erwähne das hier natürlich nicht, weil ich selbst so argumentieren würde (obwohl ich im Fall Mbembe geneigt bin, seinen jüdischen und israelischen Verteidigern beizupflichten), sondern um auf die Willkürlichkeit solcher Psychologisierungen in politischen Diskursen hinzuweisen (auch in dem Bewusstsein, dass ich darüber selbst nicht immer erhaben bin).

NZZ hat folgendes geschrieben:
Die Gründe für das, was ständig als «Imperialismus» oder «weisse Vorherrschaft» angeprangert wird, sind in Wahrheit subtiler. Es ist die Ablehnung einer ganzen zivilisatorischen Kultur, der Moderne. Wir scheinen uns selbst einfach nicht verzeihen zu können, dass wir modern geworden sind.

Und das hier ist einfach grammatikalisch irreführend. So wie es da steht, besagt der Satz, dass die Ablehnung der zivilisatorischen Kultur der Moderne der Grund für das Angeprangerte sei, also für Imperialismus und weiße Vorherschaft. Der Unsinn so einer Behauptung sowohl insgesamt als auch im Kontext dieses Artikels sollte offensichtlich sein. Was wohl gemeint ist, ist, dass die Ablehnung der Moderne der Grund für das Anprangern dieser Dinge ist. Nur so ergibt der Satz einen verstehbaren Sinn im Kontext der Gesamtargumentation des Artikels. Die Behauptung, eine im reaktionären Sinne antimoderne Einstellung sei der einzige mögliche Grund dafür, warum jemand ein Problem mit Imperialismus und weißer Vorherrschaft haben könnte, ist zwar eine kackdreiste Unterstellung und außerdem selbst zutiefst reaktionär (mal abgesehen davon, dass es kein gutes Licht auf die Moderne werfen würde, wenn sie tatsächlich zuträfe), aber wenigstens ist sie syntaktisch und semantisch ein sinnvoller Satz.
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Beitrag(#2305684) Verfasst am: 06.06.2024, 02:49    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Leider finde ich den Artikel sehr durchwachsen.

Kleine Korrektur zu Baudrillard:
NZZ hat folgendes geschrieben:
Erneut begegnet uns der Kapitalismus als der teuflische Unhold, gegen den die Terroristen den Aufstand proben, und wieder ist da die Hoffnung auf eine authentische Existenz, welche durch die zwar schmerzhafte, aber auch «unvermeidliche» Arbeit des Massenmords herbeigeführt werden soll.

Der Begriff "Kapitalismus" spielt in Baudrillards Werk, soweit ich es kenne, nur eine sehr untergeordnete Rolle: Das "System", von dem Baudrillard in dem Zitat spricht, ist das System des Simulakrums, also grob vereinfacht ausgedrückt die das ganze gesellschaftliche Leben im Westen durchdringende Macht der modernen Massenmedien. Baudrillard hat zum Thema Ökonomie ganz generell nichts Ernstzunehmendes zu sagen.


Siehe: https://de.wikipedia.org/wiki/Jean_Baudrillard#Terrorismus

"Die Islamische Revolution im Iran begrüßte er, sie sei ein Beweis von Lebenskraft."

Ein Interview von 2002: https://www.spiegel.de/kultur/das-ist-der-vierte-weltkrieg-a-7a50f263-0002-0001-0000-000021198171?context=issue

"Baudrillard: Das System selbst in seinem totalen Anspruch hat die objektiven Bedingungen dieses furchtbaren Gegenschlags geschaffen. Der immanente Irrsinn der Globalisierung bringt Wahnsinnige hervor, so wie eine unausgeglichene Gesellschaft Delinquenten und Psychopathen erzeugt. In Wahrheit sind diese aber nur die Symptome des Übels. Der Terrorismus ist überall, wie ein Virus. Er braucht Afghanistan nicht als Heimstatt."

Ich bin kein Baudrillard-Experte, aber mit "Globalisierung" meint er offensichtlich die weltweite Ausbreitung des Kapitalismus, der für Linksextreme nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern ein allumfassendes und alldurchdringendes Gesellschaftssystem ist, worin die moderne liberale Demokratie nichts weiter ist als die unterwürfige Dienerin des Kapitalismus, sodass sie gleichermaßen abgeschafft gehört. Im linksextremen Antiglobalismus vereinigen sich Antikapitalismus und (postkolonialistischer) Antiokzidentalismus, welcher der abendländisch-westlichen Kultur den Kampf angesagt hat.

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Dafür ich aber:

NZZ hat folgendes geschrieben:
Und strebten nicht auch dominante Teile der marxistischen Bewegung, die sich gegen den Liberalismus wandten und eine neue Gesellschaft frei von Entfremdung verhiessen, in Wirklichkeit eine Rückkehr zur vormodernen Stammesgemeinschaft an?

Nein, taten sie nicht. Welche Teile sollen das denn bitte gewesen sein? Vom Marxismus-Leninismus des Ostblocks wollt ihr das ja wohl nicht ernsthaft behaupten, oder? Welche anderen Teile der marxistischen Bewegung wären denn sonst wie und wo "dominant" gewesen?
Ich kaufe dem Autoren ehrlich gesagt nicht einmal ab, dass er den Blödsinn glaubt, den er da schreibt.


Was er schreibt, trifft zumindest auf Anarchokommunisten zu:

Zitat:
"Although Proudhon had warned that communism could only be brought about by an authoritarian state, anarcho-communists such as Kropotkin and Errico Malatesta (1853–1932) argued that true communism requires the abolition of the state. Anarcho-communists admire small, self-managing communities along the lines of the medieval city-state or the peasant commune. Kropotkin envisaged that an anarchic society would consist of a collection of largely self-sufficient communes, each owning its wealth in common."

(Heywood, Andrew. Political Ideologies: An Introduction. 7th ed. London: Red Globe/Macmillan, 2021. p. 116)


Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Aber gut, ich will ja nicht nur negativ sein:
NZZ hat folgendes geschrieben:
Natürlich ist ein beträchtlicher Teil der Kritik an Israel nicht unbegründet. Israel unterdrückt ein anderes Volk militärisch und zeigt tragischerweise keine Bereitschaft, diese Unterdrückung zu beenden. Aber die Verquickung von Postkolonialismus, Postnationalismus und Antirassismus, wie sie sich in der Feier des «Widerstands» der Hamas im Gazastreifen manifestiert, signalisiert Tieferes als eine begründbare Ablehnung der Einschnürung durch die israelische Armee.

Diese Passage kann ich verbatim genau so unterschreiben (auch hinsichtlich der Analyse, was da signalisiert wird, ich komme gleich dazu).


Die israelischen Palästinenser werden nicht unterdrückt. Die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen wird (zumindest seit 2005) in erster Linie von ihren eigenen Führern (einschließlich Hamas) unterdrückt. Im israelisch besetzten Westjordanland stellt die aggressiv-expansive Siedlungspolitik aber eine Form von Unterdrückung dar, die ich missbillige.

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
NZZ hat folgendes geschrieben:
So wie die Absetzung des Schahs für Foucault gemessen an seiner Ablehnung der Moderne vernachlässigbar war oder der fundamentalistische Jihad von al-Kaida bei Baudrillard in seiner Destruktivität von der Bildfläche verschwand, weil es ihm angeblich um die Erreichung einer «irreduziblen Singularität» in einem imaginären Kampf gegen die kapitalistischen Marktkräfte ging, ist die mögliche Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts der Palästinenser nur ein Nebenschauplatz in Anbetracht der imaginierten Auslöschung Israels als einer Insel des Westens inmitten des Ostens.

Ich fühle mich an Heidegger (dessen Einfluss auf Foucault zu den dreckigen Geheimnissen des Letzteren gehört) und seine Bagatellisierung des Holocaust im Angesicht der großen "seinsgeschichtlichen" Fragen des "Gestells der Moderne" und der Errichtung des "Gevierts aus Himmel und Erde, Göttlichen und Sterblichen" erinnert, die dem "Problem der Moderne" bzw. der modernen Technik entspringt. Hier haben sich original rechte Denkmuster tief in vermeintlich "linkes" Denken eingegraben. Hier stimme ich der Analyse der NZZ zu - und zwar ohne Abstriche, wenn auch mit kleinem Asterisk.


Da fällt mir das Hufeisenmodell der politischen Ideologien ein, worin der Abstand zwischen dem Linksextremismus und dem Rechtsextremismus gering ist.

Linke Stalinismus-, Maoismus- oder Islamismusfreunde sind mir allesamt ein Gräuel!

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
NZZ hat folgendes geschrieben:
Darüber hinaus haftet Israel als ursprünglichem Kern des Westens natürlich auch dessen Erbsünde an: der territoriale und kulturelle Kolonialismus. Israel für seinen angeblichen rassistischen Kolonialismus büssen zu lassen, erscheint nicht nur als ein notwendiger Schritt auf dem langen Marsch zur Gerechtigkeit, sondern schafft für viele Reinigung und Absolution.

(Hervorhebung von mir.) - Hier versucht die NZZ, ihren Kuchen gleichzeitig zu essen und zu behalten. Eben hatte sie noch folgendes geschrieben:
NZZ hat folgendes geschrieben:
Natürlich ist ein beträchtlicher Teil der Kritik an Israel nicht unbegründet. Israel unterdrückt ein anderes Volk militärisch und zeigt tragischerweise keine Bereitschaft, diese Unterdrückung zu beenden.

Ja was nun? Unterdrückt Israel ein ganzes Volk militärisch oder tut es das nur angeblich? Und wenn es das tut, inwiefern ist das kein kultureller und territorialer Kolonialismus?


Der Autor bezieht sich oben auf die angebliche kolonialistische Ur- & Erbsünde Israels, die darin besteht, dass dieser Staat 1948 zuungunsten der damaligen arabischen Bevölkerung überhaupt gegründet wurde und immer noch besteht. "Der lange Marsch zur Gerechtigkeit" ist für die postkolonialistischen Linken, die palästinensischen Ultranationalisten und die Islamisten erst dann beendet, wenn Israel nicht mehr existiert und die Juden wieder vertrieben sind.

Die Kritik an der israelischen Politik (insbesondere der Netanyahu-Regierung), der der Autor zustimmt, bezieht sich anscheinend auf die aktuelle Situation (vor allem im Westjordanland, vermute ich).

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
…Das ist jetzt zwar ein wenig ein Gedankensprung (bear with me!), aber zum Beispiel wird Achille Mbembe für seine Äußerungen - jedenfalls soweit ich das sehen kann - primär von nichtjüdischen Deutschen angegriffen, während eine ganze Reihe jüdischer und israelischer Intellektueller ihn lautstark verteidigt haben:
Wikipedia hat folgendes geschrieben:
Der israelische Soziologe Moshe Zuckermann verteidigte Mbembe mit der Begründung, man müsse zwischen Antizionismus, Antisemitismus und Israelkritik unterscheiden. [...]

Am 30. April erklärten 37 jüdische und israelische Wissenschaftler und Künstler ihre Solidarität mit Mbembe und forderten, Felix Klein aus seinem Amt abzuberufen.

(Aus dem von Myron selbst weiter oben verlinkten Wikipedia-Artikel zu Achille Mbembe.)
Nach einem ähnlichen Argumentationsmuster wie dem von NZZ verwendeten könnte man also fragen, ob im Fall Mbembe Nachkommen des Volkes der Täter des Holocaust versuchen, ihre eigene mangelnde Aufarbeitung durch einen Angriff auf Dritte zu überspielen und zu kompensieren, während die Nachkommen der Opfer dabei offenbar nicht mehr so einfach mitspielen wollen.
Ich erwähne das hier natürlich nicht, weil ich selbst so argumentieren würde (obwohl ich im Fall Mbembe geneigt bin, seinen jüdischen und israelischen Verteidigern beizupflichten), sondern um auf die Willkürlichkeit solcher Psychologisierungen in politischen Diskursen hinzuweisen (auch in dem Bewusstsein, dass ich darüber selbst nicht immer erhaben bin).


Zu Mbembe kann ich mich zunächst nicht weiter äußern, weil ich mich mit diesem Mann und seinem Werk noch nicht selbst befasst habe.

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
NZZ hat folgendes geschrieben:
Die Gründe für das, was ständig als «Imperialismus» oder «weisse Vorherrschaft» angeprangert wird, sind in Wahrheit subtiler. Es ist die Ablehnung einer ganzen zivilisatorischen Kultur, der Moderne. Wir scheinen uns selbst einfach nicht verzeihen zu können, dass wir modern geworden sind.

Und das hier ist einfach grammatikalisch irreführend. So wie es da steht, besagt der Satz, dass die Ablehnung der zivilisatorischen Kultur der Moderne der Grund für das Angeprangerte sei, also für Imperialismus und weiße Vorherschaft. Der Unsinn so einer Behauptung sowohl insgesamt als auch im Kontext dieses Artikels sollte offensichtlich sein. Was wohl gemeint ist, ist, dass die Ablehnung der Moderne der Grund für das Anprangern dieser Dinge ist. Nur so ergibt der Satz einen verstehbaren Sinn im Kontext der Gesamtargumentation des Artikels. Die Behauptung, eine im reaktionären Sinne antimoderne Einstellung sei der einzige mögliche Grund dafür, warum jemand ein Problem mit Imperialismus und weißer Vorherrschaft haben könnte, ist zwar eine kackdreiste Unterstellung und außerdem selbst zutiefst reaktionär (mal abgesehen davon, dass es kein gutes Licht auf die Moderne werfen würde, wenn sie tatsächlich zuträfe), aber wenigstens ist sie syntaktisch und semantisch ein sinnvoller Satz.


Der Autor meint sicher nicht, dass alle, die "ein Problem mit Imperialismus und weißer Vorherrschaft haben", reaktionäre Antimodernisten sind. Was er (mit Recht) anprangert, sind die antiokzidentalistischen, de-/postkolonialistischen Umtriebe abendländischer/westlicher/weißer Linksradikaler, die ihre eigenen Kulturen und Nationen verachten und sich über den Untergang des Abendlandes als "Brutstätte des Bösen" (Kapitalismus, Kolonialismus & Co.) freuen würden.
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Beitrag(#2305685) Verfasst am: 06.06.2024, 05:12    Titel: Antworten mit Zitat

Myron hat folgendes geschrieben:
Ich bin kein Baudrillard-Experte, aber mit "Globalisierung" meint er offensichtlich die weltweite Ausbreitung des Kapitalismus, der für Linksextreme nicht nur ein Wirtschaftssystem, sondern ein allumfassendes und alldurchdringendes Gesellschaftssystem ist

Du bist kein Baudrillard-Experte, aber du weißt, was er "offensichtlich" meint. Nur dummerweise ist an Baudrillards Sprache nur sehr wenig bis gar nichts "offensichtlich". Zum Beispiel scheint dir nicht klar zu sein, dass "Gesellschaft" für Baudrillard ein Simulacrum dritter Ordnung ist, also die Simulation einer Simulation, ohne dass ein zugrunde liegender Gegenstand oder dessen Abwesenheit festgestellt werden könnte. Davon abgesehen ist "Globalisierung" weder ein von Linksextremen geprägter, noch auch nur oder hauptsächlich von Linksextremen gebrauchter, noch ein im allgemeinen Sprachgebrauch überhaupt inhaltlich klar bestimmter Begriff. Um eine Kenntnis Baudrillards kommst du also auf keinen Fall herum, wenn du beurteilen willst, was er da "offensichtlich" sagt und was nicht.

Übrigens musst du mich nun wirklich nicht über Linksextremismus belehren. Statt so einen Oberlehrer-Ton anzuschlagen, liefere mir lieber eine Begründung für deine Einstufung von Baudrillard als linksextrem.

Myron hat folgendes geschrieben:
Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Dafür ich aber:

NZZ hat folgendes geschrieben:
Und strebten nicht auch dominante Teile der marxistischen Bewegung, die sich gegen den Liberalismus wandten und eine neue Gesellschaft frei von Entfremdung verhiessen, in Wirklichkeit eine Rückkehr zur vormodernen Stammesgemeinschaft an?

Nein, taten sie nicht. Welche Teile sollen das denn bitte gewesen sein? Vom Marxismus-Leninismus des Ostblocks wollt ihr das ja wohl nicht ernsthaft behaupten, oder? Welche anderen Teile der marxistischen Bewegung wären denn sonst wie und wo "dominant" gewesen?
Ich kaufe dem Autoren ehrlich gesagt nicht einmal ab, dass er den Blödsinn glaubt, den er da schreibt.

Was er schreibt, trifft zumindest auf Anarchokommunisten zu:

Anarchokommunisten sind keine Marxisten, ich würde sogar sagen kategorisch nicht, wie die Auseinandersetzung zwischen Marx und Bakunin meiner Ansicht nach doch recht endgültig klargestellt hat. Um auf deine beiden Beispiele im Besonderen einzugehen: Weder Malatesta noch Kropotkin standen mit Marx auch nur auf gutem Fuß. Aber selbst wenn Anarchokommunisten Marxisten wären, würde ich doch gerne mal erfahren, wann sie jemals im Marxismus dominant gewesen sein sollen.

Du versuchst oben, mich über die Ansichten von "Linksextremen" zu belehren (denen du Baudrillard ulkigerweise zuordnest), hast aber offensichtlich von den verschiedenen Richtungen innerhalb der Linken nicht den geringsten Hauch einer Ahnung.

Myron hat folgendes geschrieben:
Da fällt mir das Hufeisenmodell der politischen Ideologien ein, worin der Abstand zwischen dem Linksextremismus und dem Rechtsextremismus gering ist.

Warum wundert es mich nicht, dass dir zu wirklich jedem Thema garantiert früher oder später auch irgendein Blödsinn einfällt? Du kennst noch nicht mal den Unterschied zwischen Marxismus und Anarchokommunismus, aber meinst, über die Nähe von "Linksextremismus" und "Rechtsextremismus" dozieren zu können. Wenn du unbedingt auf dem Thema herumreiten möchtest (wovon ich dir wie gesagt bei deinem Kenntnisstand abraten würde), können wir aber gerne auch mal über das Fischhakenmodell reden. Das sehe ich nämlich jeden Tag bestätigt, und zwar flächendeckend und alltäglich, wenn man bei Leuten der "bürgerlichen Mitte" nur mal etwas tiefer bohrt. Aber vielleicht konvergiert ja auch einfach das ganze politische Spektrum vollständig in einem einzigen Punkt. Lachen


Zu Israel sage ich jetzt am besten mal nichts mehr, weil ich kein Experte auf dem Gebiet bin und man bei dem Thema zu leicht missverstanden wird. Außerdem bin ich übernächtigt. Ich hasse meine Schlafstörungen.
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Beitrag(#2305686) Verfasst am: 06.06.2024, 05:53    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Myron hat folgendes geschrieben:

Was er schreibt, trifft zumindest auf Anarchokommunisten zu:

Anarchokommunisten sind keine Marxisten, ich würde sogar sagen kategorisch nicht, wie die Auseinandersetzung zwischen Marx und Bakunin meiner Ansicht nach doch recht endgültig klargestellt hat. Um auf deine beiden Beispiele im Besonderen einzugehen: Weder Malatesta noch Kropotkin standen mit Marx auch nur auf gutem Fuß. Aber selbst wenn Anarchokommunisten Marxisten wären, würde ich doch gerne mal erfahren, wann sie jemals im Marxismus dominant gewesen sein sollen.


Ich gebe zu, dass ich die betreffende Stelle unaufmerksam gelesen hatte. Der Autor spricht in der Tat nur von der marxistischen Bewegung und nicht von der kommunistischen Bewegung im Allgemeinen.
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Myron
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Beitrag(#2305687) Verfasst am: 06.06.2024, 06:14    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
…Statt so einen Oberlehrer-Ton anzuschlagen, liefere mir lieber eine Begründung für deine Einstufung von Baudrillard als linksextrem.


Ich habe geschrieben "…für Linksextreme…" und nicht "…für Linksextreme wie Baudrillard…", obgleich ich einräume, dass meine Aussage dies zu unterstellen scheint. Sei's drum!

Baudrillard ist jedenfalls nicht unbeeinflusst vom (Neo-)Marxismus, und besonders interessant ist Folgendes:

Zitat:
"…At this stage of his thought, Baudrillard stood in a French tradition of extolling “primitive” or premodern culture over the abstract rationalism and utilitarianism of modern society. His defense of symbolic exchange over production and instrumental rationality thus stands in the tradition of Rousseau’s defense of the “natural savage” over modern man, Durkheim’s posing mechanical solidarities of premodern societies against the abstract individualism and anomie of modern ones, Bataille’s valorization of expenditure of premodern societies, or Mauss’ or Levi-Strauss’ fascination with the richness of “primitive societies” or “the savage mind.” After deconstructing the modern master thinkers and his own theoretical fathers (Marx, Freud, Saussure, and his French contemporaries) for missing the richness of symbolic exchange, Baudrillard continues to champion the symbolic and radical forms of thought and writing in a quest that takes him into ever more esoteric and exotic discourse."

Quelle: https://plato.stanford.edu/entries/baudrillard/


Zitat:
"…Und strebten nicht auch dominante Teile der marxistischen Bewegung, die sich gegen den Liberalismus wandten und eine neue Gesellschaft frei von Entfremdung verhiessen, in Wirklichkeit eine Rückkehr zur vormodernen Stammesgemeinschaft an? «Der Protest gegen die Abstraktionen der Moderne», schreibt der Soziologe Peter L. Berger, «ist das Herzstück des sozialistischen Ideals.»"

Quelle: https://www.nzz.ch/meinung/die-westliche-linke-opfert-israel-auf-dem-alter-ihres-selbsthasses-ld.1830766
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Tarvoc
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Beitrag(#2305688) Verfasst am: 06.06.2024, 06:27    Titel: Antworten mit Zitat

Myron hat folgendes geschrieben:
Ich gebe zu, dass ich die betreffende Stelle unaufmerksam gelesen hatte. Der Autor spricht in der Tat nur von der marxistischen Bewegung und nicht von der kommunistischen Bewegung im Allgemeinen.

Um dir gegenüber fair zu bleiben, muss ich diesbezüglich zugestehen, dass ich es nicht für ausgeschlossen halte, dass der Autor des Artikels mit der Trennung seiner Begrifflichkeiten sogar noch sorgloser verfährt als du das tatest. zwinkern
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Myron
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Beitrag(#2305689) Verfasst am: 06.06.2024, 06:54    Titel: Antworten mit Zitat

Myron hat folgendes geschrieben:
Tarvoc hat folgendes geschrieben:
…Statt so einen Oberlehrer-Ton anzuschlagen, liefere mir lieber eine Begründung für deine Einstufung von Baudrillard als linksextrem.


Ich habe geschrieben "…für Linksextreme…" und nicht "…für Linksextreme wie Baudrillard…", obgleich ich einräume, dass meine Aussage dies zu unterstellen scheint. Sei's drum!


"Zur Strafe" werde ich folgendes Buch lesen:

* Kellner, Douglas. Jean Baudrillard: From Marxism to Post-modernism and Beyond [PDF]. Stanford, CA: Stanford University Press, 1989.

(Kellner ist auch der Autor des SEP-Artikels über Baudrillard.)
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Beitrag(#2305694) Verfasst am: 06.06.2024, 11:23    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
...Wenn du unbedingt auf dem Thema herumreiten möchtest (wovon ich dir wie gesagt bei deinem Kenntnisstand abraten würde), können wir aber gerne auch mal über das Fischhakenmodell reden. ....

Lachen Lachen Lachen
Das Bild muss ich ablehnen, und zwar einfach, weil das kein Angelhaken mehr ist. Es mag mal einer gewesen sein, er wurde aber bis zur absoluten Untauglichkeit verbogen. Nenn es Drahtschneckenmodell.
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Beitrag(#2305703) Verfasst am: 06.06.2024, 15:38    Titel: Antworten mit Zitat

fwo hat folgendes geschrieben:
Tarvoc hat folgendes geschrieben:
...Wenn du unbedingt auf dem Thema herumreiten möchtest (wovon ich dir wie gesagt bei deinem Kenntnisstand abraten würde), können wir aber gerne auch mal über das Fischhakenmodell reden. ....

Lachen Lachen Lachen Das Bild muss ich ablehnen, und zwar einfach, weil das kein Angelhaken mehr ist. Es mag mal einer gewesen sein, er wurde aber bis zur absoluten Untauglichkeit verbogen. Nenn es Drahtschneckenmodell.

Am Kopf kratzen Ist das sowas ähnliches wie mein Bild der Konvergenz in einem einzigen Punkt? Ansonsten verstehe ich das Bild nicht.
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Beitrag(#2305706) Verfasst am: 06.06.2024, 17:53    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
fwo hat folgendes geschrieben:
Tarvoc hat folgendes geschrieben:
...Wenn du unbedingt auf dem Thema herumreiten möchtest (wovon ich dir wie gesagt bei deinem Kenntnisstand abraten würde), können wir aber gerne auch mal über das Fischhakenmodell reden. ....

Lachen Lachen Lachen Das Bild muss ich ablehnen, und zwar einfach, weil das kein Angelhaken mehr ist. Es mag mal einer gewesen sein, er wurde aber bis zur absoluten Untauglichkeit verbogen. Nenn es Drahtschneckenmodell.

Am Kopf kratzen Ist das sowas ähnliches wie mein Bild der Konvergenz in einem einzigen Punkt? Ansonsten verstehe ich das Bild nicht.

Lachen

Dann versuch damit mal einen Fisch zu fangen. Der wird da draufbeißen und der "Haken" wird ihm locker aus dem Maul gleiten, sobald Zug auf die Leine kommt.
Es gibt für bestimmte Fälle zwar auch Kreisbogenhaken, aber auch bei denen ist nur der vorderste Teil der Spitze in Richtung Schenkel gebogen und die haben einen viel kürzeren Schenkel , weil sie sich sonst nicht selbst einhaken.
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Beitrag(#2305711) Verfasst am: 06.06.2024, 18:40    Titel: Antworten mit Zitat

Ach so, so meinst du das. Sehr glücklich

Der Ausdruck "fish hook theory" ist in Anlehnung an den Internet-Ausdruck "Bait" (z. B. clickbait, ragebait, etc.) entstanden.
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Beitrag(#2305760) Verfasst am: 11.06.2024, 21:32    Titel: Antworten mit Zitat

Tarvoc hat folgendes geschrieben:
Der Ausdruck "fish hook theory" ist in Anlehnung an den Internet-Ausdruck "Bait" (z. B. clickbait, ragebait, etc.) entstanden.

Ist das so? Aus dem von dir verlinkten Artikel geht das nicht hervor (wenn ich nichts übersehen habe), und daher hat fwo ja das Bild.

Insgesamt sind alle solchen Theorien mMn Quatsch und dienen mehr der Denunzierung des politischen Gegners als dem Verständnis der politischen Wirklichkeit, weil es zwischen fast allen politischen Richtungen irgendwelche Berührungspunkte gibt, und welche davon aktualisiert werden, hängt von der Situation und den Akteur:innen ab.

Im Moment bemüht sich ja Sarah Wagenknecht um den Beleg der Hufeisentheorie, während Merz und von der Leyen eher die Angelhaken-Theorie vorantreiben.
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"YOU HAVE TO START OUT LEARNING TO BELIEVE THE LITTLE LIES." -- "So we can believe the big ones?" -- "YES."

(Death / Susan, in: Pratchett, Hogfather)
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