Seien wir lustig, tätä!

[Ralf Rudolfy]

Seien wir lustig, tätä!


»Das ist wohl auch Kultur«, sagt die Frau am Gemüsestand mit schwer überhörbarem Sarkasmus und verdreht die Augen. War noch der Januar ein Aufflackern von Erträglichkeit, schlägt der Februar gleich gnadenlos zu, und schon gleich nachdem die Schokoweihnachtsmänner weggeräumt und zu Osterhasen umgeschmolzen wurden, dräuen an den Supermarktkassen in Gestalt von Luftschlangen und Konfettisäcken die Vorboten kommenden Unheils: Karneval!
Länger als einen Monat hält es die gemeine Nervensäge offenbar nicht aus, sich dessen zu enthalten, mit viel Radau den Rest der Welt auf ihre Existenz aufmerksam und die Straßen mit sich voll zu machen. So erwacht im Februar etwas aus den Winterschlaf, von dem weniger extrovertierte Zeitgenossen sich wünschten, es würde auf ewig schlummern.
Jetzt ist es wieder soweit. Eigentlich ist ja dazu alles Wesentliche schon gesagt, und wenig originell und schon etwas abgegriffen sind die Einwände gegen dieses sinnentleerte Zombie-Ritual – etwa, daß das Ganze mit Spaß, Frohsinn und Lustigkeit rein gar nichts, mit Wichtigtuerei, Selbstbeweihräucherung und Nabelschau um so mehr zu tun hat. Diese Erkenntnis ist nicht neu, aber leider kommt die Gelegenheit, sie wieder einmal zu erwähnen, weit regelmäßiger als die Schneeschmelze. Also haben die Mitglieder der diversen Karnevalsvereine, deren Höhepunkt ihrer Existenz es augenscheinlich ist, Mitglieder von Karnevalsvereinen zu sein, ihre Doofenkappen hervorgeholt, während sich der weibliche Anhand mit kurzen Röckchen und massiven Schminkeinsatz zu sogenannten Tanzmariechen verwandelt. Das Jahr über gehen sie zum Lachen in den Keller, aber nun glauben sie etwas zu müssen, wovon sie sonst glauben, daß sie es nicht dürften: Locker und ausgelassen sein. Und das mißrät ihnen vorhersehbar gründlich. Vernagelte, verkniffene Visagen bleiben vernagelte, verkniffene Visagen, auch wenn über ihnen die Narrenkappe thront – da hilft alle organisierte Lustigkeit nichts.
Gleich nach dem Oberbürgermeister, der sich nicht entblödet, da mitzutun und dabei die Würde seines Amtes für eine Handvoll Konfetti zu Markte trägt, paradiert der Tiefpunkt aller karnevalistischen Existenzen: das Prinzenpaar. Rolf und Marion heißen die Vorzeigefiguren des organisierten Langweilertums, die sich ihre zweifelhafte Prominenz für viel Geld gekauft haben. Einmal im Mittelpunkt stehen, wenn auch als Witzfiguren, lassen sie sich im schwarzem Mercedes durch die Stadt chauffieren, an dessen Türen ihr Wappen geklebt und an dessen Kotflügel eine Standarte montiert ist, und ohne das lächerlich zu finden. Tragische Gestalten, die von diesem vermeintlichen Höhepunkt ihres Lebens dereinst ihren gähnenden Enkeln erzählen werden.
Jeder dieser Karnevalsvereine, derer es in dieser Stadt mehr als zehn gibt, stellt die aktuelle Kampagne unter ein Motto, meistens solche Brüller wie »Wir geben ihrem Frohsinn ein Zuhause« des »Festkomitees Erfurter Karneval«, was sogar stimmt, sofern man bereit ist, ein Gefängnis als Zuhause anzusehen. Politisch-Pseudokritisch gibt sich der ECC, der die diesjährige Saison unter das Motto »Hart(z) ist das Leben« gestellt hat. Um so peinlicher ist dies, als jene, die Geld haben, nicht eben billig ausstaffiert auf Prunksitzungen zu gehen, eben eher nicht von den Folgen der Hartz’schen Sozialreform, auf die sie anspielen, betroffen sein werden. In sogenannten Büttenreden wird dort Aufmüpfigkeit gegen »die da oben« simuliert, mit denen man in Eintracht am gleichen Tisch sitzt und gemeinsam lacht über Witze, die so lustig sind wie das Ausfüllen des ALG II-Antragformulars.
Die humorlose Ernsthaftigkeit des organisierten Frohsinns in ihrer handgreiflichen Form erwischte mich einst, gerade als spröder Norddeutscher zugezogen, gänzlich unvorbereitet. Ich kam vom Einkaufen und latschte in noch morgendlicher Benommenheit über den Fischmarkt. Rechts war vor dem Rathaus eine Bühne, auf der ein Jeck mit Mikrofon sich witzig vorkam, links befand sich eine Ansperrung. Ahnungslos taperte ich in diese hohle Gasse hinein. In Bühnenhöhe angelangt, stürze sofort der Jeck mit dem Mikrofon auf mich los, und wollte mich zur Belustigung des anwesenden Volks aufs Podest zerren. Plötzlich hellwach aufgrund der nahenden Gefahr machte ich eine Neunzig-Grad-Kehre, und schwang mich elegant über die Absperrung. Das fand der Jeck überhaupt nicht komisch. Gar nicht mehr fröhlich, sondern ziemlich sauer zeterte er über Lautsprecher, ich solle gefälligst dableiben und, an die Anwesenden gerichtet, man möge mich festhalten. Allein daß niemand der Aufforderung Folge leistete, dürfte wohl einen Polizeieinsatz vermieden haben.
»Na und – ist doch Tradition!« höre ich verständnisvoll gesinnte Mitmenschen sagen. Ja, stimmt. Tradition ist, wenn viele Menschen das gleiche tun und mehrheitlich keine Ahnung haben, warum sie es tun. Wenn es ihnen Befriedigung verschafft, so mögen sie es tun. Wenn sie jedoch in der Öffentlichkeit einem damit weniger auf die Nerven gehen könnten, würde ich das ebenso begrüßen wie wenn sie nicht ganz so oft die Gelegenheit geben würden, ein Bonmot Albert Einsteins zu zitieren: »Wenn jemand mit Vergnügen zu einer Musik in Reih und Glied marschieren kann, hat er sein Gehirn nur aus Versehen bekommen, da das Rückenmark dafür vollkommen ausreichen würde.«
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Dadurch, daß ein Volk nicht mehr die Kraft oder Willen hat, sich in der Sphäre des Politischen zu halten, verschwindet das Politische nicht aus der Welt. Es verschwindet nur ein schwaches Volk. (Carl Schmitt)

[annox]

Liest sich als ob Du Karneval nicht uebermaessig gern magst.
War das auch eine "Rundfunkansprache" von Dir?
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Ich bin jenes Pferd, das unter der Peitsche der Kutscher den Wagen voller Gesindel hinter sich her ziehen muss.
[Sadegh Hedayat]

[Ralf Rudolfy]

[annox]

[Sanne]

Ich würde gerne mal zum Karneval gehen, wenn ich Zeit hätte.
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Ich will das Internet doch nicht mit meinen Problemen belästigen! (Marge Simpson)

[Zebra]

Vor ein paar Jahren gab es in Berlin seitens der Karnevalisten einen Aufstand, weil sie nicht durchs Brandenburger Tor marschieren durften. Die Berliner seien ja so humorlos...

Nunja, da darf keiner durch. Und Sonderrechte gibt's eben auch nicht für die Jecken

Letztes Jahr hab ich nur im Fernsehen gesehn, wie ein paar einsame Kämpfer im Wedding den Berlinern den Karneval näher bringen wollten - und dafür von ein paar bierseligen Urberliner Proleten so richtig schon ausgelacht wurden

[nocquae]

[Zebra]

[Nuthouse]

Zu Deinem Artikel, Peter:
Sollte er für die breite Masse bestimmt sein, finde ich, daß der witzige Unterton fehlt. Man merkt, daß Du Karneval ätzend findest (ich übrigens auch ), aber dennoch muß man anderen Leuten zugestehen, daß SIE es witzig finden - ich hab übrigens zwei Kölner Bekannte, die sich mit Begeisterung dem Karneval hingeben und durchaus nicht zum Lachen in den Keller gehen (ganzjährig). Das soll aber keine Kritik sein, sondern nur ein Denkanstoß
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The happiest of all lives is a busy solitude

[Nordseekrabbe]

[Nuthouse]

[orwell]

Mir ist ja sonst keine Gelegenheit zum Saufen zu blöd, aber das ist schön krank, da machen ja Schützenfeste fast noch mehr Sinn...
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[...] And so, because of the automated and irrevocable decision making process which rules out human meddling, the doomsday machine is terrifying. It's simple to understand. And completely credible, and convincing.
Dr. Strangelove

Halts Maul!!
orwell

[Heike N.]

[orwell]

[Nuthouse]

Herr Kalkofe sagt zum Thema ALK:

Das ist schon ziemlig ekelig... "Prösterchen!" Das klingt nach Reihenhaussiedlung am Nachmittag, nach dicklichen Dauerwell-Damen mit einer aufgeschraubten Piccolo, einem Zwergpudel in der Achselhöhle und angetrockneter Zitronencremetorte im Mundwinkel. Noch schlimmer ist aber "Stößchen!" Wer das beim Schaumwein-Zuprosten sagt, vielleicht noch mit abgespreizten Fingerchen und dem koketten Lächeln einer naßforschen Chefsekretärin kurz vor der Gehaltserhöhung, dem darf man getrost ein- bis zweimal ohne Vorwarnung in die Fresse hauen ...


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[orwell]

[Nuthouse]

[orwell]

[Reichsbedenkenträger]

[Nuthouse]

[Nuthouse]

Für Orwell: www.luftpiraten.de
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Für Nuthouse: http://www.bei-gertrud.de/fsr_texte.html
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Halts Maul!!
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[Nuthouse]

[Shadaik]

[Nuthouse]

[Nordseekrabbe]

[Nuthouse]

[Leony]

@ Peter Raulfs, zum Eröffnungsbeitrag:
Zustimmung ja, aber nicht das Amüsanteste, was ich zu dem Thema gelesen habe.
Hierüber habe ich mich mehr amüsiert.
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Gruß, Leony (Gott losgeworden vor vielen Jahren )

[Ralf Rudolfy]

[Heike N.]