Freigeisterhaus Foren-Übersicht
 FAQFAQ   SuchenSuchen   MitgliederlisteMitgliederliste   NutzungsbedingungenNutzungsbedingungen   BenutzergruppenBenutzergruppen   LinksLinks   RegistrierenRegistrieren 
 ProfilProfil   Einloggen, um private Nachrichten zu lesenEinloggen, um private Nachrichten zu lesen   LoginLogin 

Von der Erfindung der Kindheit
Gehe zu Seite 1, 2  Weiter
 
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen   Drucker freundliche Ansicht    Freigeisterhaus Foren-Übersicht -> Kultur und Gesellschaft
Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  
Autor Nachricht
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441036) Verfasst am: 30.03.2006, 15:07    Titel: Von der Erfindung der Kindheit Antworten mit Zitat

Die an diesen Beitrag im Thread "Langzeitstillten" anschließende Diskussion wurde als neues Thema abgeteilt - kolja

zelig hat folgendes geschrieben:
Übrigens meine ich mal in einer kulturgeschichtlichen Abhandlung gelesen zu haben, daß Kinder über Jahrhunderte hinweg zumindest im Europäischen Raum keinen Kinderstatus hatten. Man begegnete ihnen mehr oder weniger wie Erwachsenen mit fehlenden Fertigkeiten. Weiß da jemand was drüber?

Du könntest Aries "Geschichte der Kindheit" lesen. In wesentlich kompakterer und leserfreundliche Form (allerdings auch polemischer und mit einer guten Portion Konservatismus und Kulturpessimismus gewürzt) findest du das ganze im ersten Kapitel von Neil Postman "Das Verschwinden der Kindheit".

Gemeint ist damit zum Beispiel, dass keine besonderen Schutzrechte für Kinder formuliert waren. Sie konnten zu jeder Arbeit eingesetzt werden, wenn sie es denn von ihrer Geschicklichkeit oder ihrer Kraft her schafften. Kinder konnten vor Gericht gestellt und genau wie Erwachsene verurteilt werden, sogar zum Tode. Außerdem gab es noch nicht die Vorstellung, dass Kinder bestimmte Dinge (noch) nicht sehen oder erleben sollten, weil dies ihrer Entwicklung abträglich sein könnte. Kinder konnten also z.B. öffentlichen Hinrichtungen beiwohnen oder beim Geschlechtsverkehr ihrer Eltern zusehen, sie erlebten qualvolle Krankheiten, Siechtum und den Tod naher Angehöriger hautnah mit, sahen, wie Menschen verhungerten, erfroren, zusammengeschlagen wurden. Es war auch akzeptabel, wenn Erwachsene die Geschlechtsteile von Kindern berührten, um sich etwa einen Scherz zu erlauben. Ganz allgemein bekam man die Körperfunktionen seiner Mitmenschen viel unmittelbarer mit als das heute üblich ist: Ausspucken, Schneuzen, Niesen, Kacken, Pinkeln, Furzen, Rülpsen und dergleichen mehr.

Eine gängige Interpretation ist, dass die "Erfindung der Kindheit" mit der Alphabetisierung nötig wurde. Bevor der Erwerb der Schriftsprache nötig wurde, konnte man sich alles, was man zum Leben wissen musste, durch Mittun im Alltag aneignen. Im Prinzip konnte man im Alter von 8-10 Jahren alles, was man im Leben wissen musste, zumindest in seinen Grundzügen begriffen haben. Mit zunehmender Komplexität der Kultur reichten diese Formen der Sozialisation nicht mehr aus. Die Kindheit musste künstlich verlängert werden, damit Kinder sich gewisse Fähigkeiten aneigenen konnten, die zum Funktionieren in der Gesellschaft wichtiger wurden. Man könnte sagen, dass dieser Trend sich bis heute Fortsetzt, und dass die Kindheit heute sozusagen bis ins 4. Lebensjahrzehnt reichen kann. So lange brauchen manche, um die Fähigkeiten zu erwerben, mit denen sie arbeiten können, z.B. Ärzte. In modernen Gesellschaften verfügen die meisten Menschen beim Erreichen der Geschlechtsreife allenfalls über gewisse Grundfertigkeiten, die es ihnen ermöglichen, in einigen Jahren Kenntnisse zu erwerben, mit denen sie am sozio-ökonomischen Leben teilnehmen können. Ein 13-jähriger taugt als Arbeitskraft wenig. Vor einigen Jahrhunderten sah das ganz anders aus.

Man muss sich allerdings klar machen, was gemeint ist, wenn man von einer "Erfindung der Kindheit" spricht. Gemeint ist hier nicht die Kindheit als Phase in der biologischen Entwicklung. Die Rede ist vielmehr von Vorstellungen, die sich Menschen darüber machen, wie Menschen in einer bestimmten Entwicklungsphase sind, und wie sie behandelt werden sollten. Wir verstehen heute die Kindheit als eine Phase des Lernens, des Spiels und der Vorbereitung. Wir glauben, dass gewissen Tätigkeiten und Erlebnisse in dieser Phase die Entwicklung des Individuums beinträchtigen können, und dass Kinder deshalb davor zu schützen sind. Unsere Vorstellungen von Angemessenheit hängen mit dem Alter zusammen. Wir erwarten das Erscheinen bestimmter Kompetenzen ab einem bestimmten Alter, z.B. haben wir Vorstellungen darüber, mit wieviel Jahren ein Kind in der Lage sein sollte, zu lesen. Wenn ich sage, dass mein Kind 5 Jahre alt ist, verbinden die meisten Leute damit andere Erwartungen als mit einem 7-jährigen oder einem 10-jährigen. In Kulturen, in denen die Leute keinen Schimmer haben, wie alt sie sind, werden Erwartungen an junge Menschen auf anderer Grundlage ausgebildet.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441044) Verfasst am: 30.03.2006, 15:14    Titel: Antworten mit Zitat

Heike N. hat folgendes geschrieben:
Das für die herzigen Kleinen ist: da wird getrunken und geraucht und schlechtes Karma verbreitet. Das kriegt man nur durch eine Verlängerung des Stillens wieder wett: mindestens fünf Jahre oder bis zum vollendeten 18. Lebensjahr.


@zelig:
Das hier ist ein gutes Beispiel. Vor "der Erfindung der Kindheit" hätte man sich solche Gedanken nicht gemacht.

Link zum Ursprungsthread eingefügt - kolja
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
zelig
Kultürlich



Anmeldungsdatum: 31.03.2004
Beiträge: 25405

Beitrag(#441139) Verfasst am: 30.03.2006, 16:10    Titel: Antworten mit Zitat

@Wygotsky
Danke für die ausführliche Antwort. So ähnlich, jedoch ohne diesen Detailreichtum hatte ich das in Erinnerung. Wie verhält es sich mit der Roheit im Umgang mit Kindern? Gibt es nicht Kulturen, die noch nicht alphabetisiert sind, und in denen dennoch ein zärtlicher, fürsorglicher Umgang mit Kindern gepflegt wird. (Ich bin kein Anhänger der These vom "edlen Wilden".) War nicht gerade während der Industrialisierung Kinderarbeit weit verbreitet?
_________________
Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Shevek
ohne jeglichen Respekt vor Autoritäten



Anmeldungsdatum: 23.01.2006
Beiträge: 4289

Beitrag(#441141) Verfasst am: 30.03.2006, 16:12    Titel: Antworten mit Zitat

zelig hat folgendes geschrieben:
@Wygotsky
Danke für die ausführliche Antwort. So ähnlich, jedoch ohne diesen Detailreichtum hatte ich das in Erinnerung. Wie verhält es sich mit der Roheit im Umgang mit Kindern? Gibt es nicht Kulturen, die noch nicht alphabetisiert sind, und in denen dennoch ein zärtlicher, fürsorglicher Umgang mit Kindern gepflegt wird. (Ich bin kein Anhänger der These vom "edlen Wilden".) War nicht gerade während der Industrialisierung Kinderarbeit weit verbreitet?


Sehr viele außereuropäische Kulturen haben eine sehr liebevollen mit Umgang mit Kindern. Hat mit edler Wilder nichts zu tun - und Schrift hat mit Kinder liebevoll behandeln auch nichts zu tun.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
kolja
der Typ im Maschinenraum
Betreiber



Anmeldungsdatum: 02.12.2004
Beiträge: 16631
Wohnort: NRW

Beitrag(#441152) Verfasst am: 30.03.2006, 16:27    Titel: Antworten mit Zitat

zelig hat folgendes geschrieben:
Gibt es nicht Kulturen, die noch nicht alphabetisiert sind, und in denen dennoch ein zärtlicher, fürsorglicher Umgang mit Kindern gepflegt wird.

Buchtipp: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück
_________________
Hard work often pays off after time, but laziness always pays off now.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
zelig
Kultürlich



Anmeldungsdatum: 31.03.2004
Beiträge: 25405

Beitrag(#441158) Verfasst am: 30.03.2006, 16:36    Titel: Antworten mit Zitat

kolja hat folgendes geschrieben:
zelig hat folgendes geschrieben:
Gibt es nicht Kulturen, die noch nicht alphabetisiert sind, und in denen dennoch ein zärtlicher, fürsorglicher Umgang mit Kindern gepflegt wird.

Buchtipp: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück


Kenn ich ;)

Meine Intention war die Frage aufzuwerfen, ob es ausser interkulturellen auch kulturspezifische Gründe für einen verrohten Umgang mit Kindern gibt.
_________________
Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
kolja
der Typ im Maschinenraum
Betreiber



Anmeldungsdatum: 02.12.2004
Beiträge: 16631
Wohnort: NRW

Beitrag(#441171) Verfasst am: 30.03.2006, 16:52    Titel: Antworten mit Zitat

zelig hat folgendes geschrieben:
Kenn ich ;)

Ach wie schön. :)

zelig hat folgendes geschrieben:
Meine Intention war die Frage aufzuwerfen, ob es ausser interkulturellen auch kulturspezifische Gründe für einen verrohten Umgang mit Kindern gibt.

Äh, die Fragestellung versteh' ich jetzt nicht so ganz. Interkulturell = Wechselwirkung zwischen den Kulturen? Ist der Umgang mit Kindern nicht immer kulturspezifisch?
_________________
Hard work often pays off after time, but laziness always pays off now.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
zelig
Kultürlich



Anmeldungsdatum: 31.03.2004
Beiträge: 25405

Beitrag(#441177) Verfasst am: 30.03.2006, 17:02    Titel: Antworten mit Zitat

Hervorhebung nachträglich eingebaut.
zelig hat folgendes geschrieben:
Übrigens meine ich mal in einer kulturgeschichtlichen Abhandlung gelesen zu haben, daß Kinder über Jahrhunderte hinweg zumindest im Europäischen Raum keinen Kinderstatus hatten. Man begegnete ihnen mehr oder weniger wie Erwachsenen mit fehlenden Fertigkeiten. Weiß da jemand was drüber?


Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Gemeint ist damit zum Beispiel, dass keine besonderen Schutzrechte für Kinder formuliert waren. Sie konnten zu jeder Arbeit eingesetzt werden, wenn sie es denn von ihrer Geschicklichkeit oder ihrer Kraft her schafften. Kinder konnten vor Gericht gestellt und genau wie Erwachsene verurteilt werden, sogar zum Tode. [...]


Woher kommt es, daß sowas in der europäischen/westlichen Kultur vorkam, woanders anscheinend nicht?

Sorry für meine ungeschickte Wortwahl.
_________________
Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441186) Verfasst am: 30.03.2006, 17:10    Titel: Antworten mit Zitat

zelig hat folgendes geschrieben:
Wie verhält es sich mit der Roheit im Umgang mit Kindern? Gibt es nicht Kulturen, die noch nicht alphabetisiert sind, und in denen dennoch ein zärtlicher, fürsorglicher Umgang mit Kindern gepflegt wird.

Das gibt es sicherlich.

Die These von der "Erfindung der Kindheit" ist ja auch nicht, dass Kinder früher besonders schlecht behandelt wurden. Es waren andere Zeiten, und Kinder bekamen eben mit, was so lief.

Denk doch einmal an Mütter in südamerikanischen Slums, die Probleme haben, ihre Kinder zu ernähren. Aufgrund ihrer schieren Not können sie gezwungen sein, Entscheidungen zu treffen, die uns grotesk vorkommen. Es ist zum Beispiel nicht ungewöhnlich, dass Mütter ihren Säuglingen die Brust verweigern und lieber ihre Kleinkinder stillen. Die Kleinkinder sind kräftiger. Sie haben eine höhere Überlebenswahrscheinlichkeit. Die Mutter hat bereits eine längere Bindung zu ihnen aufgebaut. Die Säuglingssterblichkeit ist hoch, so dass die Milch an den Säugling vielleicht verschwendet wäre. Die Mutter wird wahrscheinlich mehrfach in ihren Leben erleben, dass eines ihrer Babys stirbt. Sie würde daran kaputt gehen, wenn sie zu jedem Baby eine so enge emotionale Bindung aufbaute, wie sich das moderne Mütter erlauben können. Soll man daraus folgern, dass diese Mütter kaltherzig sind oder dass ihnen ihre Kinder gleichgültig sind? Ich denke nicht. Ich denke, sie versuchen, unter schwierigen Umständen die besten Entscheidungen für ihre Kinder zu treffen. Dazu kann leider gehören, dass sie ein Neugeborenes verhungern lassen. Hier in Europa war das Aussetzen von Kindern eine verbreitete Methode, um mit ungewolltem Nachwuchs umzugehen. Die Eltern haben das gewiss nicht aus Bequemlichkeit gemacht.

zelig hat folgendes geschrieben:
War nicht gerade während der Industrialisierung Kinderarbeit weit verbreitet?

Kinderarbeit war zu allen Zeiten normal. Die Mehrheit der heute lebenden Kinder arbeitet in der einen oder anderen Form.

Bei Kinderarbeit denken wir an Spinnereien, Fabriken, Bergwerke und dergleichen. Diese Art der Kinderarbeit war selbst zur Zeit der industriellen Revolution sehr untypisch. Kinder arbeiteten hauptsächlich im Haushalt und in der Landwirtschaft, und das sind auch heute noch die verbreitetsten Tätigkeiten für Kinder.

Dass wir im Zusammenhang mit Kinderarbeit sofort an Fabriken im viktorianischen England denken, liegt zu einem guten Teil daran, dass die besonders abschreckenden Bedingungen politisch ausgeschlachtet wurden, um Schutzrechte für Kinder durchzusetzen. England war in dieser Hinsicht anderen europäischen Staaten voraus. In Belgien etwa wurden Kinder viel schlimmer ausgebeutet.

shevek hat folgendes geschrieben:
Sehr viele außereuropäische Kulturen haben eine sehr liebevollen mit Umgang mit Kindern. Hat mit edler Wilder nichts zu tun

Darum geht es auch nicht. Im Grunde geht es um die Trennung der Lebenswelten von Kindern und Erwachsenen. In modernen Gesellschaften gibt es Lebensbereiche, in denen praktisch nur Erwachsene unterwegs sind, z.B. Finanzämter, Behörden, Büros, Großmärkte, Institute. Dann gibt es Lebensbereiche, in denen praktisch nur Kinder unterwegs sind, z.B. Kindergärten, Grundschulen, entsprechende Freizeiteinrichtungen. Und es gibt Lebensbereiche, die Kinder und Erwachsene teilen, z.B. die Familie, den Haushalt. Diese weitgehende Trennung ist historisch betrachtet eine außergewöhnliche Situation. Beispielsweise sahen Kinder früher, was ihre Eltern arbeiteten, und so bald es ging halfen sie dabei mit. Was die Eltern arbeiteten, war für die Kinder schnell nachvollziehbar, selbst wenn sie es selbst noch nicht konnten. Heute erzählen mir 12-jährige, dass ihr Vater Controller ist. Wenn ich Frage, was ein Controller macht, wissen sie nur, dass man dazu einen Computer braucht. Der Sohn eines Fischers im 11. Jahrhundert hätte nicht nur erzählen können, was sein Vater macht, er hätte es wahrscheinlich selbst gekonnt.

Die These von der Erfindung der Kindheit läuft darauf hinaus, dass mit der Kindheit zugleich auch der Erwachsene erfunden wurde. Erwachsenenleben, so wie wir es heute kennen, ist tatsächlich ein höchst spezielles kulturelles Konstrukt.

shevek hat folgendes geschrieben:
und Schrift hat mit Kinder liebevoll behandeln auch nichts zu tun.

Schrift hat aber etwas damit zu tun, dass unsere Art zu Leben und zu Arbeiten immer abstrakter geworden ist. In modernen Gesellschaften durchlaufen Menschen ein Trainingsprogramm in abstraktem Denken, das bis zu 20 Jahre dauern kann. Selbst für die einfachsten Tätigkeiten sind heute kulturelle Fähigkeiten erforderlich, die noch vor wenigen Jahrhunderten den meisten Menschen unbegreiflich waren. Darum ist es nötig geworden, die Kindheit als Zeit des Lernens und der Vorbereitung zu verstehen. Verschiedene Anzeichen deuten darauf hin, dass wir mit dieser Vorstellung an Grenzen kommen.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441188) Verfasst am: 30.03.2006, 17:20    Titel: Antworten mit Zitat

zelig hat folgendes geschrieben:
Meine Intention war die Frage aufzuwerfen, ob es ausser interkulturellen auch kulturspezifische Gründe für einen verrohten Umgang mit Kindern gibt.

Ich denke, dass die Sache mit der Verrohung irreführend war. Hinrichtungen und dergleichen sollen lediglich illustrieren, dass in früheren Zeiten nicht in dem Maße zwischen "Kindersituationen" und "Erwachsenensituationen" unterschieden wurde, wie dies heute geschieht. Sogar Liedloff ist dafür in mancher Hinsicht ein gutes Beispiel. Es ist eben nicht so, dass der Erwachsene in der Dschungel oder an die steile Schlucht gehen darf (Erwachsenensituation) und das Kind in der sicheren Hütte bleiben muss (Kindersituation). Eben dies ist aber für moderne Kulturen kennzeichnend, dass Kindheit in eingezäunten Schutzräumen stattfindet.

Wie schon oben erwähnt, stellt sich die Frage, ob diese Trennung so wie sie derzeit besteht und sogar noch ausgebaut wird, sinnvoll ist.

zelig hat folgendes geschrieben:
Woher kommt es, daß sowas in der europäischen/westlichen Kultur vorkam, woanders anscheinend nicht?

Todesurteile, Folter und dergleichen gab es bestimmt auch in anderen Kulturen als den europäischen. Nur wissen wir über fremde Kulturen meist noch viel weniger als über unsere eigene Geschichte.

Von daher sollte man vorsichtig sein mit Aussagen wie die Europäer sind so und die anderen sind so. Die anderen sind ganz viele und ganz verschiedene. Und die Europäer waren und sind das natürlich auch.


Zuletzt bearbeitet von Wygotsky am 30.03.2006, 17:28, insgesamt einmal bearbeitet
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441204) Verfasst am: 30.03.2006, 17:48    Titel: Antworten mit Zitat

Den Thread abzuteilen, war eine doofe Idee, Kolja.

Ich schweife einfach gerne vom Thema ab. Und wenn man dann einen eigenen Thread aufmacht, ist es nicht mehr Abschweifen, und dann macht's mir keinen Spaß mehr, was dazu zu schreiben. Traurig
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
AntagonisT
Master of Disaster



Anmeldungsdatum: 28.09.2005
Beiträge: 5587
Wohnort: 2 Meter über dem Boden

Beitrag(#441205) Verfasst am: 30.03.2006, 17:50    Titel: Antworten mit Zitat

Sag mal, bist du Soziologe oder so was?

Auf jeden Fall sind deine Texte echt angenehm zu lesen! Daumen hoch!
_________________
“Primates often have trouble imagining an universe not run by an angry alpha male.”
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441209) Verfasst am: 30.03.2006, 18:05    Titel: Antworten mit Zitat

AntagonisT hat folgendes geschrieben:
Sag mal, bist du Soziologe oder so was?

In erster Linie bin ich Kindergärtner. Nebenbei studier' ich ein bisschen.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
caballito
zänkisches Monsterpony



Anmeldungsdatum: 16.07.2003
Beiträge: 12112
Wohnort: Pet Sematary

Beitrag(#441229) Verfasst am: 30.03.2006, 18:38    Titel: Re: Von der Erfindung der Kindheit Antworten mit Zitat

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Gemeint ist damit zum Beispiel, dass keine besonderen Schutzrechte für Kinder formuliert waren. Sie konnten zu jeder Arbeit eingesetzt werden, wenn sie es denn von ihrer Geschicklichkeit oder ihrer Kraft her schafften. Kinder konnten vor Gericht gestellt und genau wie Erwachsene verurteilt werden, sogar zum Tode.


An der Stelle bist du leicht irreführend, denn um diese besonderen Schutzrechte geht es ja gerade nicht. Kern ist allein die Trennung der Lebensbereiche, die künstliche, in der Regel weichgespülte, Lebenswelt speziell für Kinder, und die Abschirmung vom "Ernst des Lebens". Stichwort Rousseausche Idylle.

Besondere Schutzrechte bedürfen eines solchen Sonderstatus nicht, sondern können allein aus den fehlenden Fertigkeiten begründet werden.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Eine gängige Interpretation ist, dass die "Erfindung der Kindheit" mit der Alphabetisierung nötig wurde. Bevor der Erwerb der Schriftsprache nötig wurde, konnte man sich alles, was man zum Leben wissen musste, durch Mittun im Alltag aneignen. Im Prinzip konnte man im Alter von 8-10 Jahren alles, was man im Leben wissen musste, zumindest in seinen Grundzügen begriffen haben. Mit zunehmender Komplexität der Kultur reichten diese Formen der Sozialisation nicht mehr aus. Die Kindheit musste künstlich verlängert werden, damit Kinder sich gewisse Fähigkeiten aneigenen konnten, die zum Funktionieren in der Gesellschaft wichtiger wurden. Man könnte sagen, dass dieser Trend sich bis heute Fortsetzt, und dass die Kindheit heute sozusagen bis ins 4. Lebensjahrzehnt reichen kann.


Spätestens hier legst du aber auch die Absurdität dieser Interpretation offen. Denn gelernt wurde auch früher, ohne Sonderstatus. Und gelernt wird bis ins Erwachsenenalter hinein, ebenfalls ohne Sonderstatus. Der bis ins vierte Lebensjahrzehnt hinein lernende angehende Arzt wird eben nicht so lange als Kind behandelt.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Wir erwarten das Erscheinen bestimmter Kompetenzen ab einem bestimmten Alter, z.B. haben wir Vorstellungen darüber, mit wieviel Jahren ein Kind in der Lage sein sollte, zu lesen.


Nur hat der Kind-Status eigentlich nichts mit Erwartungen zu tun, denn auch Erwachsenen gegenüber gibt es unterschiedliche Erwartungen. Der Kind-Status ist ganz im Gegenteil dadurch geprägt, dass bestimmte Forderungen gestellt werden, ganz unabhängig vom Vermögen des Kindes.
_________________
Die Gedanken sind frei.

Aber nicht alle Gedanken wissen das.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden E-Mail senden
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441264) Verfasst am: 30.03.2006, 19:32    Titel: Re: Von der Erfindung der Kindheit Antworten mit Zitat

caballito hat folgendes geschrieben:
An der Stelle bist du leicht irreführend, denn um diese besonderen Schutzrechte geht es ja gerade nicht. Kern ist allein die Trennung der Lebensbereiche, die künstliche, in der Regel weichgespülte, Lebenswelt speziell für Kinder, und die Abschirmung vom "Ernst des Lebens". Stichwort Rousseausche Idylle.

Ich glaube nicht, dass ich da irreführend bin. Die Vorstellung, dass Kinder einen anderen rechtlichen Status haben als Erwachsene, ist sehr wohl kennzeichnend für unsere moderne Vorstellung von Kindheit. Manche Leute kritisieren das. Manche Kritik finde ich berechtigt, zumindest denke ich immer wieder über diese Dinge nach. Aber in meinen Ausführungen ging es nicht um die Frage, wie moderne Vorstellungen von Kindheit moralisch zu bewerten sind, sondern zunächst einmal darum, wie sie sich von den Vorstellungen vergangener Zeiten unterscheiden.

Zur Rousseauschen Idylle möchte ich noch anmerken, dass ich Rousseau für einen Kulturpessimisten halte. Kinder sollten getrennt von der Erwachsenenwelt aufwachsen, weil die Erwachsenenwelt verderbt und verkommen war. Kindsein sah Rousseau als einen Zustand ursprünglicher Reinheit und Unschuld. In gewisser Weise ging es von da an nur noch bergab. Solche Vorstellungen spielen heute noch eine Rolle. Zum Beispiel gibt es Leute, die meinen, das Kinder keine Kinder mehr sind, wenn sie bestimmte Dinge gesehen oder erlebt haben, die sie der Erwachsenenwelt zuordnen. Schutzberechtigt ist das reine, unverdorbene Kind. Das bereits verdorbene Kind ist ein hoffnungsloser Fall. Das macht sich in der Art und Weise bemerkbar, wie Spendenkampagnen gestaltet werden. Die Kinder werden dort als kleine, dankbare Engel gezeigt, obwohl die Kinder, denen die Spenden zukommen sollen, vielleicht Taschendiebe, Mörder, Dealer oder Zuhälter sind. Aber solche Kinder wären vielen keine Spende wert.

caballito hat folgendes geschrieben:
Besondere Schutzrechte bedürfen eines solchen Sonderstatus nicht, sondern können allein aus den fehlenden Fertigkeiten begründet werden.

Wahrscheinlich wäre so etwas möglich. Aber gegenwärtig läuft es nicht so.

caballito hat folgendes geschrieben:
Spätestens hier legst du aber auch die Absurdität dieser Interpretation offen. Denn gelernt wurde auch früher, ohne Sonderstatus.

Richtig, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben erwerben die meisten Kinder in einem systematischen Unterricht. Andere Fähigkeiten erwerben sie im Alltag, z.B. etwas kochen, einen Fahrradschlauch reparieren und dergleichen. Meiner Meinung nach gibt es auch für den Schriftspracherwerb andere Formen als den systematischen Unterricht. Das ist aber nicht mainstream. Vielleicht ändert sich das ja einmal, aber ich fürchte, gegenwärtig sieht es nicht gut aus.

caballito hat folgendes geschrieben:
Und gelernt wird bis ins Erwachsenenalter hinein, ebenfalls ohne Sonderstatus. Der bis ins vierte Lebensjahrzehnt hinein lernende angehende Arzt wird eben nicht so lange als Kind behandelt.

Das ist einer der Gründe, warum ich meine, dass wir mit unseren gegenwärtigen Konzept von Kindheit und Erwachsensein an Grenzen stoßen.

caballito hat folgendes geschrieben:
Nur hat der Kind-Status eigentlich nichts mit Erwartungen zu tun, denn auch Erwachsenen gegenüber gibt es unterschiedliche Erwartungen.

Leider ist es mir anscheinend nicht gelungen, mich klar auszudrücken. Es gibt Vorstellungen vom Kindsein, und es gibt Vorstellungen vom Erwachsensein, und die waren nicht immer so, wie sie heute sind (und sie werden auch nicht immer so sein). Diese Vorstellungen haben Einfluss darauf, wie wir Kinder und Erwachsene sehen und wie wir sie behandeln. Darum kann es nützlich sein, sich klar zu machen, was diese Vorstellungen sind, denn oft gelten sie als Selbstverständlichkeiten. Eine Möglichkeit dazu ist der Vergleich mit anderen Zeiten oder anderen Kulturen. Da merkt man dann auf einmal, dass die Selbstverständlichkeiten nur Vorstellungen sind, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort eine gewisse Verbreitung haben. Und damit werden alternative Vorstellungen, wie du sie zum Beispiel ins Spiel bringst, auf einmal diskutabel.

caballito hat folgendes geschrieben:
Der Kind-Status ist ganz im Gegenteil dadurch geprägt, dass bestimmte Forderungen gestellt werden, ganz unabhängig vom Vermögen des Kindes.

Leider scheint mir, dass dies nicht nur auf Kinder zutrifft.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
caballito
zänkisches Monsterpony



Anmeldungsdatum: 16.07.2003
Beiträge: 12112
Wohnort: Pet Sematary

Beitrag(#441296) Verfasst am: 30.03.2006, 20:07    Titel: Re: Von der Erfindung der Kindheit Antworten mit Zitat

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
An der Stelle bist du leicht irreführend, denn um diese besonderen Schutzrechte geht es ja gerade nicht. Kern ist allein die Trennung der Lebensbereiche, die künstliche, in der Regel weichgespülte, Lebenswelt speziell für Kinder, und die Abschirmung vom "Ernst des Lebens". Stichwort Rousseausche Idylle.

Ich glaube nicht, dass ich da irreführend bin. Die Vorstellung, dass Kinder einen anderen rechtlichen Status haben als Erwachsene, ist sehr wohl kennzeichnend für unsere moderne Vorstellung von Kindheit.


Natürlich ist das so. Aber eben in der Gleichsetzung "anderer rechtlicher Status" = "besonderer Schutz" liegt die Irreführung, denn dieser besondere Rdhtliche Status hat nur sehr wenig mit dem besonderen Schutz zu tun. Weder braucht man den dermaßen besonderen Status für den besonderen Schutz, noch ist der besondere Schutz das Charakteristikum dieses speziellen Kind-Status. Darauf wollte ich hinaus.


Wygotsky hat folgendes geschrieben:
[Aber in meinen Ausführungen ging es nicht um die Frage, wie moderne Vorstellungen von Kindheit moralisch zu bewerten sind, sondern zunächst einmal darum, wie sie sich von den Vorstellungen vergangener Zeiten unterscheiden.


In meinem Einwand ging es um dasselbe. Er war eben darauf geriichtet, dass deien Darstellung hinsihctlich des Charakters dieses Unterscheids in die Irre führe.

Dass dir die Zusammenhänge bewusst sind, war und ist mit klar, aber dem, der mit der Materie nicht so vertraut ist, erschleißen sie sich aus deienr Darstellung nicht richtig.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Zur Rousseauschen Idylle möchte ich noch anmerken, dass ich Rousseau für einen Kulturpessimisten halte. Kinder sollten getrennt von der Erwachsenenwelt aufwachsen, weil die Erwachsenenwelt verderbt und verkommen war. Kindsein sah Rousseau als einen Zustand ursprünglicher Reinheit und Unschuld.


Einerseits ja. der "edle Wilde" steht wohl auch damit im Zusammenhang. Andeerseits meinte er schon, dass Kinder der Formung bedürfen.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
In gewisser Weise ging es von da an nur noch bergab.


Wobei man sich strreiten kann, ob dafür noch viel Spielraum blieb zwinkern

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Solche Vorstellungen spielen heute noch eine Rolle. ...


Wem sagst du das?

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
Besondere Schutzrechte bedürfen eines solchen Sonderstatus nicht, sondern können allein aus den fehlenden Fertigkeiten begründet werden.

Wahrscheinlich wäre so etwas möglich. Aber gegenwärtig läuft es nicht so.


Das ist mir auch klar. Dass der gegenwärtuge Zustand aber eher gewöhnlichen Schutz vorenthält als besonderen gewährt allerdings auch. Deswegen reagiere ich etwas allergisch, wenn der gegenwärtige Zuistand als besonderer Schutz oder gar notwendig für einen solchen charakterisiert wird.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
Spätestens hier legst du aber auch die Absurdität dieser Interpretation offen. Denn gelernt wurde auch früher, ohne Sonderstatus.

Richtig, allerdings in einem anderen Zusammenhang. Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben erwerben die meisten Kinder in einem systematischen Unterricht. Andere Fähigkeiten erwerben sie im Alltag, z.B. etwas kochen, einen Fahrradschlauch reparieren und dergleichen. Meiner Meinung nach gibt es auch für den Schriftspracherwerb andere Formen als den systematischen Unterricht. Das ist aber nicht mainstream. Vielleicht ändert sich das ja einmal, aber ich fürchte, gegenwärtig sieht es nicht gut aus.


Ob systematisxch oder nicht speilt in dem Zusammenhang doch gar keine Rolle. Ein großer Teil dessen, was der von dir bemühte angesehene Arzt lernt, ist doch ebenso systematischer Unterricht. Und funktioniert tritzdem ohne Kind-Status.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
Und gelernt wird bis ins Erwachsenenalter hinein, ebenfalls ohne Sonderstatus. Der bis ins vierte Lebensjahrzehnt hinein lernende angehende Arzt wird eben nicht so lange als Kind behandelt.

Das ist einer der Gründe, warum ich meine, dass wir mit unseren gegenwärtigen Konzept von Kindheit und Erwachsensein an Grenzen stoßen.


Das ist deine Interpretation. Meine ist, dass da keine Grenze erreicht ist, sondern eien prinzipielle Sinnlosigkeit offenbart wird.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
Nur hat der Kind-Status eigentlich nichts mit Erwartungen zu tun, denn auch Erwachsenen gegenüber gibt es unterschiedliche Erwartungen.

Leider ist es mir anscheinend nicht gelungen, mich klar auszudrücken. Es gibt Vorstellungen vom Kindsein, und es gibt Vorstellungen vom Erwachsensein, und die waren nicht immer so, wie sie heute sind (und sie werden auch nicht immer so sein). Diese Vorstellungen haben Einfluss darauf, wie wir Kinder und Erwachsene sehen und wie wir sie behandeln. Darum kann es nützlich sein, sich klar zu machen, was diese Vorstellungen sind, denn oft gelten sie als Selbstverständlichkeiten.


Das ist schon klar. Dagegen ahbe ich ja auch nichts gesagt. Es ging mir um von dir angedeutete Begründungszusammenhänge, die mE einfach nicht stimmen, sondern bloße Rationalisierungsversuche sind.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
Der Kind-Status ist ganz im Gegenteil dadurch geprägt, dass bestimmte Forderungen gestellt werden, ganz unabhängig vom Vermögen des Kindes.

Leider scheint mir, dass dies nicht nur auf Kinder zutrifft.


In gewisser Weise trifft es auch auf Erwachsene zu, teilweise mit umgekehrtem, teilweise auch mit dem gleichen Vorzeichen, da hast du wohl nicht unrecht.
_________________
Die Gedanken sind frei.

Aber nicht alle Gedanken wissen das.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden E-Mail senden
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441368) Verfasst am: 30.03.2006, 21:57    Titel: Re: Von der Erfindung der Kindheit Antworten mit Zitat

caballito hat folgendes geschrieben:
Natürlich ist das so. Aber eben in der Gleichsetzung "anderer rechtlicher Status" = "besonderer Schutz" liegt die Irreführung, denn dieser besondere Rdhtliche Status hat nur sehr wenig mit dem besonderen Schutz zu tun.

Ich erinnere mich, dass wir diese Diskussion schon einmal hatten. Ich sehe deine Problematik durchaus, und habe seitdem auch viel darüber nachgedacht. Trotzdem bin ich noch nicht bereit, mich von der Vorstellung gewisser an das Alter gekoppelter Rechte zu trennen. Auch wenn dies im Prinzip Altersdiskriminierung ist. Damit muss ich wohl vorläufig zurechtkommen.

caballito hat folgendes geschrieben:
In meinem Einwand ging es um dasselbe. Er war eben darauf geriichtet, dass deien Darstellung hinsihctlich des Charakters dieses Unterscheids in die Irre führe.

Dass dir die Zusammenhänge bewusst sind, war und ist mit klar, aber dem, der mit der Materie nicht so vertraut ist, erschleißen sie sich aus deienr Darstellung nicht richtig.

Das mag damit zusammenhängen, dass ich mein Bewusstsein für diese Unterschiede in einem bestimmten Kontext erworben habe (der natürlich nicht zweckfrei war). Es mag auch damit zusammenhängen, dass es schwierig ist, Dinge bewusst zu denken oder zu beschreiben, die meist als selbstverständlich erachtet werden. Naja, man tut, was man kann.

caballito hat folgendes geschrieben:
Einerseits ja. der "edle Wilde" steht wohl auch damit im Zusammenhang. Andeerseits meinte er schon, dass Kinder der Formung bedürfen.

Nur merken sollen sie's halt nicht. Das ist leider in Kollegenkreisen eine verbreitete Ansicht, dass Erziehung aufgeklärter, demokratischer, partnerschaftlicher ist, wenn das Kind durch geschickte Manipulation dazu gebracht wird, den Willen der Erwachsenen zu tun. (Vielleicht steckt dahinter auch einfach nur eine realistische Auffassung von Demokratie.) Jedenfalls wird diese Ansicht zwar ungern direkt formuliert aber dafür praktiziert. Offenen Zwang finde ich fairer. Darüber kann sich das Kind wenigstens ärgern.

caballito hat folgendes geschrieben:
Deswegen reagiere ich etwas allergisch, wenn der gegenwärtige Zuistand als besonderer Schutz oder gar notwendig für einen solchen charakterisiert wird.

Ich fürchte eher, dass man das Kind mit dem Bade ausschüttet. Dass zum Beispiel eines Tages fragen könnte, wozu man noch eine Schulpflicht braucht, wenn doch eh so viele Jugendliche arbeitslos werden. Ob man nicht einfach wieder sagen könnte, wer Bildung will, soll sich halt welche kaufen.

caballito hat folgendes geschrieben:
Ob systematisxch oder nicht speilt in dem Zusammenhang doch gar keine Rolle. Ein großer Teil dessen, was der von dir bemühte angesehene Arzt lernt, ist doch ebenso systematischer Unterricht. Und funktioniert tritzdem ohne Kind-Status.

Der Arzt verfügt aber über gewisse Fähigkeiten, die es ihm erst ermöglichen, auf diese Weise zu lernen. 6-jährige Kinder könnten mit so einer Lernumgebung nicht zurechtkommen. (Die meisten Erwachsenen können es auch nicht.) Schulunterricht zielt in einem gewissen Grad darauf ab, Menschen für derartige Lernumgebungen passend zu machen (und auszuwählen).

Ich glaube, dass man Lernumgebungen passend für 6-jährige Kinder machen kann, so dass sie sich weitgehend selbstständig Fähigkeiten wie z.B. das Lesen aneignen können. Noch kann ich so etwas nicht, aber ich suche nach Möglichkeiten.

caballito hat folgendes geschrieben:
Das ist deine Interpretation. Meine ist, dass da keine Grenze erreicht ist, sondern eien prinzipielle Sinnlosigkeit offenbart wird.

Zumindest ließ sich mit diesem Konstrukt eine soziale Ordnung aufrechterhalten, rechtfertigen, reproduzieren. Das wird in Zukunft vielleicht nicht mehr funktionieren.

caballito hat folgendes geschrieben:
Das ist schon klar. Dagegen ahbe ich ja auch nichts gesagt. Es ging mir um von dir angedeutete Begründungszusammenhänge, die mE einfach nicht stimmen, sondern bloße Rationalisierungsversuche sind.

Könnte schon sein, dass da etwas dran ist. Es ist leider schwierig über Kultur nachzudenken, da man ja keinen akulturellen Standpunkt einnehmen kann.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
kolja
der Typ im Maschinenraum
Betreiber



Anmeldungsdatum: 02.12.2004
Beiträge: 16631
Wohnort: NRW

Beitrag(#441422) Verfasst am: 30.03.2006, 22:54    Titel: Antworten mit Zitat

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Den Thread abzuteilen, war eine doofe Idee, Kolja. Ich schweife einfach gerne vom Thema ab. Und wenn man dann einen eigenen Thread aufmacht, ist es nicht mehr Abschweifen, und dann macht's mir keinen Spaß mehr, was dazu zu schreiben. Traurig

Das tut mir leid. Ich wollte sicherstellen, dass Deine umfangreichen (und mE wertvollen) Beiträge nicht im Geplänkel auf Seite 10 eines Threads untergehen, den viele vielleicht aufgrund des sie nicht interessierenden Themas gar nicht mehr anklicken.
_________________
Hard work often pays off after time, but laziness always pays off now.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Critic
oberflächlich



Anmeldungsdatum: 22.07.2003
Beiträge: 16338
Wohnort: Arena of Air

Beitrag(#441482) Verfasst am: 30.03.2006, 23:32    Titel: Antworten mit Zitat

zelig hat folgendes geschrieben:
kolja hat folgendes geschrieben:
zelig hat folgendes geschrieben:
Gibt es nicht Kulturen, die noch nicht alphabetisiert sind, und in denen dennoch ein zärtlicher, fürsorglicher Umgang mit Kindern gepflegt wird.

Buchtipp: Auf der Suche nach dem verlorenen Glück


Kenn ich zwinkern

Meine Intention war die Frage aufzuwerfen, ob es ausser interkulturellen auch kulturspezifische Gründe für einen verrohten Umgang mit Kindern gibt.


Prescott hat Anfang der 1970er Jahre gefunden, daß es unter anderem positive Korrelationen zwischen der (gedanklichen -- via "Religion" -- und tatsächlichen -- via Kriminalität --) Gewaltneigung einer Kultur und der Art gibt, wie sie ihre Kinder behandelt.

http://www.violence.de
_________________
"Die Pentagon-Gang wird in der Liste der Terrorgruppen geführt"

Dann bin ich halt bekloppt. Mit den Augen rollen

"Wahrheit läßt sich nicht zeigen, nur erfinden." (Max Frisch)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
caballito
zänkisches Monsterpony



Anmeldungsdatum: 16.07.2003
Beiträge: 12112
Wohnort: Pet Sematary

Beitrag(#441800) Verfasst am: 31.03.2006, 11:14    Titel: Re: Von der Erfindung der Kindheit Antworten mit Zitat

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Ich erinnere mich, dass wir diese Diskussion schon einmal hatten. Ich sehe deine Problematik durchaus, und habe seitdem auch viel darüber nachgedacht. Trotzdem bin ich noch nicht bereit, mich von der Vorstellung gewisser an das Alter gekoppelter Rechte zu trennen. Auch wenn dies im Prinzip Altersdiskriminierung ist. Damit muss ich wohl vorläufig zurechtkommen.


Du hattest uns seinerzeit, wenn ich mich recht entsinne, darauf geeinigt, die Diskussion weiterzuführen, wenn du mal mehr Zeit hast.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Das mag damit zusammenhängen, dass ich mein Bewusstsein für diese Unterschiede in einem bestimmten Kontext erworben habe (der natürlich nicht zweckfrei war). Es mag auch damit zusammenhängen, dass es schwierig ist, Dinge bewusst zu denken oder zu beschreiben, die meist als selbstverständlich erachtet werden. Naja, man tut, was man kann.


Ich wollte dich deswegen ja auch gar nicht kritisieren, nur das klarstellen, was dir zu selbstverständlich war. zwinkern

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
Einerseits ja. der "edle Wilde" steht wohl auch damit im Zusammenhang. Andeerseits meinte er schon, dass Kinder der Formung bedürfen.

Nur merken sollen sie's halt nicht. Das ist leider in Kollegenkreisen eine verbreitete Ansicht, dass Erziehung aufgeklärter, demokratischer, partnerschaftlicher ist, wenn das Kind durch geschickte Manipulation dazu gebracht wird, den Willen der Erwachsenen zu tun. (Vielleicht steckt dahinter auch einfach nur eine realistische Auffassung von Demokratie.) Jedenfalls wird diese Ansicht zwar ungern direkt formuliert aber dafür praktiziert. Offenen Zwang finde ich fairer. Darüber kann sich das Kind wenigstens ärgern.


Daumen hoch!

Interessant übrigens, dass das nicht nur den Kindern gegenüber verheimlicht wird, sondern auch so nicht direkt ausgesprochen, sondern hinter wolkigen Formulierungen versteckt wird, die oberflächlich das Gegenteil zu bedeuten scheinen.

Ich finde es zum k****, wenn Pädogogen von selbstbestimmtem Lernen sprechen, und damit meinen, das Kind geschickt dahin zu manipulieren, dass es "von selber" tut, was sie von ihm wollen ...

Und wenn dann di leute kommen udn meinen "Aber heutzutage in der Pädagogik istd as doch gar nicht so, da ist es doch ..." und dann diese Phrasen nachgeplappert werden, dann geht mir zuweilen schon aml der Hut hoch.

Es ist ja leider nicht nur eine "verbreitete Ansicht", wie du schreibst, sondern es geht ducth und durch. Ich fürchte, die allermeisten merken gar nicht, was sie da in Wirklichkeit faseln.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
Deswegen reagiere ich etwas allergisch, wenn der gegenwärtige Zuistand als besonderer Schutz oder gar notwendig für einen solchen charakterisiert wird.

Ich fürchte eher, dass man das Kind mit dem Bade ausschüttet. Dass zum Beispiel eines Tages fragen könnte, wozu man noch eine Schulpflicht braucht, wenn doch eh so viele Jugendliche arbeitslos werden. Ob man nicht einfach wieder sagen könnte, wer Bildung will, soll sich halt welche kaufen.


Moment mal. Gegen zusätzlche Rechte hab ich ja gar nichts. Aber sie soleln eben bitte wirklich zusätzlich sein. Die Derzeitige Praxis gewährt die "besonderen Rechte" ja nicht zusätzlich zu den allgemeinen, sondern an deren Stelle.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
Ob systematisxch oder nicht speilt in dem Zusammenhang doch gar keine Rolle. Ein großer Teil dessen, was der von dir bemühte angesehene Arzt lernt, ist doch ebenso systematischer Unterricht. Und funktioniert tritzdem ohne Kind-Status.

Der Arzt verfügt aber über gewisse Fähigkeiten, die es ihm erst ermöglichen, auf diese Weise zu lernen. 6-jährige Kinder könnten mit so einer Lernumgebung nicht zurechtkommen. (Die meisten Erwachsenen können es auch nicht.) Schulunterricht zielt in einem gewissen Grad darauf ab, Menschen für derartige Lernumgebungen passend zu machen (und auszuwählen).


Du formulierst es treffend: Das Kind wird an die Schule angepasst. Es ist aber genau der Sondertstatus, der es erm,öglicht, das von dem Kind zu verlangen, ohen ihn müsste man die Schule an das Kind anpassen.

Das Probelm ist dcoh, dass man zwar formuliert, Kinder hätten ein Recht auf Bildung, dann aber diese Bildung in eienr Form anbietet, die ihnen nicht zusagt, udn dann sie zwingt, das "Angebnot" anzunehmen.

Ein Recht auf Schulbesuch ohne Schulpflicht würde die Ewrachsenen in die Pflicht nehmen, die Schule so zu gestalten, dass die Kinder in die Schule wollen. Das gegenwärtieg System ist da deutlich bequemer.

Die These, dass man Kinder zum Lernen zwingen müsse, ist schlicht falsch. Kinder wollen ja lernen, Kinder sind neugierig. Es ist doch eine Bankrotterklärung des Schulsystems, wenn das selbe Kind, dass außerhalb der Schule alle mit seiebnr ständigen Fragerei nervt, innerhalb derselben plötzlich völlig desinteressiert ist.


Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Ich glaube, dass man Lernumgebungen passend für 6-jährige Kinder machen kann, so dass sie sich weitgehend selbstständig Fähigkeiten wie z.B. das Lesen aneignen können. Noch kann ich so etwas nicht, aber ich suche nach Möglichkeiten.


ES würde schneller gehen, wenn sich die Herren Pädagogigprofessoren daruf verlegen würde, nach solchem zu forschen, statt danach. wie man die Kindfer am geschicktesten manipulierrt, ohne es selber zu merken.

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
Das ist deine Interpretation. Meine ist, dass da keine Grenze erreicht ist, sondern eien prinzipielle Sinnlosigkeit offenbart wird.

Zumindest ließ sich mit diesem Konstrukt eine soziale Ordnung aufrechterhalten, rechtfertigen, reproduzieren. Das wird in Zukunft vielleicht nicht mehr funktionieren.


Wenn du damit zum Ausdricj bringen wolltetst, dass es als Legitimation eines Unterdrückungsapparates an seine Grenzen stoße, kann ich diese Hoffnung durchaus teilen zwinkern

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
caballito hat folgendes geschrieben:
Das ist schon klar. Dagegen ahbe ich ja auch nichts gesagt. Es ging mir um von dir angedeutete Begründungszusammenhänge, die mE einfach nicht stimmen, sondern bloße Rationalisierungsversuche sind.

Könnte schon sein, dass da etwas dran ist. Es ist leider schwierig über Kultur nachzudenken, da man ja keinen akulturellen Standpunkt einnehmen kann.


Man kann es zumindest versuchen. Allein schon indem man sich bwusst macht, was tatsächlich Fakt und was Konstrukt ist, nähert man sich einem solchen an. Dass man nimals alel Konstrukte als solche erkennen kann, ist klar, aber es macht einen enormen Unterschied, ob man sich des Konstruktcharakters von Kultur, und seines eigenen Unvermögens, ihn vollständig zu durchschauen, bewusst ist, oder ob man Kultur als Fakt hinnimmt.
_________________
Die Gedanken sind frei.

Aber nicht alle Gedanken wissen das.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden E-Mail senden
Heike N.
wundert gar nix mehr



Anmeldungsdatum: 16.07.2003
Beiträge: 26138
Wohnort: Bottrop

Beitrag(#441806) Verfasst am: 31.03.2006, 11:25    Titel: Antworten mit Zitat

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Gemeint ist damit zum Beispiel, dass keine besonderen Schutzrechte für Kinder formuliert waren. Sie konnten zu jeder Arbeit eingesetzt werden, wenn sie es denn von ihrer Geschicklichkeit oder ihrer Kraft her schafften. Kinder konnten vor Gericht gestellt und genau wie Erwachsene verurteilt werden, sogar zum Tode. [...]


Nach unserem heutigen Verständnis waren das Kinder. Im Mittelalter z.B. wurde die Kindheit als wesentlich früher beendet angesehen.


Zitat:
Die infantia stellt die erste Phase dar, die frühe Kindheit, sie reicht von der Geburt bis zum Alter von sieben Jahren. Auf sie folgt die Knaben- beziehungsweise Mädchenzeit, die pueritia, die bei Jungen mit vierzehn Jahren, bei Mädchen hingegen bereits mit zwölf Jahren endet. Als letzte Phase der Jugendzeit gilt die adolescentia, die sich bis zum Erwachsenenalter erstreckt.

[...]

Im Alter von sieben Jahren, dem Ende der Kindheit, wurde von den Eltern oder dem Vormund, sofern dies nicht sowieso schon vorher feststand, die Entscheidung getroffen, ob das Kind eine weltliche oder geistliche Laufbahn einschlagen würde. Durch die Übergabe an Schule und Lehrer trat es in das Stadium der Erziehung außerhalb der Familie ein.

http://www.sbg.ac.at/ges/people/janotta/sim/kindheit.html#6


Es scheint also so zu sein, dass es zwischen wirklichen Erwachsenenalter und Kindheit so eine Art Zwitterzone gab, die aber nicht großartig beachtet wurde bzw. für die es keine explizite "Schutzzone" mehr gab. So wurden z.B. schon 12jährige Mädchen verheiratet und die Ehe vollzogen; 14jährige Mütter waren keine Seltenheit.
_________________
God is Santa Claus for adults

Front Deutscher Äpfel (F.D.Ä.) - Nationale Initiative gegen die Überfremdung des deutschen Obstbestandes und gegen faul herumlungerndes Fallobst
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden ICQ-Nummer
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441841) Verfasst am: 31.03.2006, 12:10    Titel: Re: Von der Erfindung der Kindheit Antworten mit Zitat

caballito hat folgendes geschrieben:
Du hattest uns seinerzeit, wenn ich mich recht entsinne, darauf geeinigt, die Diskussion weiterzuführen, wenn du mal mehr Zeit hast.

Ich glaube, wir waren an einem Punkt angelangt, an dem es nicht weiterging. Und ich wollte mich mit dem Thema noch mal beschäftigen. Das habe ich zwar getan, bin aber noch nicht zu neuen Schlüssen gekommen.

caballito hat folgendes geschrieben:
Ich finde es zum k****, wenn Pädogogen von selbstbestimmtem Lernen sprechen, und damit meinen, das Kind geschickt dahin zu manipulieren, dass es "von selber" tut, was sie von ihm wollen ...

Gegenwärtig interessiere ich mich zum Beispiel für Montessori-Pädagogik. Da wird durchaus eine ähnliche Rhetorik gepflegt, oft verbrämt mit Anleihen aus der Bibel. Eigenes Nachdenken bleibt einem halt nicht erspart.

caballito hat folgendes geschrieben:
Und wenn dann di leute kommen udn meinen "Aber heutzutage in der Pädagogik istd as doch gar nicht so, da ist es doch ..." und dann diese Phrasen nachgeplappert werden, dann geht mir zuweilen schon aml der Hut hoch.

Genauso behaupten 4 von 5 Kindergärten in Deutschland, dass sie situationsorientiert arbeiten. Sie beobachten Interessen und Bedürfnisse der Kinder und daraus ergeben sich die Themen der pädagogischen Arbeit. Jeder Erzieher lernt, die Sprache des Situationsansatzes zu sprechen. Ich habe mittlerweile eine ganze Menge Kindergärten von innen gesehen, und ich kenne keinen einzigen, der situationsorientiert arbeitet. Das faszinierende ist: Die Leute glauben wirklich von sich, dass sie so arbeiten.

caballito hat folgendes geschrieben:
Das Probelm ist dcoh, dass man zwar formuliert, Kinder hätten ein Recht auf Bildung, dann aber diese Bildung in eienr Form anbietet, die ihnen nicht zusagt, udn dann sie zwingt, das "Angebnot" anzunehmen.

Ein Recht auf Schulbesuch ohne Schulpflicht würde die Ewrachsenen in die Pflicht nehmen, die Schule so zu gestalten, dass die Kinder in die Schule wollen. Das gegenwärtieg System ist da deutlich bequemer.

Ob das in der Radikalität möglich ist, weiß ich noch nicht. Aber man könnte zumindest probieren, in diese Richtung zu gehen, und zu schauen, wie weit man damit kommt.

caballito hat folgendes geschrieben:
Die These, dass man Kinder zum Lernen zwingen müsse, ist schlicht falsch. Kinder wollen ja lernen, Kinder sind neugierig. Es ist doch eine Bankrotterklärung des Schulsystems, wenn das selbe Kind, dass außerhalb der Schule alle mit seiebnr ständigen Fragerei nervt, innerhalb derselben plötzlich völlig desinteressiert ist.

Genau das ist es, was mich stutzig macht. Es muss einfach Lernumgebungen geben, die für Kinder attraktiv sind.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441848) Verfasst am: 31.03.2006, 12:15    Titel: Antworten mit Zitat

Heike N. hat folgendes geschrieben:
Nach unserem heutigen Verständnis waren das Kinder. Im Mittelalter z.B. wurde die Kindheit als wesentlich früher beendet angesehen.

Ja, das ist ein Aspekt.

Heike N. hat folgendes geschrieben:
Es scheint also so zu sein, dass es zwischen wirklichen Erwachsenenalter und Kindheit so eine Art Zwitterzone gab, die aber nicht großartig beachtet wurde bzw. für die es keine explizite "Schutzzone" mehr gab. So wurden z.B. schon 12jährige Mädchen verheiratet und die Ehe vollzogen; 14jährige Mütter waren keine Seltenheit.

Ja. Es sprach für eine 14-jährige auch nichts dagegen, Mutter zu werden. Worauf hätte sie warten sollen? Das ist ein gutes Beispiel für die kulturelle Konstruktion von Kindheit.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
kolja
der Typ im Maschinenraum
Betreiber



Anmeldungsdatum: 02.12.2004
Beiträge: 16631
Wohnort: NRW

Beitrag(#441852) Verfasst am: 31.03.2006, 12:17    Titel: Re: Von der Erfindung der Kindheit Antworten mit Zitat

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Genauso behaupten 4 von 5 Kindergärten in Deutschland, dass sie situationsorientiert arbeiten. Sie beobachten Interessen und Bedürfnisse der Kinder und daraus ergeben sich die Themen der pädagogischen Arbeit. Jeder Erzieher lernt, die Sprache des Situationsansatzes zu sprechen. Ich habe mittlerweile eine ganze Menge Kindergärten von innen gesehen, und ich kenne keinen einzigen, der situationsorientiert arbeitet. Das faszinierende ist: Die Leute glauben wirklich von sich, dass sie so arbeiten.

Magst Du darüber etwas mehr erzählen? Was da so konkret abläuft?
_________________
Hard work often pays off after time, but laziness always pays off now.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441869) Verfasst am: 31.03.2006, 12:36    Titel: Re: Von der Erfindung der Kindheit Antworten mit Zitat

kolja hat folgendes geschrieben:
Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Genauso behaupten 4 von 5 Kindergärten in Deutschland, dass sie situationsorientiert arbeiten. Sie beobachten Interessen und Bedürfnisse der Kinder und daraus ergeben sich die Themen der pädagogischen Arbeit. Jeder Erzieher lernt, die Sprache des Situationsansatzes zu sprechen. Ich habe mittlerweile eine ganze Menge Kindergärten von innen gesehen, und ich kenne keinen einzigen, der situationsorientiert arbeitet. Das faszinierende ist: Die Leute glauben wirklich von sich, dass sie so arbeiten.

Magst Du darüber etwas mehr erzählen? Was da so konkret abläuft?

Unspektakulär. Die Erzieherin mag zu einem bestimmten Thema ein Projekt machen, sagen wir einmal "Reise durch Europa". Laut Situationsansatz sollen sich Projektthemen aber aus der Lebenssituation der Kinder ergeben. Also mal überlegen. Kommt nicht der Ali aus der Türkei und die Anna aus Spanien? Hat nicht der Klaus mal erzählt, dass sein Opa einen Straßenköter aus Spanien adoptiert hat? War nicht die Katja neulich im IKEA, und das kommt doch aus Schweden. Na bitte, das Thema Europa interessiert die Kinder. Etwa so banal läuft es ab, auch in eurem Kindergarten.

Oder noch einfacher: Jetzt ist Sankt Martin. Also entspricht es der Lebenssituation der Kinder, wenn wir jetzt was zu Sankt Martin machen.

Cool ist auch: Ich will morgen mit den Kindern Obstsalat machen. Was nehm ich denn da jetzt für pädagogische Ziele her?
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
kolja
der Typ im Maschinenraum
Betreiber



Anmeldungsdatum: 02.12.2004
Beiträge: 16631
Wohnort: NRW

Beitrag(#441873) Verfasst am: 31.03.2006, 12:51    Titel: Antworten mit Zitat

Ja, das kenne ich auch so. Mit dem Label "situationsorientiert" wurde ich offenbar noch nicht konfrontiert.

Wie könnte es denn in einem echt situationsorientierten Kindergarten ablaufen?
_________________
Hard work often pays off after time, but laziness always pays off now.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441876) Verfasst am: 31.03.2006, 12:53    Titel: Antworten mit Zitat

Häufig taucht auch der Begriff "situativ" auf. Situativ arbeiten geht etwa so. Das Müllauto ist vorbeigefahren und die Kinder sind zum Fenster gegangen und haben geguckt. Also interessieren sich die Kinder für Abfallentsorgung. Also machen wir jetzt ein Umweltprojekt.

Letztlich geht es darum, einen Projektwunsch der Erzieherin zu rechtfertigen. Früher hätte man gesagt, die Kinder lernen diese Woche was über Abfallentsorgung, weil wir schlauen Erwachsenen wissen, das das wichtig ist.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Heike N.
wundert gar nix mehr



Anmeldungsdatum: 16.07.2003
Beiträge: 26138
Wohnort: Bottrop

Beitrag(#441902) Verfasst am: 31.03.2006, 14:08    Titel: Antworten mit Zitat

Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Heike N. hat folgendes geschrieben:
Es scheint also so zu sein, dass es zwischen wirklichen Erwachsenenalter und Kindheit so eine Art Zwitterzone gab, die aber nicht großartig beachtet wurde bzw. für die es keine explizite "Schutzzone" mehr gab. So wurden z.B. schon 12jährige Mädchen verheiratet und die Ehe vollzogen; 14jährige Mütter waren keine Seltenheit.

Ja. Es sprach für eine 14-jährige auch nichts dagegen, Mutter zu werden. Worauf hätte sie warten sollen? Das ist ein gutes Beispiel für die kulturelle Konstruktion von Kindheit.


Prinzipiell spricht nichts dagegen. Da Ehen aber in den seltensten Fällen auf freiwilliger Basis geschlossen wurden, sondern arrangiert wurden und mit der Eheschließung auf ein junges Mädchen nicht nur die Mutterschaft, sondern eine weitergehende enorme Verantwortung zukam, stelle ich mir das nicht so unproblematisch vor. Sie hatte eben so zu funktionieren, wie es eigentlich nur eine erfahrene ältere Frau bewältigen kann; nach unserem heutigen Verständnis eben eine erwachsene Frau und keine Jugendliche.

Im Prinzip ist "Kindheit" kein Konstrukt, sondern lediglich verschiedenste Maßnahmen und gesellschaftliche Ansprüche, die es vom Erwachsenen abgrenzen. Das dies ein zweischneidiges Schwert ist, ist mir auch klar. Einen Vorteil sehe ich aber darin, dass im Idealfall (anders als "früher") der Lernprozess zum "Erwachsen werden" entsprechend einer altersgemäßen Entwicklung vonstatten gehen kann. Einen weiteren Vorteil sehe ich auch in der Erkenntnis, dass Kinder - anders als "körperlich fertige" Erwachsene - gewisse Arbeiten einfach nicht ausführen dürfen, wenn man Wachstumsschäden vermeiden will.
_________________
God is Santa Claus for adults

Front Deutscher Äpfel (F.D.Ä.) - Nationale Initiative gegen die Überfremdung des deutschen Obstbestandes und gegen faul herumlungerndes Fallobst
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden ICQ-Nummer
Wygotsky
registrierter User



Anmeldungsdatum: 25.01.2004
Beiträge: 5014

Beitrag(#441908) Verfasst am: 31.03.2006, 14:17    Titel: Antworten mit Zitat

kolja hat folgendes geschrieben:
Wie könnte es denn in einem echt situationsorientierten Kindergarten ablaufen?

Da soll der Erzieher in der Lage sein, aus den vielen belanglosen Situationen die Schlüsselsituationen zu erkennen. Das sind Situationen, die die Möglichkeit bergen, dass das Kind seine Lebenswelt zum positiven verändert und ein Stück unabhängiger wird. Diese Situationen sollen die Grundlage für Bildungsarbeit sein. Nur möchte man eben nicht nur mit einem Kind arbeiten sondern mit vielen. Also müsste man eine Situation finden, die irgendwie für alle von Belang ist. So kommt dann der oben beschriebene Humbug raus.

Nach meiner Erfahrung haben die meisten Kinder viel schneller als jeder Erwachsene raus, welche Lernschritte ihnen die Unabhängigkeit ermöglichen, die sie wollen.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Shevek
ohne jeglichen Respekt vor Autoritäten



Anmeldungsdatum: 23.01.2006
Beiträge: 4289

Beitrag(#441910) Verfasst am: 31.03.2006, 14:18    Titel: Antworten mit Zitat

Heike N. hat folgendes geschrieben:
Wygotsky hat folgendes geschrieben:
Heike N. hat folgendes geschrieben:
Es scheint also so zu sein, dass es zwischen wirklichen Erwachsenenalter und Kindheit so eine Art Zwitterzone gab, die aber nicht großartig beachtet wurde bzw. für die es keine explizite "Schutzzone" mehr gab. So wurden z.B. schon 12jährige Mädchen verheiratet und die Ehe vollzogen; 14jährige Mütter waren keine Seltenheit.

Ja. Es sprach für eine 14-jährige auch nichts dagegen, Mutter zu werden. Worauf hätte sie warten sollen? Das ist ein gutes Beispiel für die kulturelle Konstruktion von Kindheit.


Prinzipiell spricht nichts dagegen. Da Ehen aber in den seltensten Fällen auf freiwilliger Basis geschlossen wurden, sondern arrangiert wurden und mit der Eheschließung auf ein junges Mädchen nicht nur die Mutterschaft, sondern eine weitergehende enorme Verantwortung zukam, stelle ich mir das nicht so unproblematisch vor. Sie hatte eben so zu funktionieren, wie es eigentlich nur eine erfahrene ältere Frau bewältigen kann; nach unserem heutigen Verständnis eben eine erwachsene Frau und keine Jugendliche.

Normalerweise kam sie doch in den Haushalt ihres Mannes, wo erstmal die Schwiegermutter die Regie hatte. Sie musste nicht alleine einen Haushalt übernehmen.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen   Drucker freundliche Ansicht    Freigeisterhaus Foren-Übersicht -> Kultur und Gesellschaft Alle Zeiten sind GMT + 1 Stunde
Gehe zu Seite 1, 2  Weiter
Seite 1 von 2

 
Gehe zu:  
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht mitmachen.



Impressum & Datenschutz


Powered by phpBB © 2001, 2005 phpBB Group