Ahriman Tattergreis
Anmeldungsdatum: 31.03.2006 Beiträge: 17976
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(#449912) Verfasst am: 11.04.2006, 19:03 Titel: Eine Wallfahrt nach Altötting |
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Wallfahrt in Altötting
Es war ein angenehmer sonniger Tag im Juli. Lebhafter Betrieb herrschte in der Altstadt. Immerhin, gastfreundlich schien das Städtchen zu sein, unter dem Kapellplatz fand ich eine kostenlose Tiefgarage.
Ja, der Kapellplatz, Mittelpunkt und Ziel der Wallfahrten: Ziemlich in der Mitte steht ein kleines rundliches Kirchlein, die Gnadenkapelle. Am unteren Rand ist das Kapuzinerkloster. An der Ecke der Klostermauer in einer Nische rieselt ein Brünnlein. Dort drängen sich ein Dutzend Leute, sie füllen Flaschen mit dem Wasser. Offenbar erwarten sie sich Wunderkraft von diesem Naß. Es scheint mir das christliche Gegenstück zu dem heiligen Brunnen Sem-Sem in Mekka zu sein, von dem Karl May uns berichtet hat. Gleich gegenüber ist das Kino. Seit vielen Jahren läuft dort nur ein einziger Film: "Das Leben Marias". Irgendwann, so um 1980 herum, hat man den mal neu in Farbe drehen lassen, nur für Altötting und nur für dieses Kino.
Im Keller des Kinos findet sich eine Reihe sehr hübscher Dioramen. Hinter kleinen Fenstern reihen sich Miniaturlandschaften, auf Schrifttafeln erfährt man alles Wissenswerte über den Wallfahrtsort und seine Geschichte. Wirklich, es lohnt sich, das anzusehen.
Eine lange, sehr lange Reihe Pilger wallt herbei. Der Pfarrer vorn hat ein Funkmikrophon. Unweit von ihm trägt einer auf dem Rücken einen Kurzwellensender, weiter hinten in der langen Reihe werden auf Stangen Lautsprecher mitgeführt. Auf die Art wird das fortlaufende Gebet synchronisiert, so daß die Pilger am Ende der Schlange nicht nachhinken. Unaufhörlich plappert es: "Gegrüßet seist du Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus. Heilige Maria, Mutter Gottes, bitte für uns Sünder jetzt und in der Stunde unseres Todes." Das Ave Maria. Etliche der Pilger tragen große Holzkreuze auf der Schulter. Sie müßten froh darum sein, daß die Römer Jesus nicht hängten. Denn da müßten sie jetzt jeder einen Galgen mit sich schleppen.
In den alten Zeiten war so eine Wallfahrt eine rechte Gaudi. Berühmt vor allen anderen ist die Wallfahrt der Tölzer im Jahr 1714 zur Schwarzen Madonna in Regensburg. Ein Chronist hat alles genau aufgeschrieben, und so erfahren wir, daß die 83 Wallfahrer - das waren 47 Mannsbilder und 36 Weiberleut - 722 Gänse, 18 Klafter Bratwürste und 44 Fuder gedünstetes Kraut gegessen haben. Und sie haben 3712 Maß Bier getrunken und 621 Fremde verprügelt. Im Tölzer Heimatmuseum sind noch drei zerbrochene Wagscheiter, mit denen man den Fremden auf die Köpfe gehauen hat. Wagscheiter, das sind die kurzen Querhölzer, an denen die Ochsen und Pferde ziehen, und die sind aus dem härtesten Holz und mit Eisen beschlagen. Da der Chronist keinen Krankheitsfall, erst recht keinen Toten vermeldet, ersehen wir hieraus, von welcher Qualität die Bayerischen Köpfe sind. Es wird aber auch gemeldet, daß von den 36 Weiberleut 35 schwanger nach Hause gekommen sind. Auch wird es ganz gewiß entlang dem Weg nach Regensburg neun Monate nach der Wallfahrt so manches freudige Ereignis gegeben haben.
Um drei Seiten des Kapellplatzes reihen sich Geschäfte. Die meisten handeln mit "Devotionalien". Ich besuche einige und bestaune das Angebot. Welch ein Kitsch - es reizt gewaltig die Lachlust. Es gibt kleine barock-verschnörkelte Altäre aus golden eloxiertem Kunststoff, illuminiert mit kleinen Glühbirnchen, und darin ein Bild der Muttergottes, knallbunt. Auch gibt es grausig verkitschte Stereo-Postkarten von Jesus und seiner Mutter. Eine davon mit Marias Bildnis kaufe ich und stecke sie sorgsam ein. Da sehe ich jede Menge Rosenkränze, und was für welche. Schlicht aus Holz, auch aus Glas oder edlerem Material. Wahre Riesendinger mit Perlen so groß wie Kartoffeln sind dabei. Die freundliche Verkäuferin erklärt mir auf meine Frage bereitwillig die Funktion. Es ist ziemlich kompliziert.
Ich kaufte mir dann in der gegenüber liegenden Buchhandlung ein Büchlein über den Rosenkranz, 268 Seiten - wow! Man beginnt mit dem Glaubensbekenntnis. Dann geht es der Folge der Perlen nach mit Vaterunser und noch so einigem. Und dann kommt bei jeder dicken Perle ein Vaterunser, und bei den zehn kleineren jeweils ein Ave Maria. Das dauert schon was, bis man herum ist. In einem Buch über Bayern las ich, daß es auch mal Wett-Rosenkranzbeten in Altötting gab - Rekord 1971 waren 14,6 schmerzhafte und 29,1 glorreiche Rosenkränze pro Stunde, eingestellt von Kreszentia Zachkorn aus Fricklhofen. Hieraus ersieht man, daß es auch noch verschiedene Formen des Gebetes gibt, laut Rosenkranzbuch sind es achtzehn.
Ich wandle durch den Hof eines Hotels am oberen Ende des Platzes und gelange zum Panorama. Sowas gab es früher, vor der Erfindung des Kinos sehr häufig. Ein solches Panorama ist ein kreisrundes Gemälde, das man von innen her betrachtet. Es ist noch eins in Salzburg vorhanden, es befand sich im Vorraum des Kasinos und des traditionsreichen Café Winkler. Das Café haben die Banausen im Stadtrat abreisen lassen, dort befindet sich jetzt ein potthäßliches Kunstmuseum aus Beton. Dieses Panorama hier befindet sich in einem großen runden Bau, und es ist teilweise plastisch ausgeführt: Im Inneren steht man auf einer Art Turm und schaut um sich herum auf das biblische Jerusalem herab. Die Bauwerke sind realistisch nachgebildet und gehen am Rand lückenlos in den gemalten Horizont über. Nahe am Turm lebensgroß gemacht, zum Rand hin verkleinert, erhält das ganze eine erstaunliche Tiefe und sieht viel größer aus als es ist. Mit Hi-Fi-Ton erschallt eine Erklärung aus unsichtbaren Lautsprechern, ein Laser setzt synchron dazu einen roten Fleck immer auf die Stelle, die gerade erklärt wird. Es ist alles da, der Tempel, der Palast des Herodes und natürlich auf dem Berg Golgatha die Kreuzigungsgruppe. Es wurde nichts vergessen.
Wegweiser geleiten mich zur "Mechanischen Krippe". In einem kleinen Souvenirladen bezahle ich brav meinen Eintritt, dann öffnet sich zu meiner Linken eine Tür. Hinter Glasscheiben sicher vor den Fingern der Touristen geborgen, erstreckt sich eine biblische Landschaft. Sie ist bevölkert mit aus Holz geschnitzten Figuren aus Oberammergau. Und diese Figuren bewegen sich. Links dreht ein römischer Wachsoldat seine Runden auf einem wuchtigen Kastell. Im Hintergrund wandelt die Karawane der Heiligen drei Könige. Am vorderen Ende verschwinden sie kopfüber unter der Tischplatte, unter dieser fahren sie zurück an den Anfang und kommen dort wieder herauf. Mich erinnert das an den Sonnengott Helios der Griechen, von dem man glaubte, daß er in der Nacht unterirdisch nach Osten zurückkehrt, um dort am Morgen erneut seine Fahrt über den Himmel anzutreten. Und rechts ist die Krippe. Unter den Hirten ist einer mit einem Stab, der leicht nach hinten geneigte Kopf und seine ganze Haltung verraten, daß er blind ist. Er sieht verteufelt so aus wie Karl Dall, ich muß ordentlich lachen. Aber das ganze ist wirklich ein Kunstwerk, und die Schnitzer, die diese Figuren machten, waren wahre Künstler!
Zu Mittag bin ich Gast bei Gerold Tandler, seinerzeit ein bayerischer Spitzenpolitiker. Ihm gehört der Gasthof "Alte Post" unten am Kapellplatz. Die Schweinshaxe ist ausgezeichnet und gar nicht mal teuer. Auch das Bier ist hervorragend.
Am oberen Ende des Kapellplatzes befindet sich der Kapitelsaal, wirklich sehenswert. Dort sehe ich ein Schild: "Weihe der Andachtsgegenstände täglich um..." Es ist fast soweit, ich gehe hinein und bestaune den Saal. Vor dem Fenster steht eine fast lebensgroße Figurengruppe: Maria und der Verkündigungsengel. Ich muß mal wieder grinsen. Diese Szene ist zahllos oft gemalt worden, und fast immer hat die Jungfrau ein Gebetbuch vor sich - oder eine Bibel? Abgesehen davon, daß man damals keine Bücher kannte, sondern Schriftrollen gebrauchte, so konnte die Jungfrau Maria ganz sicher nicht lesen. Keine Jüdin konnte das.
Und dann sehe ich in einem Glaskasten eine hübsche süße kleine Kirche. Vorn ist ein Münzeinwurf. Neugierig werfe ich den geforderten Obolus ein. Licht geht an, es schnurrt in der Kiste. Ein Mönchlein läutet im Turm eifrig ein Glöckchen. Die Kirchentür öffnet sich, und ein Christkindlein kommt hervormarschiert. Es macht eine segnende Gebärde, dreht sich um, gleitet in die Kirche zurück - klapp, die Tür geht zu und das Licht verlöscht. Ich fand auch noch das berüchtigte hölzerne Negerkindlein auf einem Opferstock für die Mission. Wenn man da eine Münze einwirft, wackelt das Negerlein dankbar und eifrig mit dem Kopf.
Ich rutsche in eine der Kirchenbänke. Die Lehne vor mir ist oben flach, dort legt oder stellt man die Andachtsgegenstände hin. Das ist das deutsche Wort für "Devotionalien". Ich plaziere meine dicke Stereopostkarte. Irgendwo läutet über der Versammlung eine kleine Glocke, dann kommt ein Mönch herein. Ein Mönch wie aus dem Bilderbuch! Lange braune Kutte mit Kapuze auf den Schultern, Tonsur, Sandalen an den bloßen Füßen, und ein dicker Strick um den dicken Leib. Er lächelt freundlich. Ein Lied wird gesungen, es wird gebetet, eine kurze Predigt erfolgt. Dann versprüht er mit einem Wedel etwas Weihwasser. Nun ist meine Postkarte geweiht. Ich schickte sie später an einen Freund, der an Asthma leidet und schrieb dazu, er solle andächtig davor beten, die Maria von Altötting würde ihm sicher helfen. Mein Freund ist ein erklärter Atheist. Seine Frau erzählte mir, er wäre vor Lachen fast von der Couch gefallen.
Die Gnadenkapelle hat einen überdachten Umgang. Sie wird von betenden Pilgern umkreist, ich sah sogar zwei, die das auf den Knien machten. Die Wände des Kirchleins und innen das Dach des Umganges sind fast lückenlos mit kleinen Bildern besetzt, alle ungefähr so groß wie ein Briefbogen. Sie sind auf Holzbrettchen gemalt, es sind Votivbilder. Darauf sehe ich nun Darstellungen, wie die Maria von Altötting aus tiefster Not geholfen hat. Ein Bauer unter einem Traktor oder unter den Hörnern eines Stieres, Autounfälle, ein Bub im Eis eingebrochen, ein brennendes Haus und dergleichen mehr. Fast immer steht oben darüber: "Maria hat geholfen!" Es ist im wahrsten Sinne naive Kunst, und vieles davon birgt in seiner Darstellung eine ungewollte Komik, die einen unbefangenen Betrachter glatt vom Stengel hauen kann. Ich amüsiere mich großartig. Da hängen auch Krücken unter dem Dach, und Arme und Beine.
Ein stetiger Strom Touristen schiebt sich durch die enge Kapelle, in den wenigen Bänken sitzen betende Gläubige. Da ist sie nun, die Jungfrau, das Gnadenbild von Altötting, schwarz vom Kerzenruß der vielen Jahre. Unzählige Kerzen brennen vor ihr, symbolisches Opferfeuer. Außerdem ist die Luft schwer von einer Mischung aus Weihrauch und dem Dunst der schwitzenden Menschen. Dicke silberne Herzen hängen über ihr, in ihnen sind angeblich die Herzen einiger bayerischer Könige. Die sind damit hier symbolisch bestattet.
Durch eine kleine Seitentür gelange ich aufatmend wieder ins Freie und lenke meine Schritte zur Pfarrkirche. Dort, in einem Seitengewölbe, liegt Johann Graf von Tilly, geboren auf Schloß Tilly in Belgien, Feldherr und Führer der Armee der katholischen Liga im Dreißigjährigen Krieg. Er fiel in der Schlacht bei Rain am Lech gegen König Gustav Adolf von Schweden. Durch ein Fenster im Deckel des Sarges kann man seine mumifizierten Überreste sehen.
Dieser Graf Tilly war ein Feldherr, also das Oberhaupt jener Räuber, Vergewaltiger und Mörder, die man beschönigend Landsknechte nannte. Er kämpfte für die katholische Kirche unter dem Zeichen der Jungfrau Maria, just so wie damals Mussolinis Soldaten, als sie Äthiopien überfielen. Deshalb ist er nun hier in einer katholischen Kirche beigesetzt und wird sehr verehrt. Da er für den alleinseligmachenden Glauben, für die eine und wahre Kirche kämpfte, sind alle die fürchterlichen Verbrechen, die seine Söldner begingen, glanzvoll entschuldigt. Als Tillys Soldaten die Stadt Magdeburg eroberten, ermordeten sie gnadenlos alle Einwohner, die sie zu fassen bekamen, Männer Frauen und Kinder, denn die hatten zwar den richtigen Gott, aber die falsche Religion, und sie zahlten keine Kirchensteuer an den Papst. In einer Kirche fanden sie eine Schar Frauen und Mädchen, die sich dorthin geflüchtet hatten. Sie nahmen sie ausnahmslos, gleichgültig ob es noch Kinder waren oder alte Frauen, und vergewaltigten sie auf dem Altar. Und anschließend schlugen sie ihnen die Köpfe ab. Fußhoch wateten die Söldner durch das Blut. Als sie fertig waren mit Magdeburg lag die Stadt in Schutt und Asche, nicht ein Haus war mehr übriggeblieben. Wer sich hatte vor den Soldaten verstecken können, der verbrannte bei lebendigem Leib in seinem Haus. Vierzigtausend Menschen kamen dabei ums Leben. Das taten Tilly und seine Männer im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Möge er dafür in der tiefsten Hölle schmoren! Amen! Der Kerl dort in dem Sarg, dieser Massenmörder und Verbrecher, er sieht nicht nur zum Kotzen aus, sein Leben und seine Taten waren es auch.
Aber der Gesellenverein von Altötting sammelt eifrig Gelder, um ihm ein Denkmal zu errichten. Es wäre besser, dieses Geld für soziale Zwecke zu verwenden, aber tätige Nächstenliebe ist etwas, was den Christen unheimlich schwer fällt.
Ich gehe durch die Pfarrkirche. An ihrem Ausgang, kaum zu sehen, steht eine gut fünf Meter hohe Standuhr. Oben auf ihrem Gehäuse sieht man den Tod, den Sensenmann. Unaufhörlich schwingt er seine Hippe hin und her und mäht die unsichtbare Ernte. Das ist "Der Tod von Eding". Memento mori. Ich lege das Ohr an das Gehäuse - nichts. Kein Ticken. Das ursprüngliche Uhrwerk war wohl altersschwach und wurde durch ein Quarzwerk ersetzt. Und ein Motörchen bewegt nun die Figur des Todes.
Mors certa, hora incerta. Auf deutsch: Todsicher geht die Uhr falsch.
Heinrich Carstensen. Weitergabe unter Angabe des Autorennamens erlaubt.
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