Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen |
Autor |
Nachricht |
Kunigunde Seltsam
Anmeldungsdatum: 10.08.2003 Beiträge: 655
Wohnort: zu Hause
|
(#57828) Verfasst am: 26.11.2003, 20:08 Titel: Engelmacher |
|
|
Ich hatte vor kurzem einen Beitrag geschriebn, in dem es darum ging, dass in ländlichen Gebieten Bayern im 18. und 19. Jh. Neugeborene ab dem 5. Kind bewußt zu Tode vernachlässigt (nicht versorgt) wurden.
Ich habe darüber viel herumgesucht und bin auf eine Dissertationsarbeit gestoßen (Ines E. Koke: "Säuglingssterblichkeit in Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert", 1997, FU Berlin), ist leider nicht online verfügbar.
Darin wird zwar nicht direkt über diese Thema geschrieben, jedoch gibt es darin die Aussage, dass es so etwas tatsächlich gab. Es gab auch einen Verweis über Literatur, die vielleicht mehr bringt. Jedenfalls suche ich weiter.
Die Arbeit war aber auch in anderer Hinsicht interessant. So war z.B. die Säuglingssterblichkeit in katholischen Gebieten höher als in protestantischen, und die bei Mädchen höher als bei Jungen. Als möglich betrachtet wurde auch, dass Kinder, wenn schon viele Geschwister vorhanden waren, bewusst eine schlechtere Pflege erhielten, dass sie noch vor dem 1. Geburtstag starben. Man bedenke, dass damals auf Kindstötung die Todesstrafe gab und mit Verütung sah es auch schlecht aus. Aber wenn ein Kind quasi unbemerkt dahinsiecht, naja, wer achtete schon darauf.
Und das Abtreibungs- und Verhütungsverbot der kath. Kirche bewirkt in den armen Ländern ähnliche Auswirkungen.
|
|
Nach oben |
|
 |
Jeze registrierter User
Anmeldungsdatum: 13.08.2003 Beiträge: 623
|
(#59733) Verfasst am: 03.12.2003, 18:29 Titel: |
|
|
Unter EngelmacherInnen verstand man dazumals trotzdem was anderes:
es waren diejenigen Menschen, die Abtreibungen vornahmen.
Überflüssige oder unerwünschte Kinder wurden (und werden), so kein Engelmacher zur Hand oder bezahlbar, tatsächlich oft auf die von Dir beschriebene Weise umgebracht.
Viel Spass beim Finden weiterer Lektüre dazu, es gibt sie.. :-)
|
|
Nach oben |
|
 |
Burkard Schulte-Vogelheim Gast
|
(#59739) Verfasst am: 03.12.2003, 18:51 Titel: Re: Engelmacher |
|
|
Ich glaube, für Vernachlässigung wird wohl eher die Armut ursächlich sein, früher wie heute. Armut und Kinder"reichtum" ist identisch.
Und in der III. Welt? Dort wird genau das getan, was man hier den Generationsvertrag nennt: viele Kinder sichern halbwegs ein Überleben im Alter.
Gruß
Burkard
|
|
Nach oben |
|
 |
Kunigunde Seltsam
Anmeldungsdatum: 10.08.2003 Beiträge: 655
Wohnort: zu Hause
|
(#59772) Verfasst am: 03.12.2003, 20:14 Titel: |
|
|
Also, ich bin fündig geworden:
Alles, was ich foran zitiere, stammt von Imhof, A. E.: Unterschiedliche Säuglingssterblichkeit in Deutschland, 18. bis 19. Jahthundert - Warum? In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, Jg. 7, Heft 3 (1983a), S. 175 bis 379
Natürlich war die hohe Sterblichkeit vor allem durch Vernachlässigung auf Grund der Armut bedingt. Doch in Bayern gab es die "Tradiotion" des Himmelns, was eine bewußte Vernachlässigung war. Also eine Geburtenregelung quasi nach der Geburt.
Bei Imhof heißt es, als es um den rasanten Anstieg der Säuglingssterblichkeut nach dem 4. Kind ging:
[Zitat]: " Gabelbach lag in einer katholischen Gegend, in der man das sogenannte "Himmeln" kannte. 1801 beschrieb der zeitgenössische Autor Joseph Hazzi diese "Sitte" wie folgt: "Der Bauer freuet sich, wenn sein Weib ihm das erste Pfand seiner Liebe bringt, er freut sich auch noch beim zweiten und dritten, aber nicht so bein voerten. Da treten schon Sorgen an die Stelle der Freude. .... Er sieht alle nachkommenden Kinder für feindliche Geschöpfe an, die ihm und seriner Familie das Brad vor dem Munde wegnehmen. Sogar das zärtlichste Mutterherz wird schon für das fünfte Kind gleichgültig, und dem sechsten wünscht sie schon laut den Tod, daß das Kind himmeln sollte ...""
Was für uns heute wie eine nachgeburtliche Familienplanung aussieht und als schlecht verhüllter Infantizid in Form einer bewußten Vernachlässigung von Säuglingen ab einem bestimmten Geburtsrang zum ausgesprochenen Zweck eines frühzeitigen Ablebens erscheint, nahm sich in den Augen der ... Elternwesentlich anders aus. ...
Weiter: " Dieß [das Himmeln] liegt weder in einer Rohheit noch in der mindern Liebe der Eltern gegen ihre Kinder (Leoprechting, 1855, S. 238). Den himmelnden Kindern blieb - in den Augen ihrer Eltern - nicht nur ein oft elendes Leben hieneiden erspart, sondern mit ihrem Eingehen vom irdischen Jammertal in himmlische Gefilde konnte um so sicherer gerechnet werden, je früher sie als unschhuldige Wesen verstarben ... Was einiz unabdingbar war, und wofür die Eltern unter allem Umständen Sorge zu tragen hatten, war die Taufe zwischen Geburt und Tod. ... Eine Redewendung, die wiederum für den damilgen bayrischen Raum belegt ist, sagt deutlich: Drei verstorbene Kinder haben im Himmel eine solche Macht, daß das Seelenheil auch von Vater und Mutter gesichert ist (Baer, 1976, S. 4 "
[/Zitat]
An den Admin: wenn ich hier falsch zitiere und in Konflikt mit Urheberrechten komme, bitte um Entschuldigung. Die angegebene Quelle ist online nicht verfügbar und ich muss alles abtippen. Deshalb beschränke ich mich auch im Umfang.
|
|
Nach oben |
|
 |
|