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ballancer ... leidet an dianoia ...
Anmeldungsdatum: 27.05.2007 Beiträge: 4767
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(#740815) Verfasst am: 07.06.2007, 15:33 Titel: Scham- und Schuldkultur |
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Dieses Thema zu Fragen der Ethik habe ich als Experiment auch auf dem Focus-Forum gestellt. Mich interessiert auch, wie unterschiedlich die Diskussionsverläufe sind ...
http://de.wikipedia.org/wiki/Scham-_und_Schuldkultur
Zitat: |
Die Begriffe Schamkultur, die dem nahen und fernen Osten zugeschrieben wird, und Schuldkultur, die dem westlichen Abendland zugeschrieben wird, wurden im Jahr 1951 von dem Oxforder Altphilologen Eric Robertson Dodds als Gegensätze eingeführt. |
Ob man hier eine so starke Differenzierung nach Regionen ausmachen kann, erscheint mir fragwürdig. Ich denke, hier handelt es sich um klare Schwerpunkte, die in den jeweiligen Kulturen entwickelt wurden.
Natürlich gibt es auch im Westen Scham und verhalten, dass im Kontext mit diesem steht. Auch vermute ich, dass Schuldempfinden, welches nichts mit der Reaktion von anderen im Zusammenhang steht, in Ostasien existiert.
Dennoch erklärt dieser Ansatz vieles, was wir beobachten können und dient dem besseren gegenseitigen Verständnis.
Zitat: |
In einer Schamkultur muss sich der Geschädigte selber um Wiedergutmachung kümmern. Scham hat zu empfinden, wem Unrecht zugefügt wurde.
In einer schamorientierten Kultur gilt nicht ein ruhiges Gewissen, sondern die öffentliche Wertschätzung als höchstes Gut, demzufolge sind Vergehen, die niemand bemerkt, kein Grund, sich zu schämen. |
Dies erscheint uns überraschend fremd ... zumindest vielen von uns. Dagegen finde ich mich hier wieder:
Zitat: |
In einer Schuldkultur soll Schuld empfinden, wer Unrecht begangen hat. Das eigene Verhalten wird durch das Gewissen als moralisches Korrektiv kontrolliert, dabei ist es nicht von Belang, ob Andere das eigene Vergehen bemerkt haben oder nicht. Als höchstes Gut wird das ruhige Gewissen betrachtet. |
Meine Fragen dazu:
- Dem Christentum kann man tatsächlich eine Grundlage in der Schuldkultur zuordnen. Das sollte unstrittig sein.
- Im Islam erscheint eine Zuordnung bei weitem nicht so leicht möglich. Zum einen ist das beobachtete Verhalten eines der Schamkultur. Allerdings ist der moralische Maßstab, den der Koran und Hadithen bringt, eher ein Moment einer Schuldkultur. Was für Meinungen habt ihr hier?
- Der Atheismus ist zwar keine einheitliche Bewegung, allerdings findet man bei vielen Atheisten einen starken moralischen Anspruch, der hier auf eine Schuldkultur schließen lässt. Irgend welche Einwände?
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Wolf registrierter User
Anmeldungsdatum: 23.08.2004 Beiträge: 16610
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(#740843) Verfasst am: 07.06.2007, 16:07 Titel: |
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Zitat: | - Der Atheismus ist zwar keine einheitliche Bewegung, allerdings findet man bei vielen Atheisten einen starken moralischen Anspruch, der hier auf eine Schuldkultur schließen lässt. Irgend welche Einwände? |
Einige Atheisten glauben nicht an eine Schuld, im klassischen Sinne, welche meiner Ansicht nach einen freien Willen fordert.
Ich zum Beispiel. (Allerdings habe ich es noch nicht geschafft mich emotional davon zu lösen)
Wobei in der Schuldkultur geht es ja bei Schuld, nur um ein Unrechtsbewusstsein, dem könnte ich denke ich zu stimmen.
Aber Schuld im klassischen Sinne geht für mich weiter als ein Unrechtsbewusstsein, es schließt für mich ein, dass das Unrecht zu verhindern war.
P.S.:Ehrenmorde lassen sich nicht der Schuld-, sondern nur der Schamkultur zuordnen, gleiches gilt für Steinigungen von Vergewaltigungsopfern, deswegen würde ich islamische Gesellschaften der Schamkultur zuordnen.
P.P.S.: Auch eine Schamkultur kann hohe moralische Ansprüche haben. Nur halte ich diese Art von Moral für nicht vernünftig.
_________________ Trish:(
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HDG dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 22.05.2007 Beiträge: 702
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(#740859) Verfasst am: 07.06.2007, 16:36 Titel: Re: Scham- und Schuldkultur |
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ballancer hat folgendes geschrieben: | - Der Atheismus ist zwar keine einheitliche Bewegung, allerdings ... |
Auch der Atheist ist letztendlich das Kind seiner Umgebung. Er wird eher das fühlen was man in seinem Kulturkreis so fühlt. Ausnahmen bestätigen natürlich wie immer die Regel.
Ein nettes Beispiel das mir ein Bekannter erzählt hat. Es ist zwar nicht der nahe Osten, aber Asien, China. Die Firma des Bekannten hat etwas Outsourcing betreiben und sich dazu einer Firma in China bedient. Es war ein IT Problem zu lösen. Der Bekannte hat dem Chinesen, eigentlich einer IT Fachkraft, eine Aufgabe gestellt. Diese war zu lösen und das sollte er alleine lösen. Allerdings erkannte der Mann als er alleine war, daß er die Aufgabe zwar lösen wird können, aber bei paar Punkte war er sich nicht sicher ob er es richtig machen wird. Als mein Bekannter nach ca. 4 Stunden zurück kam, saß der Chinese immer noch vor dem Computer, hat aber nichts gemacht. Es hat etwas gedauert bis mein Bekannter dann erfahren hat wieso der Chinese nichts gemacht hat. Denn wenn er etwas gemacht hätte und einen Fehler gemacht hätte, dann hätte er sein Gesicht verloren, also hat er nichts gemacht und eher den Ärger riskiert. Denn das eine ist nur Ärger bekommen, das andere ist mit der Scham verbunden etwas falsch gemacht zu haben. Also machte er lieber nichts.
Das ist aber schon etliche Jahre her. Weiß nicht ob es in den neuen Wirtschaftshochburgen Chinas immer noch so ist oder sich dort das Ganze inzwischen gewandelt hat.
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
Wohnort: Germering
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(#740862) Verfasst am: 07.06.2007, 16:38 Titel: |
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Ich trau mich mal mit einer Systematisierung: Für mich ist das sozusagen eine Implementationsfrage. Ziel (evolutionär herausgebildet) ist in beiden Fällen, daß jedes Individuum die Gemeinschaft weiterbringt.
Im einen Fall funktioniert das über die Implementation von Schuldgefühlen:
- die Gesellschaft deligiert einen Teil der Kontrolle an das individuelle Gewissen, indem sie dort ihre Gebote + entsprechende Schuldgefühle implementiert, allsehende Götter usw.
Im anderen Fall funktioniert es über die Implementation von Schamgefühlen:
- die Gesellschaft übt die Kontrolle direkt über das sichtbare Ergebnis aus, indem sie im Individuum (oder der Sippe) entsprechende Schamgefühle implementiert. Delegiert wird hier dafür die Umsetzung, also mit welcher Moral/Technik jeder das erwartete Resultat erzielt.
Je nach Ziel und Voraussetzungen eignet sich die eine oder andere Implementation besser: Steht das Resultat im Vordergrund und ist der Einzelne eher sekundär, eignet sich die Delegation der Umsetzung, ansonsten die der Moral. Ein Nachteil bei der Schuldkultur ist, daß die Leute schlechter kooperieren, ein Nachteil der Schamkultur, daß der Einzelne weniger glaubwürdig ist.
Interesant wäre idZ auch die Frage, zu welcher Kultur z.B. Primaten neigen.
Wolf hat folgendes geschrieben: | Wobei in der Schuldkultur geht es ja bei Schuld, nur um ein Unrechtsbewusstsein, dem könnte ich denke ich zu stimmen. |
Sehe ich ähnlich. Eine aufgeklärte Variante der Schuldkultur, ja vielleicht sogar ein gemeinsamer Nachfolger beider Kulturen, könnte "Verantwortungskultur" heißen - siehe die Diskussionen um den freien Willen. Ja selbst der Übergang von moralischem zu ethisch reflektiertem Verhalten kombiniert bereits moralische und zielorientierte Aspekte.
Wolf hat folgendes geschrieben: | Ehrenmorde lassen sich nicht der Schuld-, sondern nur der Schamkultur zuordnen, gleiches gilt für Steinigungen von Vergewaltigungsopfern, deswegen würde ich islamische Gesellschaften der Schamkultur zuordnen. |
Ehrenmorde gibt es auch in christlichen und polytheistischen Gesellschaften. Zudem ist der Schamspekt beim Ehrenmord nur schwer vom Vergeltungsaspekt zu trennen.
_________________ Was ist der Sinn des Lebens? - Keiner, aber Leere ist Fülle für den, der sie sieht.
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Evilbert auf eigenen Wunsch deaktiviert
Anmeldungsdatum: 16.09.2003 Beiträge: 42408
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(#740865) Verfasst am: 07.06.2007, 16:43 Titel: |
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Das Ganze hat m.E. nicht das Geringste mit der (fehlenden) Religion zu tun. Die mediterrane Kultur scheint mir da homogen zu sein, egal ob es sich nun um katholische Italiener, orthodoxe Griechen, atheistische Spanier oder muslimische Türken handelt.
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Wolf registrierter User
Anmeldungsdatum: 23.08.2004 Beiträge: 16610
Wohnort: Zuhause
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(#740871) Verfasst am: 07.06.2007, 16:56 Titel: |
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step hat folgendes geschrieben: |
Wolf hat folgendes geschrieben: | Ehrenmorde lassen sich nicht der Schuld-, sondern nur der Schamkultur zuordnen, gleiches gilt für Steinigungen von Vergewaltigungsopfern, deswegen würde ich islamische Gesellschaften der Schamkultur zuordnen. |
Ehrenmorde gibt es auch in christlichen und polytheistischen Gesellschaften. Zudem ist der Schamspekt beim Ehrenmord nur schwer vom Vergeltungsaspekt zu trennen. |
Vergeltung gegen wen?
Zudem denke ich, dass Ehrenmorde in der heutigen christlichen Gesellschaft eine Seltenheit sind und nicht gesellschaftlich legitimiert.
_________________ Trish:(
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HDG dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 22.05.2007 Beiträge: 702
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(#740881) Verfasst am: 07.06.2007, 17:17 Titel: |
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Wolf hat folgendes geschrieben: | Zudem denke ich, dass Ehrenmorde in der heutigen christlichen Gesellschaft eine Seltenheit sind und nicht gesellschaftlich legitimiert. |
In der christlichen Gesellschaft spielten Ehrenmorde eigentlich keine Rolle. Vielmehr ist das Thema eher aus der Sicht der Sippe zu betrachten. Da wo die Sippen eine Rolle spielen, da ist eher die Schamkultur zu finden. Das Individuum ist unwichtig, die Sippe ist wichtig. In Europa denkt man schon lange nicht mehr in Sippen, höchstens nur noch in Familien. Und die sind kleiner. Deshalb hat die Schamkultur wohl weniger mit dem Islam zu tun, als der Tatsache, dort die Sippe eine größere Bedeutung hat.
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ballancer ... leidet an dianoia ...
Anmeldungsdatum: 27.05.2007 Beiträge: 4767
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(#740894) Verfasst am: 07.06.2007, 17:55 Titel: |
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Wolf hat folgendes geschrieben: |
Einige Atheisten glauben nicht an eine Schuld, im klassischen Sinne, welche meiner Ansicht nach einen freien Willen fordert.
Ich zum Beispiel. (Allerdings habe ich es noch nicht geschafft mich emotional davon zu lösen) |
Ich bin ein ganz entschiedener Vertreter des freien Willens. was allerdings einschließt, dass viele Entscheidungen jedoch situations-, kultur- und sozialisationsbedingt weitgehend vorbestimmt sein können. Von daher hoffe ich, dass du dich nicht von dieser emotionalen Orientierung löst, sondern dass du auch zur intellektuellen Einsicht seiner Richtigkeit kommst.
Wolf hat folgendes geschrieben: | Wobei in der Schuldkultur geht es ja bei Schuld, nur um ein Unrechtsbewusstsein, dem könnte ich denke ich zu stimmen.
Aber Schuld im klassischen Sinne geht für mich weiter als ein Unrechtsbewusstsein, es schließt für mich ein, dass das Unrecht zu verhindern war. |
Selbst die deterministischen Neurophilosophen wie Wolf Singer (denen ich nicht zustimme) gehen von einer funktionalen Bedeutung der Schuldgefühle aus, denn diese sind Attraktoren einer sozialen Programmierung.
Wolf hat folgendes geschrieben: | P.S.:Ehrenmorde lassen sich nicht der Schuld-, sondern nur der Schamkultur zuordnen, gleiches gilt für Steinigungen von Vergewaltigungsopfern, deswegen würde ich islamische Gesellschaften der Schamkultur zuordnen. |
Es wird angeführt, dass die Ehrenmord-Geschichte wohl typisch Schamkultur ist, aber nicht typisch islamisch. Es gibt islamische Länder, u.a. die Westtürken, die finden die Ehrenmorde ebenso widerlich wie wir.
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ballancer ... leidet an dianoia ...
Anmeldungsdatum: 27.05.2007 Beiträge: 4767
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(#740896) Verfasst am: 07.06.2007, 18:05 Titel: |
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HDG hat folgendes geschrieben: | Da wo die Sippen eine Rolle spielen, da ist eher die Schamkultur zu finden. Das Individuum ist unwichtig, die Sippe ist wichtig. In Europa denkt man schon lange nicht mehr in Sippen, höchstens nur noch in Familien. Und die sind kleiner. Deshalb hat die Schamkultur wohl weniger mit dem Islam zu tun, als der Tatsache, dort die Sippe eine größere Bedeutung hat. |
Da ist sicher etwas dran, allerdings waren die Schuldkultur-Aspekte, wie sie massiv über die Bibel nach Europa kam, auch in sippenorientierten Gesellschaften anzutreffen. Ist nicht eher die Schamkultur eine Art selbstaffirmative Funktionen konservativer Sippen, die durch die Schuldkultur erst in Richtung Individualisierung aufgelöst wird?
Grundsätzlich sehe ich das aber eher dialektisch iterativ und weniger rein monokausal.
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
Wohnort: Germering
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(#740905) Verfasst am: 07.06.2007, 18:13 Titel: |
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Wolf hat folgendes geschrieben: | Vergeltung gegen wen? |
Es werden ja nicht nur Vergewaltigungsopfer ermordet, um die Ehre wiederherzustellen, sondern auch Mitglieder fremder Sippen, etwa bei der Blutrache. Sowas ist ja auch ein Ehrenmord. Siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Ehrenmord
_________________ Was ist der Sinn des Lebens? - Keiner, aber Leere ist Fülle für den, der sie sieht.
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Wolf registrierter User
Anmeldungsdatum: 23.08.2004 Beiträge: 16610
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(#740913) Verfasst am: 07.06.2007, 18:20 Titel: |
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step hat folgendes geschrieben: | Wolf hat folgendes geschrieben: | Vergeltung gegen wen? |
Es werden ja nicht nur Vergewaltigungsopfer ermordet, um die Ehre wiederherzustellen, sondern auch Mitglieder fremder Sippen, etwa bei der Blutrache. Sowas ist ja auch ein Ehrenmord. Siehe auch http://de.wikipedia.org/wiki/Ehrenmord |
Ja da hast natürlich recht.
Ich meinte Ehrenmord in einem engeren Sinne, aber nicht auf Vergewaltigungsopfer beschränkt leider kenne ich kein Wort dafür.
_________________ Trish:(
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Wolf registrierter User
Anmeldungsdatum: 23.08.2004 Beiträge: 16610
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(#740917) Verfasst am: 07.06.2007, 18:25 Titel: |
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ballancer hat folgendes geschrieben: |
Ich bin ein ganz entschiedener Vertreter des freien Willens. was allerdings einschließt, dass viele Entscheidungen jedoch situations-, kultur- und sozialisationsbedingt weitgehend vorbestimmt sein können. Von daher hoffe ich, dass du dich nicht von dieser emotionalen Orientierung löst, sondern dass du auch zur intellektuellen Einsicht seiner Richtigkeit kommst.
| Klar mache ich. Wenn du mir die Existenzmöglichkeit eines freien Willen zeigen kannst und das meine ich vorallem für eine indeterministische Welt.
Wenn es dir nicht gelingt kommst du dann zu meiner intellektuellen Einsicht?
Zitat: |
Selbst die deterministischen Neurophilosophen wie Wolf Singer (denen ich nicht zustimme) gehen von einer funktionalen Bedeutung der Schuldgefühle aus, denn diese sind Attraktoren einer sozialen Programmierung.
| Habe ich keinenfalls bestritten, aber bessere funktionierende Systeme sind durchaus denkbar. Zitat: |
Wolf hat folgendes geschrieben: | P.S.:Ehrenmorde lassen sich nicht der Schuld-, sondern nur der Schamkultur zuordnen, gleiches gilt für Steinigungen von Vergewaltigungsopfern, deswegen würde ich islamische Gesellschaften der Schamkultur zuordnen. |
Es wird angeführt, dass die Ehrenmord-Geschichte wohl typisch Schamkultur ist, aber nicht typisch islamisch. Es gibt islamische Länder, u.a. die Westtürken, die finden die Ehrenmorde ebenso widerlich wie wir. | Die Ehrenmordgeschichte, im engeren Sinne korreliert zumindest stark mit dem Islam.
_________________ Trish:(
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
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(#740920) Verfasst am: 07.06.2007, 18:27 Titel: |
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ballancer hat folgendes geschrieben: | HDG hat folgendes geschrieben: | Da wo die Sippen eine Rolle spielen, da ist eher die Schamkultur zu finden. Das Individuum ist unwichtig, die Sippe ist wichtig. In Europa denkt man schon lange nicht mehr in Sippen, höchstens nur noch in Familien. Und die sind kleiner. Deshalb hat die Schamkultur wohl weniger mit dem Islam zu tun, als der Tatsache, dort die Sippe eine größere Bedeutung hat. | Da ist sicher etwas dran, allerdings waren die Schuldkultur-Aspekte, wie sie massiv über die Bibel nach Europa kam, auch in sippenorientierten Gesellschaften anzutreffen. Ist nicht eher die Schamkultur eine Art selbstaffirmative Funktionen konservativer Sippen, die durch die Schuldkultur erst in Richtung Individualisierung aufgelöst wird? |
Gab es nicht auch in vorchristlicher Zeit schon Schuldkulturen? Die Idee der individuellen moralischen Integrität gab es doch beispielsweise schon bei den alten Griechen, oder?
Zudem leuchtet mir die Sippenthese nicht ein. Gerade eine kleinere Sippe besteht ja aus besonders individuellen Individuen. Eher würde ich bei der ausgefeilten Schamkultur einen Zusammenhang mit der Bildung großer hierarchischer Gesellschaftsgebilde vermuten.
_________________ Was ist der Sinn des Lebens? - Keiner, aber Leere ist Fülle für den, der sie sieht.
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
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(#740924) Verfasst am: 07.06.2007, 18:31 Titel: |
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Wolf hat folgendes geschrieben: | Die Ehrenmordgeschichte, im engeren Sinne korreliert zumindest stark mit dem Islam. |
Bzw. mit den vorislamischen Bräuchen dort.
Übrigens gibt es in Südeuropa zwar vielleich keine Ehrenmorde an V-Opfern, aber auch dort herrscht oft die Ansicht vor, daß die Frau nicht nur "selbst schuld" ist, sondern "eine Schlampe". Vielleicht hat ja auch alles damit zu tun, in welcher Gesellschaft sich die Männer siccherer sein können, daß evtl. Kinder von ihnen sind?
_________________ Was ist der Sinn des Lebens? - Keiner, aber Leere ist Fülle für den, der sie sieht.
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ballancer ... leidet an dianoia ...
Anmeldungsdatum: 27.05.2007 Beiträge: 4767
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(#740940) Verfasst am: 07.06.2007, 18:56 Titel: |
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Wolf hat folgendes geschrieben: | ballancer hat folgendes geschrieben: |
Ich bin ein ganz entschiedener Vertreter des freien Willens. was allerdings einschließt, dass viele Entscheidungen jedoch situations-, kultur- und sozialisationsbedingt weitgehend vorbestimmt sein können. Von daher hoffe ich, dass du dich nicht von dieser emotionalen Orientierung löst, sondern dass du auch zur intellektuellen Einsicht seiner Richtigkeit kommst.
| Klar mache ich. Wenn du mir die Existenzmöglichkeit eines freien Willen zeigen kannst und das meine ich vorallem für eine indeterministische Welt.
Wenn es dir nicht gelingt kommst du dann zu meiner intellektuellen Einsicht?
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Das Gehirn ist ja bekanntlich ein recht großer Verbund nicht-linearer Systeme. Um so dichter man diese am Kipppunkt sieht, desto geringer ist der Impuls, der die Systeme zur Verhaltensänderung führt. Bis hin zu Quantenereignissen ... somit ist das Verhalten des Gehirnes nicht physisch determiniert.
Persönlich bin ich allerdings Dualist und gehe von einer immateriellen Seele aus. Diese ist denkmöglich als Bestimmungsglied für die physikalisch indeterminierten neuronalen Ereignissen.
Kurz gesprochen: Das Gehirn ist ein teilautonomer Empfänger und Verstärker für Impulse der Seele.
Als weitere Hinweise siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/John_Carew_Eccles
Zitat: |
Eccles lehnte einen strikten Materialismus, also die Position, das Bewusstsein lasse sich auf rein physikalische und chemische Prozesse zurückführen, ab. Er verglich etwa das Gehirn mit einem Computer und das „Ich“ mit dessen Programmierer. Dieses Ich (Geist, Seele) sei übernatürlich und bediene sich des Gehirns als Instrument; es gebe Anlass zur Hoffnung, dass es nach dem Tod weiterbestehe. Diese Position wird in der Philosophie des Geistes als interaktionistischer Dualismus bezeichnet. |
weiter bei
http://de.wikipedia.org/wiki/Philosophie_des_Geistes#Interaktionistischer_Dualismus
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Argáiþ dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 27.01.2007 Beiträge: 12486
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(#740947) Verfasst am: 07.06.2007, 19:03 Titel: |
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step hat folgendes geschrieben: | Wolf hat folgendes geschrieben: | Die Ehrenmordgeschichte, im engeren Sinne korreliert zumindest stark mit dem Islam. |
Bzw. mit den vorislamischen Bräuchen dort.
Übrigens gibt es in Südeuropa zwar vielleich keine Ehrenmorde an V-Opfern, aber auch dort herrscht oft die Ansicht vor, daß die Frau nicht nur "selbst schuld" ist, sondern "eine Schlampe". Vielleicht hat ja auch alles damit zu tun, in welcher Gesellschaft sich die Männer siccherer sein können, daß evtl. Kinder von ihnen sind? |
Ich fürchte, dass das nicht zutrifft, sondern wirklich die Vorstellung kursiert, die Frau habe es ein Stück weit provoziert, bzw es letztlich zugelassen.
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Wolf registrierter User
Anmeldungsdatum: 23.08.2004 Beiträge: 16610
Wohnort: Zuhause
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(#740950) Verfasst am: 07.06.2007, 19:08 Titel: |
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ballancer hat folgendes geschrieben: |
Das Gehirn ist ja bekanntlich ein recht großer Verbund nicht-linearer Systeme. Um so dichter man diese am Kipppunkt sieht, desto geringer ist der Impuls, der die Systeme zur Verhaltensänderung führt. Bis hin zu Quantenereignissen ... somit ist das Verhalten des Gehirnes nicht physisch determiniert.
| Das dürfte falsch sein, die Quantenvorgänge spielen auf solch großen Bereich keine Rolle. Ist aber auch egal, danach habe ich nicht gefragt. Zitat: |
Persönlich bin ich allerdings Dualist und gehe von einer immateriellen Seele aus. Diese ist denkmöglich als Bestimmungsglied für die physikalisch indeterminierten neuronalen Ereignissen. | Sind dieses Bestimmungsglied bestimmt oder zufällig. (Irgendwelche Indizien für die Existenz einer Seele?)
Zitat: |
Kurz gesprochen: Das Gehirn ist ein teilautonomer Empfänger und Verstärker für Impulse der Seele.
| Du verschiebst das Problem nur.
Kann man wollen was man will?[quote]
Als weitere Hinweise siehe: http://de.wikipedia.org/wiki/John_Carew_Eccles
Zitat: |
Eccles lehnte einen strikten Materialismus, also die Position, das Bewusstsein lasse sich auf rein physikalische und chemische Prozesse zurückführen, ab. Er verglich etwa das Gehirn mit einem Computer und das „Ich“ mit dessen Programmierer. Dieses Ich (Geist, Seele) sei übernatürlich und bediene sich des Gehirns als Instrument; es gebe Anlass zur Hoffnung, dass es nach dem Tod weiterbestehe. Diese Position wird in der Philosophie des Geistes als interaktionistischer Dualismus bezeichnet. |
Naja das find ich nicht gerade überzeugend.
_________________ Trish:(
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kolja der Typ im Maschinenraum

Anmeldungsdatum: 02.12.2004 Beiträge: 16631
Wohnort: NRW
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(#740953) Verfasst am: 07.06.2007, 19:13 Titel: |
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step hat folgendes geschrieben: | Übrigens gibt es in Südeuropa zwar vielleich keine Ehrenmorde an V-Opfern, aber auch dort herrscht oft die Ansicht vor, daß die Frau nicht nur "selbst schuld" ist, sondern "eine Schlampe". Vielleicht hat ja auch alles damit zu tun, in welcher Gesellschaft sich die Männer siccherer sein können, daß evtl. Kinder von ihnen sind? |
Semnon hat folgendes geschrieben: | Ich fürchte, dass das nicht zutrifft, sondern wirklich die Vorstellung kursiert, die Frau habe es ein Stück weit provoziert, bzw es letztlich zugelassen. |
Der evolutionärere Vorteil braucht den Männern nicht bewusst sein, die Rationalisierung braucht ihn nicht widerspiegeln, um ihn zu ermöglichen.
_________________ Hard work often pays off after time, but laziness always pays off now.
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kolja der Typ im Maschinenraum

Anmeldungsdatum: 02.12.2004 Beiträge: 16631
Wohnort: NRW
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(#740955) Verfasst am: 07.06.2007, 19:16 Titel: |
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Wie konnte eigentlich Popper ein Vertreter dieses interaktionistischen Dualismus sein? Mir scheint diese Position mit dem kritischen Rationalismus komplett unverträglich.
_________________ Hard work often pays off after time, but laziness always pays off now.
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Argáiþ dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 27.01.2007 Beiträge: 12486
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(#740974) Verfasst am: 07.06.2007, 19:44 Titel: |
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kolja hat folgendes geschrieben: | step hat folgendes geschrieben: | Übrigens gibt es in Südeuropa zwar vielleich keine Ehrenmorde an V-Opfern, aber auch dort herrscht oft die Ansicht vor, daß die Frau nicht nur "selbst schuld" ist, sondern "eine Schlampe". Vielleicht hat ja auch alles damit zu tun, in welcher Gesellschaft sich die Männer siccherer sein können, daß evtl. Kinder von ihnen sind? |
Semnon hat folgendes geschrieben: | Ich fürchte, dass das nicht zutrifft, sondern wirklich die Vorstellung kursiert, die Frau habe es ein Stück weit provoziert, bzw es letztlich zugelassen. |
Der evolutionärere Vorteil braucht den Männern nicht bewusst sein, die Rationalisierung braucht ihn nicht widerspiegeln, um ihn zu ermöglichen. |
Ich glaube, dass die männlichen Individuen in diesen Gesellschaften sehr von der Integrität ihres Umfeldes bezüglich der Sexualmoral überzeugt sind. Deshalb bezweifle ich, dass es so eng mit der Wahrung der genetischen Eigeninteressen verknüpft ist, die jedoch ohne Zweifel die Ursache der Aggression in diesem Zusammenhang ist. D.h. ich sehe nicht, wieso eine Gesellschaft, in der die Männer diese Ehrauffassung haben, weniger sicher bezüglich der genetischen Eigeninteressen sein soll.
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
Wohnort: Germering
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(#740984) Verfasst am: 07.06.2007, 19:56 Titel: |
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kolja hat folgendes geschrieben: | Wie konnte eigentlich Popper ein Vertreter dieses interaktionistischen Dualismus sein? Mir scheint diese Position mit dem kritischen Rationalismus komplett unverträglich. |
Ja, erstaunlich, nach seinen heldenhaften Taten für den KR. Auch die 3-Welten-Theorie (besonders Nr.3) ist aus meiner Sicht ziemlich daneben. Ich finde interessant, daß auch Poppers "Vorgänger" Kant eine parallele Entwicklung hatte: Auch er ging nach großen entmystifizierenden Schritten in der Erkenntnistheorie doch nicht den letzten Schritt.
Dennoch, im Vergleich zu Eccles und Konsorten ist Popper eine andere Liga.
_________________ Was ist der Sinn des Lebens? - Keiner, aber Leere ist Fülle für den, der sie sieht.
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step registriert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 22782
Wohnort: Germering
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(#740992) Verfasst am: 07.06.2007, 20:04 Titel: |
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ballancer hat folgendes geschrieben: | Das Gehirn ist ja bekanntlich ein recht großer Verbund nicht-linearer Systeme. Um so dichter man diese am Kipppunkt sieht, desto geringer ist der Impuls, der die Systeme zur Verhaltensänderung führt. Bis hin zu Quantenereignissen ... somit ist das Verhalten des Gehirnes nicht physisch determiniert. |
Abgesehen mal von der widerlegten Quantenhirn-Hypothese: Wäre das Gehirn ein effektiv chaotisches System bzw. an irgendeinem "Kipppunkt" betrieben, so wäre es in den allermeisten Situationen extrem unzuverlässig und längst ausgestorben. Bedenke, wie zuverlässig das Gehirn determiniert reagieren muß, wenn Bewegungen koordiniert oder Kinder gezeugt werden sollen. Etwaige chaotische Effekte müssen sich also auf superneuronaler Ebene wieder herausmitteln.
Aber das wurde hier ja alles schon ausführlichst diskutiert und ist zudem OT.
_________________ Was ist der Sinn des Lebens? - Keiner, aber Leere ist Fülle für den, der sie sieht.
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CoS Antitheist
Anmeldungsdatum: 10.07.2005 Beiträge: 2734
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(#741038) Verfasst am: 07.06.2007, 21:06 Titel: |
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Wolf hat folgendes geschrieben: | Zudem denke ich, dass Ehrenmorde in der heutigen christlichen Gesellschaft eine Seltenheit sind und nicht gesellschaftlich legitimiert. |
Das ist dann aber abhängig von der Deutung der jeweiligen Religion, denn wenn man die Religion reinweg nach ihren ideologischen Glaubenslehren beurteilt, dann kommt Islam und Christentum aufs gleiche raus.
Ergo ist es doch eine Frage der Deutung der Religion. Der westliche 08/15 Christ (und auch die meisten 08/15 Atheisten) kennt eben nur die Botschaft von Liebe und Frieden. Es gibt genau so Muslime, die ihre Glaubensschrift entsprechend so auslegen.
Dein Vergleich zwischen Christentum und Islam ist von daher nicht objektiv, sondern auf das bezogen was deren Verfechter dazu sagen. Auf diese Weise kannst Du vielleicht die Gesellschaften beurteilen, aber nicht die Religionen
_________________ "Wenn Sie mich suchen, ich halte mich in der Nähe des Wahnsinns auf, genauer gesagt auf der schmalen Linie zwischen Wahnsinn und Panik, gleich um die Ecke von Todesangst, nicht weit weg von Irrwitz und Idiotie!"
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Wolf registrierter User
Anmeldungsdatum: 23.08.2004 Beiträge: 16610
Wohnort: Zuhause
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(#741070) Verfasst am: 07.06.2007, 22:00 Titel: |
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CoS hat folgendes geschrieben: |
Dein Vergleich zwischen Christentum und Islam ist von daher nicht objektiv, sondern auf das bezogen was deren Verfechter dazu sagen. Auf diese Weise kannst Du vielleicht die Gesellschaften beurteilen, aber nicht die Religionen |
Ich verstehe unter Religion bereits die interpretierte Version.
_________________ Trish:(
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Sokrateer souverän
Anmeldungsdatum: 05.09.2003 Beiträge: 11649
Wohnort: Wien
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(#741071) Verfasst am: 07.06.2007, 22:01 Titel: |
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Noch nie gehört. 1951? Inwiefern haben sich diese Thesen denn später bestätigt?
Bei uns gab es früher auch viel Scham. Z.b. galt ein behindertes Kind als Strafe Gottes. Und uneheliche Kinder, so genannte Bastarde, wurden verachtet, obwohl sie selbst ja keinen Anteil an ihrer Zeugung hatten. Schwangere Frauen mussten in schwarz heiraten. Das alles war vor vier Jahrzehnten noch gang und gäbe.
Das Christentum wiederum nutzt die Schuldgefühle der Menschen eigentlich aus, indem sie ihnen einredet, dass alle Menschen mit einer Erbschuld belastet seien, was mit alle den Regeln natürlich auch leicht im Einzelfall überprüfbar ist. Als Lösung für dieses fabrizierte Problem wird dann Jesus als Erlöser von aller Schuld empfohlen.
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Roter Ballon Lifted
Anmeldungsdatum: 22.12.2006 Beiträge: 2631
Wohnort: München
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(#741121) Verfasst am: 07.06.2007, 23:19 Titel: |
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oh seht ein weiteres Kategorienwunder
kaum verwendet man knackige Substantive schon löst sich der Unsinn der Welt in Wohlgefallen auf.
Nette Arbeitshypothese
Warum versuchen wir das nicht einfach mit positiveren Begriffen, die dem Individuum nicht in eine schuld oder schambeladene Ecke gedrängt zurücklassen?
Wie wärs z.B. im Abendland mit dem Konzept "Demut" im vgl. zum Stolz der Morgenländer.
Ehre wär ja auch eher angesagt, für die preussisch - wilhelminische Soldateska vielleicht ohnehin zutreffender.
Oder Pflicht, ein Liebling Luthers, der der älteren Ständeordnung wohl besser entsprachen würde,
Naja, treue gegenüber Glaube und Herrscher etc. solls natürlich auch sein.
Also mein persönlicher Favorit für das Wesen des Abendlandes ist eindeutig Demut.
Wenn dann ist es dieser Komplex den ich als die christliche Setzung schlechthin betrachte.
bei genauerer Betrachtung kann ich da alles unter den Begriff "Universaltugenden" packen und hab dann auf einmal gar keine Trennschärfe mehr zu den ach so fremden asiatischen Lebensweisen.
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ertrage die Clowns!
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Einsiedler registrierter User
Anmeldungsdatum: 01.03.2007 Beiträge: 1435
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(#741229) Verfasst am: 08.06.2007, 09:30 Titel: Re: Scham- und Schuldkultur |
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Der von Dir verlinkte Wikipedia-Artikel gilt nach eigenen Worten als überarbeitungswürdig (die Diskussionsseite enthält
lesenswerte Anmerkungen). Das Thema Scham vs. Schuld ist mir noch nie begegnet und es interessiert mich auch nicht
so sehr, daß ich mich jetzt damit beschäftigen würde [edit: mit Ausnahme dieses einen Beitrags]. Jedenfalls erscheint mir
die Aussage doch reichlich gewagt; es gibt zweifellos Unterschiede zwischen Europa, Orient und Fernost, aber ob diese
Kategorisierung so paßt, bezweifle ich. Wie andere hier schon schrieben, spielt(e) auch in Europa Scham eine nicht zu
vernachlässigende Rolle. Noch im 19. Jahrhundert waren Duelle nicht unüblich - wer auf eine Beleidigung nicht mit einer
Herausforderung reagierte, war gesellschaftlich unten durch. Und Schamgefühle bei Verbrechensopfern gibt es meines
Wissens zumindest bei Vergewaltigungen auch.
Zuletzt bearbeitet von Einsiedler am 08.06.2007, 11:14, insgesamt einmal bearbeitet |
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ballancer ... leidet an dianoia ...
Anmeldungsdatum: 27.05.2007 Beiträge: 4767
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(#741238) Verfasst am: 08.06.2007, 09:44 Titel: |
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Robbe Piere hat folgendes geschrieben: | oh seht ein weiteres Kategorienwunder
kaum verwendet man knackige Substantive schon löst sich der Unsinn der Welt in Wohlgefallen auf.
Nette Arbeitshypothese
Warum versuchen wir das nicht einfach mit positiveren Begriffen, die dem Individuum nicht in eine schuld oder schambeladene Ecke gedrängt zurücklassen? |
Du bringst hier den konzeptionellen Ansatz in Frage und versuchst dich dann mit Alternativen. Ich verstehe deine Kritik so, als ob du in der Scham/Schuld-Differenzierung eine Beliebigkeit entdecken wolltest.
Gehen wir zurück zur Ausgangsthese:
Diese Unterscheidung trifft auf eine empirische Basis und hilft zum Verständnis anderer Menschen und Kulturen.
Hast du dazu eine Gegenthese?
Robbe Piere hat folgendes geschrieben: | Wie wärs z.B. im Abendland mit dem Konzept "Demut" im vgl. zum Stolz der Morgenländer.
Ehre wär ja auch eher angesagt, für die preussisch - wilhelminische Soldateska vielleicht ohnehin zutreffender. |
Die Diskussion um prägende Begriffe halte ich auch für gut. Ich sehe hier aber keinen Gegensatz, der sich in einer Willkür selektiert werden kann, sondern als unterschiedliche Dimension. Der Ansatz der Scham/Schuld-Differenzierung ist keineswegs exklusiv und negiert auch nicht andere Dimension.
Allerdings steht die Dimension Demut/Ehre nicht orthogonal auf Scham/Schuld, sondern ist korreliert. Der Ehrbegriff ist ursprünglich einer aus der Schamkulturwelt. Im Christentum wird dieser redefiniert, dass die Ehre nicht mehr bei den Menschen sei, sondern bei Gott. Damit wird der gesamte Kontext des Ehrbegriffes auf den Kopf gestellt und die Grundlage der Schuldkultur gelegt. Denn Gott. der auch das Verborgene sieh, lässt sich eben nicht durch den Schein blenden.
Daraus resultiert der Lob der Demut, die zu wahrer Ehre führt, aber auch zur Heuchelei, die Demut plakativ vor sich her trägt, um einen alten, menschlichen Schamkulturbegriff mit neuem Inhalt füllt.
Robbe Piere hat folgendes geschrieben: | Oder Pflicht, ein Liebling Luthers, der der älteren Ständeordnung wohl besser entsprachen würde, Naja, treue gegenüber Glaube und Herrscher etc. solls natürlich auch sein.
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Diese Dimension ist ebenfalls eine wichtige, die ich allerdings eher orthogonal auf die anderen Dimensionen sehe. Hier geht es m.E. mehr um Inhalte der Ethik, nicht um Grundmuster.
Robbe Piere hat folgendes geschrieben: | Also mein persönlicher Favorit für das Wesen des Abendlandes ist eindeutig Demut.
Wenn dann ist es dieser Komplex den ich als die christliche Setzung schlechthin betrachte.
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Wir könnten das gerne vertiefen ...
Robbe Piere hat folgendes geschrieben: |
bei genauerer Betrachtung kann ich da alles unter den Begriff "Universaltugenden" packen und hab dann auf einmal gar keine Trennschärfe mehr zu den ach so fremden asiatischen Lebensweisen. |
Der Mangel an Trennschärfe liegt allerdings in deinem Argument. Das führst du gerade ad absurdum.
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ballancer ... leidet an dianoia ...
Anmeldungsdatum: 27.05.2007 Beiträge: 4767
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(#741241) Verfasst am: 08.06.2007, 09:55 Titel: |
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step hat folgendes geschrieben: | ballancer hat folgendes geschrieben: | Das Gehirn ist ja bekanntlich ein recht großer Verbund nicht-linearer Systeme. Um so dichter man diese am Kipppunkt sieht, desto geringer ist der Impuls, der die Systeme zur Verhaltensänderung führt. Bis hin zu Quantenereignissen ... somit ist das Verhalten des Gehirnes nicht physisch determiniert. |
Abgesehen mal von der widerlegten Quantenhirn-Hypothese: Wäre das Gehirn ein effektiv chaotisches System bzw. an irgendeinem "Kipppunkt" betrieben, so wäre es in den allermeisten Situationen extrem unzuverlässig und längst ausgestorben. Bedenke, wie zuverlässig das Gehirn determiniert reagieren muß, wenn Bewegungen koordiniert oder Kinder gezeugt werden sollen.
Etwaige chaotische Effekte müssen sich also auf superneuronaler Ebene wieder herausmitteln.
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Nicht lineare Systeme arbeiten doch völlig deterministisch und analog, solange sie nicht extrem nahe am Kipppunkt sind. Das Argument ist also keines.
Das Herausmitteln - Gesetz der großen Zahl - ist nur stichhaltig in entsprechenden Funktionsbereichen, die eben nicht nahe am Kippunkt sind. Um so näher am Kipppunkt, um so weniger gilt das.
step hat folgendes geschrieben: |
Aber das wurde hier ja alles schon ausführlichst diskutiert und ist zudem OT. |
Ein Verweis wäre hilfreich gewesen. Wenn irgendwann, irgendwer, irgendwie über irgendwas diskutiert, dann kann es so kein Argument sein.
OT ist es deswegen nicht, weil die Schuldkultur ja Schuld voraussetzt. Diese wiederum ist wie Wolf korrekt bemerkte nur dann sinnvoll, wenn eine Handlungsalternative besteht.
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ballancer ... leidet an dianoia ...
Anmeldungsdatum: 27.05.2007 Beiträge: 4767
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(#741251) Verfasst am: 08.06.2007, 10:11 Titel: Re: Scham- und Schuldkultur |
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Einsiedler hat folgendes geschrieben: |
Der von Dir verlinkte Wikipedia-Artikel gilt nach eigenen Worten als überarbeitungswürdig (die Diskussionsseite enthält lesenswerte Anmerkungen). |
Da war die Frage, wer das Konzept erstmalig Aufgebracht hat:
Ist die Scham- und Schuldkultur-Unterscheidung nicht noch vor Dodds von Ruth Benedict eingeführt worden? ("Chrysantheme und Schwert", 1946)
Oder solche Fragen, die ich hier auch aufgriff:
Zweitens hat der Nationalsozialismus sicher nichts mit "Schamkultur" zu tun. Drittens muss man wissen, dass die "Schuldkultur" eine längerfristige Folgeerscheinung des Christentums ist.
Einsiedler hat folgendes geschrieben: | Das Thema Scham vs. Schuld ist mir noch nie begegnet ... |
Das Forum bildet ...
Einsiedler hat folgendes geschrieben: | und es interessiert mich auch nicht so sehr, daß ich mich jetzt damit beschäftigen würde. Jedenfalls erscheint mir die Aussage doch reichlich gewagt; es gibt
zweifellos Unterschiede zwischen Europa, Orient und Fernost, aber ob diese Kategorisierung so paßt, bezweifle ich. |
Wie denn nun? Nicht interessiert - warum setzt du dann einen Beitrag? Oder doch - warum schreibst du dann, dass du nicht interessiert seiest?
Einsiedler hat folgendes geschrieben: | Wie andere hier schon schrieben, spielt(e) auch in Europa Scham eine nicht zu vernachlässigende Rolle. Noch im 19. Jahrhundert waren Duelle nicht unüblich - wer auf eine Beleidigung nicht mit einer Herausforderung reagierte, war gesellschaftlich unten durch. Und Schamgefühle bei Verbrechensopfern gibt es meines Wissens zumindest bei
Vergewaltigungen auch. |
Die Beobachtung sagen nun aus, dass die Unterscheidungen zwischen Scham und Schuld hier nicht relevant wären? Es geht nicht um das emotionale Grundempfinden, sondern um das Letztbegründen der Ethik. Hier scheinen die Kulturen eben deutlich unterschiedliche Prioritäten zu setzen.
So würden sowohl heutige Christen und viele Atheisten eine Judenhatz (oder ein anderer klarer Ethikverstoß) für unethisch und verdammungswürdig halten, selbst wenn ausnahmslos alle Menschen deiner Umgebung dieses betreiben. Klarer Fall von Schuldkultur.
In einer Schamkultur ist es richtig, sich bei Steinigungen zu beteiligen.
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