Telliamed registrierter User
Anmeldungsdatum: 05.03.2007 Beiträge: 5125
Wohnort: Wanderer zwischen den Welten
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(#776351) Verfasst am: 27.07.2007, 06:51 Titel: |
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In Russland sind Schule und Religion nach wie vor getrennt. Dutzende von Millionen Menschen sind schon in der dritten Generation "atheistisch" geimpft.
Nun geistern mitunter Zahlen durch den Blätterwald, wie hoch das Bekenntnis zur orthodoxen Kirche in der Bevölkerung nach 1991 angewachsen sei. Hier darf man sicher nicht von mitteleuropäischen Verhältnissen ausgehen, Konfessionszugehörigkeit wird nicht auf Steuererklärungen abgefragt. Diese hohen Zahlen darf man nicht für bare Münze nehmen, viele "einfache" Leute sagen lediglich: ja sie sehen die russisch-orthodoxe Kirche als ihre Kirche an (was keinesfalls bedeutet, dass sie zuhauf in die Kirche rammeln).
Nach dem Wegfall der einzig-allumspannenden marxistisch-leninistischen Ideologie wurde eine Klammer gesucht, die die Russen zusammenhält, die zu spüren bekamen, dass dieses Imperium nach der Auflösung der Sowjetunion (Wegfall der Ukraine, Belorußlands, der baltischen Republiken) merklich kleiner geworden war.
Russische Kirche bleibt übrig
Eine zeitlang sahen viele, dass nur die orthodoxe Kirche als einig gebliebenes nationales Band übrig geblieben war, ohne deswegen selbst tief gläubig zu werden. Der Kirche "beitreten", würde nämlich bedeuten, an stundenlangen Kulthandlungen teilzunehmen, was mit Arbeitsalltag und normalem Familienleben kaum vereinbar wäre. Das haben nur vereinzelt Leute auf sich genommen. Die sind dann fort aus einem normalen Leben mit Fernsehen und Internet!
Offizieller Nationalistischer Imperiumsgedanke
Die Jelzin- und Putinadministration pflegen zum einen die Erinnerung an das Zarenimperium. Offizielle Staatsideologie ist ein ziemlich grobschlächtiger großrussischer Nationalismus-Chauvinismus. Anstatt Hammer und Sichel auf dem Sowjetpaß jetzt der zarische Doppeladler im Paß der Russischen Föderation. Dazu gehört, dass sich die Jelzins, Putins in den Kirchen an der Seite von möglichst hochrangigen Kirchenfürsten zeigen.
Wenn man in Ex-Kanzler Schröders Buchkapitel über seinen Freund Putin (2006) liest, dass der SPD-Mann (dessen Religiosität nicht zu tief sein dürfte) dem Ex-KGB-Offizier Putin glaube, dass dessen Religiosität echt und tief sei, weiß man nicht, wer hier wen vera... will.
Kulturologie
An Hoch- und anderen Schulen wurde das Fach "Kulturologie" eingeführt, das ebenso wie der Marxismus-Leninismus "allumfassend" und "allerklärend" sein soll und von dem keiner genau weiß, was da alles dazu gehört.
Böse Zungen behaupten, dass diejenigen, die von nichts irgendeine Ahnung haben, ehemalige Lehrstuhlinhaber für Marxismus-Leninismus z.B., in "Kulturologie" machen, das klingt (noch) irgendwie so nach "allwissend".
Und im Rahmen dieser Kulturologie wird dann auch die orthodoxe Kirche vorgestellt, die auch zur "Kultur" gehört. Meines Wissens: von Außenstehenden (wie bei uns Ethikunterricht). Popen und Mönche wagen sich meines Wissens nicht in die Schulen. Wenn aber jemand andere Informationen hat und sich die Lage auch hier geändert haben sollte, bitte! (Erster Grundsatz: "In Russland ist alles möglich!", wird mir immer wieder eingehämmert, wenn ich dort bin). Über diese ominöse Kulturologie vgl. das Büchlein von Jutta Scherrer: Kulturologie. Russland auf der Suche nach einer zivilisatorischen Identität. Göttingen 2003.
Atheismus selbstverständlich! (aber ein bißchen Privat-Magie gibt zusätzliche Sicherheit)
Meine Bekannten haben sämtlich die Jahrzehnte atheistischer Erziehung und Prägung durchlaufen, kennen ihren Holbach (Feuerbach nicht so, ist zu kompliziert) und wissen, was Marx oder Nietzsche für gängige Formeln losgelassen haben, sie sehen praktizierende Christen entweder als "alte Leute" an, oder, wenn sie jünger sind, "Fromm Gewordene", die sich mit Teilnahme an diesen langen Kulthandlungen ihren Familien entziehen.
Es mag eine zeitlang in den 1990er Jahren für Jugendliche ganz "Trend" gewesen sein, jetzt auch mal was ganz anderes zu machen und in die Kirchen zu laufen ... aber im Endeffekt ist das kirchliche Leben derartig mittelalterlich, dass es nur wenige konsequent tun. Viel zu stressig!
Vgl. vielleicht Rolle von Geistlichen und Mönchen in Griechenland.
Das Christentum ist nicht individuell und verinnerlicht, man liest nicht zu Hause in der Bibel, wie bei Protestantens. Das schließt aber nicht aus, daß selbst langjährige Parteimitglieder noch auf der Brust ein Kreuz baumeln haben, in der roten Ecke ihre Ikone stehen haben (und wenn sie noch so klein ist). Der Alltag ist durchzogen mit zahlreichen abergläubischen Überresten aus heidnischer Vorzeit.
Russland ist eigentlich nie konsequent christianisiert worden! An allen Ecken und Enden lugt der alte heidnische Glaube von vor 1000 Jahren hervor. Vgl. Elena Smiljanskaja: Vol'shebniki. Bogochuliteli. Eretiki (Zauberer. Gotteslästerer. Häretiker). Moskau 2003, auf der Grundlage von mehr als 500 Gerichtsakten aus dem 18. Jahrhundert.
Ich würde da recht gelassen mit umgehen, wenn ich den Eingangsbeitrag von @Sokrateer richtig verstanden habe, warnt ja zuerst jemand vor dem Eindringen der Kirche, und dann äußert sich der Patriarch zur "Affenfrage" so, wie er sich natürlich äußern muß und immer äußern wird.
Der hat viel mehr die Sorge, dass ihm asl hohen Kirchenfürsten die ganzen Esoteriker, Methodisten, Scientologen und viele andere Hokuspokusleute den Rang streitig machen, und der Streit mit Ratzes Leuten um die "Westgrenze" ist auch noch nicht ausgestanden.
Es ist eigentlich nicht forenüblich, abwesende Forenmitglieder herbeizuzitieren, aber ich kann es mir nicht verkneifen, ein Forenmitglied zu fragen, ob es hier konform gehen würde oder nur sagt "dummes Geschwafel"
Telliamed
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