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Türkei, 10.11. um 9.05 Uhr

 
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ateyim
registrierter User



Anmeldungsdatum: 21.05.2007
Beiträge: 3656
Wohnort: Istanbul

Beitrag(#857008) Verfasst am: 10.11.2007, 12:55    Titel: Türkei, 10.11. um 9.05 Uhr Antworten mit Zitat

Heute jaehrte sich der Todestag von Atatürk zum 69.Mal, und ich bin das erste Mal an diesem Tag in der Türkei.

Was ich um exakt 9 Uhr 5 hier erlebte (exate Todeszeit) muss ich einfach wiedergeben:

Um 9 Uhr 4 war alles auf den Strassen noch ganz normal. Viele Passanten waren auf dem Weg Zeitungen oder Brot für das Frühstück zu besorgen, einige Schüler in Schuluniform waren auf dem Weg zum Samstagsunterricht, gegenüber von meinem Fenster bereitete ein ca. 70jaehriger Gemüsehaendler seine Holzkarre für den Tag vor und alles schien so wie immer....

um 9 Uhr 5 heulten die Sirenen los... und alles stand still. Ich übertreibe nicht... gerade ich war es, der diese Darstellungen in Deutschland immer angezweifelt hatte.
Die Passanten hielten inne... Maenner wie Frauen standen stramm und der aeltere Gemüsehaendler stand auf und salutierte, eine Würde ausstrahlend, die ich bei ihm noch nie bemerkt hatte. Die Kinder verhielten sich auch so... , niemand da, der ihnen sagte, sie müssen es tun.
Zwei Autos die gerade vorbeifuhren hielten an und die Insassen stiegen aus und standen stramm.
Auf einigen Balkonen gegenüber gingen Familien raus und gedachten des Toten.


Ich habe über Jahrzehnte nun staendig über solche Symbolik gelaestert... diese Masseninszenierungen in Nordkorea und China wo Freude und Trauer auf Knopfdruck kommt.

Das, was ich heute gesehen habe, weiss ich nicht zu beurteilen... Jung und Alt ehrten sie den Mann, der sie in eine neue Aera geführt hat.

Ich sehe Atatürk in vielen Sachen viel kritischer als meine Landsleute hier. Es ist nicht in Ordnung, dass jede Kritik an seinen Taten tabuisiert wird, dass seine Reformen nicht nur als Grundidee unantastbar sind, sondern auch Verfeinerungen und Verbesserungen nicht zulassen.

Aber ich merke gerade heute, trotz meiner kritischen Grundeinstellung, dass dieses Land weit weg von einer islamischen Revolution ist. Regierungen können hier und da Wege in diese Richtung einschlagen und versuchen durch die Hintertür einen islamischen Staat durchzusetzen.

Aber... der türkische Islam war auch schon zu osmanischen Zeiten in keinster Weise vergleichbar mit dem arabischen Islam ... und ohne die Gelder, die vor allem von saudischer Seite in dieses Land gebracht werden, mit dem Ziel, ihre eigene Vorstellung vom Islam hier zu verfestigen, würden wir was die Religion betrifft hier heute nicht über solche Bedrohungen für dieses Land reden.

Jedenfalls habe ich in den letzten zehn Monaten, die ich nun hier bin, den Eindruck gewonnen, dass der gemeine moslemische und kemalistische Türke an und für sich eine Grenze in seiner Islamvorstellung hat. Schariah? Da braucht man nicht das Militaer, da würden genug Türken auf die Barikaden gehen, um das zu verhindern. Verschleierungspflicht? Auch da waeren Millionen binnen kürzester Zeit auf den Strassen.

Das Land muss es bloss schaffen, nicht in eine Starre zu verfallen, wie es beim osmanischen Reich der Fall war, der zum Ende ein unbeweglicher Riese geworden war. Und die Aussicht auf die EU-Vollmitgliedschaft finde ich gut als Mittel zum Zweck. Ich glaube... wie ich oft gesagt habe, dass wir eh nicht aufgenommen werden können, selbst wenn wir alle Bedingungen mit sehr gut erfüllen würden, weil wir einfach als Land zu gross und zu einwohnerreich sind, aber wenn die Aussicht darauf, wenigstens das Land in die richtige Richtung lenkt, dann ist es gut.

Habe doch mal wieder mehr geschrieben, als ich ursprünglich wollte. Abschliessen möchte ich mit den Worten des Ministers für religiöse Angelegenheiten, der letzte Woche meinte, dass der Koran dringend einer neuen Interpretation bedarf. "Die Worte des Korans sind begrenzt, die Welt in der wir leben kennt aber keine Grenzen"... daher müssten die Worte, die damals begrenzt gedeutet wurden, nun in den heutigen Grenzen der Gesellschaft global neu gedeutet werden. Was für ein Frevel wohl in der übrigen islamischen Welt... aber wenn die Türkei diesen Schritt in den kommenden Jahren schaffen kann, dann kaeme das einem Jahrhundertwerk gleich. Wenn die Türkei dann in den Statistiken nicht mehr als "Bevölkerung 99% Sunnitische Moslems" sondern 99% türkische Moslems auftaucht....

Habe fertig zwinkern
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Alchemist
registrierter User



Anmeldungsdatum: 03.08.2004
Beiträge: 27897
Wohnort: Hamburg

Beitrag(#857017) Verfasst am: 10.11.2007, 13:06    Titel: Antworten mit Zitat

Danke.

Ich freue mich immer über "Augenzeugenerichte" aus anderen Teilen der Welt.


Auch wenn Personenverehrungen mit fremd sind. Dein Beispiel zeigt aber, dass Islam nicht gleich Islam ist, so wie einige User das hier ständig propagieren
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Valen MacLeod
Antitheist



Anmeldungsdatum: 11.12.2004
Beiträge: 6172
Wohnort: Jenseits von Eden

Beitrag(#857032) Verfasst am: 10.11.2007, 13:54    Titel: Antworten mit Zitat

Mich irritiert immer diese türkische Fixation auf die osmanische Zeit. Das ist so, als würden die Deutschen in einer Tour von Pickelhauben schwärmen und wirkt einerseits lächerlich, weil man den Eindruck hat, seitdem wäre in der Türkei nichts Wesentliches passiert - und andererseits bedrohlich, als wollten die Türken am liebsten die Weltherrschaft an sich reissen. Das verbinden wir Europäer nämlich immer noch 'mit dem Türken'.
_________________
V.i.S.d.P.:Laird Valen MacLeod (Pseudonym!)
"... Wenn das hier das Haus Gottes ist, Junge, warum blühen hier dann keine Blumen, warum strömt dann hier kein Wasser und warum scheint dann hier die Sonne nicht, Bürschchen?!" <i>Herman van Veen</i>
Das Schlimme an meinen Katastrophenszenarien ist... dass ich damit über kurz oder lang noch immer Recht behielt.
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ateyim
registrierter User



Anmeldungsdatum: 21.05.2007
Beiträge: 3656
Wohnort: Istanbul

Beitrag(#857041) Verfasst am: 10.11.2007, 14:17    Titel: Antworten mit Zitat

hmmm... ich glaube, dieser Zahn ist den Türken im Grunde in den letzten zehn ca. 20 Jahren gezogen worden.

Die Türken haben nach dem Zerfall der UdSSR sogar geglaubt, dass die 'türkischen' Brüderstaaten sich sofort, um die Türkei scharen werden, um kulturell und gesellschaftlich am türkischen Wesen der Türkei zu genesen. Heute ist die Türkei zwar der Bevölkerungsreichste Türkstaat aber wirtschaftlich dermassen von Erdgas und Erdöllieferungen der "kleinen" Brüder abhaengig...

Ich weiss nicht, aber ich kann mir vorstellen, dass viele Laender, die die Geschichte mit Grossreichen dominiert haben, in ihrem Nationalbewusstsein dieser Zeit eine grosse Rolle zuschreiben... (gilt im Grunde auch für Deutschland, wo das Nazireich das Geschichtsbewusstsein eine starke Rolle spielt... haette es das 3.Reich nicht gegeben, würde heute wohl mehr das Kaiserreich im Bewusstsein vertreten sein) im Geschichtsunterricht in Griechenland wird die Antike bestimmt eine übergrosse Rolle einnehmen, und bei den Italienern wird das römische Reich gewiss umfangreicher durchgekaut als bei uns.

In der Türkei ist dies nun mal die Zeit des Osmanischen Reiches... eine Glorifizierung und Verherrlichung im Sinne von, dass man sich die Zeiten zurückwünscht kann ich aber kaum feststellen. Die Janitscharenmusikkapellen spielen vor Museen für die Touristen auf, die Derwische drehen ihre Kreise in der Funktion eines Vereins, der dem Tourismusministerium unterstellt ist, und die alte osmanische Texte können nur noch die Lesen, die es auch Geschichte studieren, weil die Generation die die alte Schrift gelernt hat, nun doch endgültig ausstirbt.

Ich verspüre besonders in der Jugend ein: "Denen zeigen wir es, dass wir im Grunde zur Spitze gehören"... aber eine Weltherrschaft strebt hier gewiss kaum einer an.
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Shadaik
evolviert



Anmeldungsdatum: 17.07.2003
Beiträge: 26377
Wohnort: MG

Beitrag(#857044) Verfasst am: 10.11.2007, 14:23    Titel: Antworten mit Zitat

Valen MacLeod hat folgendes geschrieben:
Mich irritiert immer diese türkische Fixation auf die osmanische Zeit. Das ist so, als würden die Deutschen in einer Tour von Pickelhauben schwärmen und wirkt einerseits lächerlich, weil man den Eindruck hat, seitdem wäre in der Türkei nichts Wesentliches passiert - und andererseits bedrohlich, als wollten die Türken am liebsten die Weltherrschaft an sich reissen. Das verbinden wir Europäer nämlich immer noch 'mit dem Türken'.

"Preussische Tugenden" zwinkern

Hmm, in Deutschland sehe ich durchaus Parallelen, wobei das deutsche Gegenstück eher in der Literatur liegt: Goethe und Schiller sind hier die Entsprechungen, zu Atatürk im speziellen wohl eher Luther.
Auf jeden Fall diese ganze Zeit der Frühmoderne, die heute als Grundlage unserer modernen Kultur betrachtet wird.
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Fische schwimmen nur in zwei Situationen mit dem Strom: Auf der Flucht und im Tode
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