ateyim registrierter User
Anmeldungsdatum: 21.05.2007 Beiträge: 3656
Wohnort: Istanbul
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(#876024) Verfasst am: 04.12.2007, 11:30 Titel: Demokratiemasstaebe |
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Ich muss gerade einen Bericht über die Schweiz aus dem Deutschen ins Türkische übersetzen und bei dem Abschnitt, der sich mit dem Schweizer Demokratieverstaendnis befasst, habe ich wieder mal das Gefühl, dass dieses Land nicht Teil unseres Planeten ist:
Zitat: | Das Volk ist der Souverän
Die besondere Bedeutung von Volksabstimmungen resultiert aus dem Urschweizer Empfinden, dass der Wille des Volkes die endgültige nationale Autorität darstellt. Jede Verfassungsergänzung, die vom Parlament verabschiedet wurde, wird automatisch an die Urne getragen, und muss eine “doppelte” Mehrheit erzielen, dass heißt mehr als die Hälfte der Stimmen und mehr als die Hälfte aller Kantone müssen zustimmen (damit auch bevölkerungsarme Kantone nicht chancenlos sind). Auch die Bürger selbst können Erweiterungen der Verfassung mittels Volksinitiativen bewirken: 100.000 Wähler können mit ihrer Unterschrift eine Volksabstimmung über eine Verfassungserweiterung bewirken. Auch jedes Bundesgesetz kann durch 50.000 Unterschriften zu einem Entscheid per Referendum geführt werden. Die Bundesversammlung könnte in Notfällen sich darauf berufen, dass das Gesetz zu dringlich ist, und keine Zeit besteht, es vors Volk zu tragen, aber davon wird kaum Gebrauch gemacht. Zudem müsste ein solches Notgesetz zeitlich limitiert werden und würde somit nach Ablauf dieser Frist wieder vom Volk zu einem Referendum geführt werden können.
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Als ich das las, erinnerte ich mich an eine vor kurzem durchgeführte Umfrage in der Türkei, wo sich fast 90 Prozent für die Demokratie als die beste Staatsform für dieses Land aussprachen, aber über 60% waren nicht abgeneigt, zum Wohle des Landes die Regierung auch in die autoritaere Hand einer Einzelperson für einen gewissen Zeitraum zu übertragen.
Erwarten wir von Laendern, die den Duft der Demokratie nicht schon im 18. oder 19. Jahrhundert geschnuppert haben, manchmal nicht zu viel? Ist dieses Umfrageergebnis in der Türkei ein Armutszeugnis oder nur ein Beweis dafür, dass man noch nicht reif ist? Ist es naiv, in Russland, Irak oder sonstwo westeuropaeische Demokratiemassstaebe anzusetzen? Ist man nicht zu voreilig und erwartet schnellstmöglich aus mangelnder Geduld Ergebnisse, die sich vielleicht erst in 50,100 oder mehr Jahren einstellen können?
Eine Schweizer Form der Demokratie in der Türkei waere absurd... Stimmenkauf würde zu einer festen Grösse in der Politk werden, erst recht in verarmten Regionen. Oder würde in der Türkei jemals eine Steuererhöhung vom Volk in einem Referendum bestehen können? Niemals! Die Schweizer Demokratieauffassung waere derzeit der totale Untergang für die Türkei.
Haben wir das Recht, die langsame Geschwindigkeit anzuprangern, in der ein Land seinen Weg zur Demokratie beschreitet? Jeden Rückschlag zu verteufeln. Machen wir im Leben nicht auch schlechte Erfahrungen und ziehen unsere Lehren daraus... womöglich gehören diese negativen Ereignisse zum Entwicklungsprozess des Landes dazu.
Klingt sehr nach einer "laissez faire" -Haltung... aber irgendwie habe ich das Gefühl mit meiner westeuropaeischen Praegung oftmals bei der Beurteilung von Situation mich auf einem zu hohen Ross zu befinden, und zwinge mich manchmal diese Position nochmal zu überdenken, bevor ich mir ein Urteil bilde.
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Vanderfrois registrierter User
Anmeldungsdatum: 08.11.2007 Beiträge: 32
Wohnort: Leoben
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(#876614) Verfasst am: 04.12.2007, 20:47 Titel: |
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Ich denke, wir verlangen von der Türkei nichts unmögliches.
Ich denke da immer gern an Mali, wo der Demokratisierungsprozess erst 1990 begann, 1992 die ersten freien Wahlen, und der um einiges schneller ablief als zum Beispiel in Rumänien, und wo die Pressefreiheit zu 100% gegeben ist, und man trotz islamkritischer Meinungen nicht verhaftet wird.
Für ein afrikanisches Land eine echt gewaltige Leistung, wenn ich die Türkei damit vergleiche, wird mir zum Teil schlecht...
Grüße
Vanderfrois
_________________ Ein Blitzableiter auf einem Kirchturm ist das denkbar stärkste Mißtrauensvotum gegen den lieben Gott. Karl Kraus
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