Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich
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#1: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: ChinaskyWohnort: Hoher Norden BeitragVerfasst am: 22.09.2016, 17:37
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Hallo!
In diesem Video kommt Neil de Grasse Tyson ungefähr bei 43:00 auf Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī zu sprechen. Er bringt ihn als so eine Art Analogie-Argument bezogen auf die heutige Situation in den USA, in denen er wohl eine Bedrohung der Wissenschaft/des intellektuellen Niveaus durch die Religion (bzw. den Kreationismus) ausmacht. Mit dem Thema, bzw. der Frage, warum der Islam, oder, besser: die islamische Welt gegen Ende des Mittelalters ihre wissenschaftliche Vorreiterrolle verlor, hab ich mich bislang nie beschäftigt, aber eigentlich finde ich sie interessant.

Nun meine Frage: Kennt einer von Euch eine kompakte und auch für Laien verständliche Übersicht über den Islam, bzw. die islamische Welt und ihr Verhältnis zur (Natur-) Wissenschaft, in welcher auch auf diese spezielle Frage (warum, bzw. wie die Führungsrolle irgendwann verloren ging) eingegangen wird? Schön wäre freilich eine frei im Web zugängliche Darstellung, aber gegebenenfalls werde ich mir auch mal wieder ein Buch zu Gemüte führen. Smilie

#2: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: StandpunktWohnort: Chattischer Bibelgürtel BeitragVerfasst am: 22.09.2016, 19:05
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Chinasky hat folgendes geschrieben:
Hallo!
In diesem Video kommt Neil de Grasse Tyson ungefähr bei 43:00 auf Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī zu sprechen. Er bringt ihn als so eine Art Analogie-Argument bezogen auf die heutige Situation in den USA, in denen er wohl eine Bedrohung der Wissenschaft/des intellektuellen Niveaus durch die Religion (bzw. den Kreationismus) ausmacht. Mit dem Thema, bzw. der Frage, warum der Islam, oder, besser: die islamische Welt gegen Ende des Mittelalters ihre wissenschaftliche Vorreiterrolle verlor, hab ich mich bislang nie beschäftigt, aber eigentlich finde ich sie interessant.

Nun meine Frage: Kennt einer von Euch eine kompakte und auch für Laien verständliche Übersicht über den Islam, bzw. die islamische Welt und ihr Verhältnis zur (Natur-) Wissenschaft, in welcher auch auf diese spezielle Frage (warum, bzw. wie die Führungsrolle irgendwann verloren ging) eingegangen wird? Schön wäre freilich eine frei im Web zugängliche Darstellung, aber gegebenenfalls werde ich mir auch mal wieder ein Buch zu Gemüte führen. Smilie


Johann Christoph Bürgel,
Allmacht und Mächtigkeit, Religion und Welt im Islam, 416 S. Geschockt, München 1991

#3: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: ChinaskyWohnort: Hoher Norden BeitragVerfasst am: 23.09.2016, 02:36
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Standpunkt hat folgendes geschrieben:


Johann Christoph Bürgel,
Allmacht und Mächtigkeit, Religion und Welt im Islam, 416 S. Geschockt, München 1991


Danke für den Tipp, hab's gleich mal bestellt (wird ja nur noch gebraucht angeboten, soll mir aber auch recht sein. Smilie )

#4: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 24.09.2016, 10:26
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Chinasky hat folgendes geschrieben:
Mit dem Thema, bzw. der Frage, warum der Islam, oder, besser: die islamische Welt gegen Ende des Mittelalters ihre wissenschaftliche Vorreiterrolle verlor, hab ich mich bislang nie beschäftigt, aber eigentlich finde ich sie interessant.

Zwei Dinge fallen mir dazu ein.


Erstens:

Neil de Grasse Tyson nennt 800 - 1100 als Blütezeit. Da würde ich schon noch gut 100 Jahre hinzugeben, aber egal. Er nennt Bagdad als intellektuelles Zentrum der arabischen Welt. Passt. Alexandria wäre auch noch zu nennen und das maurische Spanien, Toledo, vielleicht auch Cordoba.

Was de Grasse Tyson nicht erwähnt: Anfang 1200 wurden das maurische Spanien von den Christen zurückerobert. Einige Jahrzehnte später wurde Bagdad von den Mongolen erobert und geschleift.

Ibn Khaldun hat die Ereignisse damals zu einer Art "Geschichtstheorie" verarbeitet. Er sagt: Hochkulturen entstehen, wenn in einem fruchtbaren Land Nahrungsüberschuß herrscht. Dadurch wird es möglich, daß einige sich der Verwaltung, der Technik, der Kunst oder der Gelehrsamkeit widmen. Nach einiger Zeit verstädtert und verweichlicht die Bevölkerung. Einem Barbareneinfall - Franken oder Mongolen - kann diese verstädterte Kultur nicht mehr standhalten.

In seinem Werk sollten sich einige gute, historische Hinweise auf die Eingangsfrage finden lassen. Beim Umfang des Werkes dürfte das aber mit einiger Arbeit verbunden sein. Einstiegspunkt: Muqaddimah



Zweitens:

"Wissenschaft", besser Naturphilosophie, wurde zur arabisch/islamischen Blütezeit von vielen Gelehrten als Weg der Gotteserkenntnis gesehen. In Arabien kam dann aber verstärkt eine mystische Sicht des Islam auf, die die schnöde Welterkenntnis als unwesentlich für die geistig/religiösen Entwicklung ansah.

Das geht wohl in die Richtung die Tyson mit al-Ghazālī anspricht.

#5: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 25.09.2016, 21:42
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Chinasky hat folgendes geschrieben:
In diesem Video kommt Neil de Grasse Tyson ungefähr bei 43:00 auf Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī zu sprechen. Er bringt ihn als so eine Art Analogie-Argument bezogen auf die heutige Situation in den USA, in denen er wohl eine Bedrohung der Wissenschaft/des intellektuellen Niveaus durch die Religion (bzw. den Kreationismus) ausmacht.

Eine knappe Stunde des Videos habe ich gesehen.

Das Interview fand ich als Einstimmung oder Einleitung ganz gut, wenn auch wenig aufregend. Beim Satz, daß Schüler und Studenten ihr Wissen in Tests nur hochwürgen, statt echtes Verständnis zu zeigen, mußte ich schmunzeln. Den Vortrag fand ich unterhaltsam. Besonders gefallen hat mir der Bogen, den er von Ptolemäus über Galilei, Newton bis zu Huyghens zieht - von allen bringt Tyson Zitate, die heute unter Intelligent Design fallen würden.


Tysons These über al-Ghazali halte ich für falsch. Ghazali (1058 - 1111) war nicht das sofortige Ende der arabisch-islamischen Gelehrsamkeit.

Auf sein Werk über die "Inkohärenz der Philosophie" antwortete Ibn Rushd (Averroes) (1126–1198) mit "Die Inkoheränz der Inkoheränz."

Oder:

smallie hat folgendes geschrieben:
- Die erste korrekte Erklärung des Regenbogens durch Kamāl al-Dīn al-Fārisī (1267–1319). Die deutsche Wikipedia kennt ihn nicht einmal. Etwa zeitgleich und unabhängig zu Dietrich von Freiberg in Europa gefunden. Wiki: Rainbow


- Tusi couple

Ein besonders interessanter Fall. Al-Tusi hat 1247 eine Zykloiden-Bewegung als Verbesserung des Ptolemäischen Systems vorgeschlagen. Kopernikus nutzte später die gleiche Idee. Manche Autoren behaupten, Kopernikus Zeichnungen sähen denen Tusis verblüffend ähnlich - zu ähnlich, um Zufall zu sein. Siehe: Whose Science is Arabic Science in Renaissance Europe?

Zitat:

Tusi's diagram of the Tusi couple

http://en.wikipedia.org/wiki/Tusi-couple


Hier das corpus delicti, das missing link, wie Kopernikus von der Sache gewußt haben könnte. Damit sind wir schon um etwa 1430.





Laut Tyson soll Ghazali gesagt haben, Mathematik sei Teufelszeug. Diese Stelle bei Ghazali konnte ich nirgends finden, dafür aber anderes. Fazit: Tyson stellt den Ansatz von Ghazali falsch dar. Ghazali ging es nicht darum, Wissen zu unterdrücken, er hielt es nur unbedeutend für die Fragen, die ihn interessierten. Ghazali schreibt:

Zitat:
[Über Sonnen- und Mondfinsternisse]

Wir haben kein Interesse daran, solche Theorien zu widerlegen, denn die Widerlegung wäre sinnlos. Wer denkt, es sei seine religiöse Pflicht diese Dinge nicht zu glauben, der tut der Religion unrecht und schwächt ihre Aussage. Denn diese Dinge sind durch astronomische und mathematische Belege bestätigt, die keinen Raum für Zweifel lassen. Wenn du jemandem sagst, der diese Dinge studiert hat [...] und darum eine Mond- oder Sonnenfinsternis vorhersagen kann [...] - derartiges widerspräche der Religion, dann wird deine Behauptung nur Zweifel an der Religion erzeugen, nicht aber an diesen Dingen.


We are not interested in refuting such theories either; for the refutation will serve no purpose. He who thinks that it is his religious duty to disbelieve such things is really unjust to religion, and weakens its cause. For these things have been established by astronomical and mathematical evidence which leaves no room for doubt. If you tell a man, who has studied these things — so that he has sifted all the data relating to them, and is, therefore, in a position to forecast when a lunar or a solar eclipse will take place: whether it will be total or partial ; and how long it will last — that these things are contrary to religion, your assertion will shake his faith in religion, not in these things.

http://www.ghazali.org/books/tf/Introduction.htm

Das klingt erstaunlich modern und aufgeklärt für neunhundert Jahre altes Zeug. Kreationisten klingen anders.

#6:  Autor: göttertodWohnort: Freiburg BeitragVerfasst am: 26.09.2016, 02:56
    —
im Studium haben wir diese zwei Philosophen verstärkt betrachtet

Averroes

und

Avicenna


ich hab mir das Video nicht angeschaut, vielleicht kommen sie ja schon darin vor... doch die zwei sind für die damalige Zeit wichtig
Da kannst du ja mal in Wiki stöbern und querlesen.

#7:  Autor: Marcellinus BeitragVerfasst am: 26.09.2016, 10:36
    —
göttertod hat folgendes geschrieben:
im Studium haben wir diese zwei Philosophen verstärkt betrachtet

Averroes

und

Avicenna


ich hab mir das Video nicht angeschaut, vielleicht kommen sie ja schon darin vor... doch die zwei sind für die damalige Zeit wichtig
Da kannst du ja mal in Wiki stöbern und querlesen.


Ja, wichtig, aber leider nicht bestimmend.

#8:  Autor: zelig BeitragVerfasst am: 26.09.2016, 12:06
    —
Gestern bei ttt mitbekommen:
Frankopan, Licht aus dem Osten
http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/ndr/frankopan100.html

Zwar thematisch wohl ein größerer Rahmen, hörte sich aber vielversprechend an.
Andererseits, gerade habe ich ein Buch beiseite gelegt, das so gut besprochen wurde, dann aber doch eine Enttäuschung war (Wehlings "Framing").
Also: Lektüre auf eigenens Risiko! : )

#9: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Zumsel BeitragVerfasst am: 29.09.2016, 16:35
    —
smallie hat folgendes geschrieben:

Zitat:
[Über Sonnen- und Mondfinsternisse]

Wir haben kein Interesse daran, solche Theorien zu widerlegen, denn die Widerlegung wäre sinnlos. Wer denkt, es sei seine religiöse Pflicht diese Dinge nicht zu glauben, der tut der Religion unrecht und schwächt ihre Aussage. Denn diese Dinge sind durch astronomische und mathematische Belege bestätigt, die keinen Raum für Zweifel lassen. Wenn du jemandem sagst, der diese Dinge studiert hat [...] und darum eine Mond- oder Sonnenfinsternis vorhersagen kann [...] - derartiges widerspräche der Religion, dann wird deine Behauptung nur Zweifel an der Religion erzeugen, nicht aber an diesen Dingen.


We are not interested in refuting such theories either; for the refutation will serve no purpose. He who thinks that it is his religious duty to disbelieve such things is really unjust to religion, and weakens its cause. For these things have been established by astronomical and mathematical evidence which leaves no room for doubt. If you tell a man, who has studied these things — so that he has sifted all the data relating to them, and is, therefore, in a position to forecast when a lunar or a solar eclipse will take place: whether it will be total or partial ; and how long it will last — that these things are contrary to religion, your assertion will shake his faith in religion, not in these things.

http://www.ghazali.org/books/tf/Introduction.htm

Das klingt erstaunlich modern und aufgeklärt für neunhundert Jahre altes Zeug. Kreationisten klingen anders.


Na ja, Offensichtliches nicht zu leugnen, dürfte unter Gelehrten wohl schon immer "modern" gewesen sein. Und die Korrektheit der Annahmen einer Wissenschaft zu leugnen, die in der Lage ist, astronomische Phänomene für jeden nachprüfbar exakt vorherzusagen, wäre wohl auch schon vor 900 Jahren etwas gewesen, womit man sich in gebildeten Kreisen der Lächerlichkeit preisgegeben hätte.

#10: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 03.10.2016, 19:37
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Zumsel hat folgendes geschrieben:
Na ja, Offensichtliches nicht zu leugnen, dürfte unter Gelehrten wohl schon immer "modern" gewesen sein. Und die Korrektheit der Annahmen einer Wissenschaft zu leugnen, die in der Lage ist, astronomische Phänomene für jeden nachprüfbar exakt vorherzusagen, wäre wohl auch schon vor 900 Jahren etwas gewesen, womit man sich in gebildeten Kreisen der Lächerlichkeit preisgegeben hätte.

Klingt gut, aber stimmt es denn?

Zu Zeiten Ghazalis stand noch die Erde im Zentrum des Sonnensystems - eine falsche Annahme, die aber gut begründet war, denn im Lauf eines Jahres ändert sich der Blickwinkel auf die Sterne (Parallaxe) nicht. 100 Milliarden Kilometer bis zum nächsten Fixstern, lächerlich, welche Platzverschwendung! zwinkern

Ghazali bezieht sich vermutlich auf die astronomischen Tafeln von Toledo, die zu seinen Lebzeiten erstellt wurden. Solche Tafeln hatten die unangenehme Eigenschaft, im Laufe der Zeit immer ungenauer zu werden.

Das ist ein gutes Stichwort, um einen Blick nach China zu werfen. Die Eingangsfrage stellt sich ja nicht nur für den arabischen Raum; das mittelalterliche China war in technischen Dingen oft weiter als Europa. In China hatte man ungefähr zu gleichen Zeit erkannt, daß die astronomischen Vorhersagen dann doch nicht so ganz genau sind.

Zitat:
Im 11. Jahrhundert erklärte der Beamte Shen Kuo: "Jene in der Welt, die von den Regelmäßigkeiten hinter den Phänomenen sprechen, ... vermögen deren grobe Umrisse auszumachen. Aber diese Regelmäßigkeiten haben äußerst subtile Aspekte, von denen jene, die sich auf die mathematische Astronomie verlassen, nichts wissen können. Und selbst dies sind nicht mehr als Spuren."


Patricia Fara - 4000 Jahre Wissenschaft - S. 58

Für die Chinesen war die Welt ewiger Wandel. Die Idee unwandelbarer Naturgesetze passte schlecht in ihr Weltbild. Das könnte einer von mehreren Gründen sein, warum die moderne Naturwissenschaft nicht auch in China entstanden ist.


Ghazali sagt etwas ganz ähnliches wie Shen Kuo:

Zitat:
Nichteinmal herausragende Intelligenz rechtfertigt den Versuch, die Versteckten Dinge durch deduktive Methoden herleiten zu wollen.

The heretics in our times have heard the awe-inspiring names of people like Socrates, Hippocrates, Plato, Aristotle, etc. They have been deceived by the exaggerations made by the followers of these philosophers — exaggerations to the effect that the ancient masters possessed extraordinary intellectual powers: that the principles they have discovered are unquestionable: that the mathematical, logical, physical and metaphysical sciences developed by them are the most profound: that their excellent intelligence justifies their bold attempts to discover the Hidden Things by deductive methods ;

Der Satz ist gleichzeitig völlig richtig und völlig daneben.


Ghazali hat die Natur mit Gott gleichgesetzt. Deshalb konnte es für ihn keine Naturerkenntnis geben, die Gott widerspräche. Wenn Flüsse plötzlich bergauf fließen sollten - inshallah. So oder so, einen Weg zum Seelenheil bietet die Naturerkenntnis für Ghazali nicht.

Ob das schon der Sargnagel für die arabische Wissenschaft war, so wie Tyson behauptet? Falls ja, erklärt das immer noch nicht, warum moderne Wissenschaft in Europa entstand. Denn in Europa hielt man die Thesen der Griechen und Araber ebenfalls für häretisch.

Zum Beispiel die Meinung, die Welt sei ewig. Oder daß es unmöglich sei, vom natürlichen Lauf der Dinge abzuweichen.

Die Ausgangslage für die weitere Entwicklung der Wissenschaft war in Arabien um 1200 nicht schlechter als bei uns. Was ist zwischen 1200 und 1800 in Europa passiert, das anderswo auf der Welt nicht passiert ist? Diese Zeitspanne brauchte es für die Entwicklung der modernen Wissenschaft.


Newton schreibt noch 1687:

Zitat:
Dies äußerst bewundernswerte System aus Sonne, Planeten und Komenten kann nur durch die Anwaltschaft und Herrschaft eines intelligenten und mächtigen Wesens fortschreiten.

This most beautiful system of the sun, planets, and comets, could only proceed from the counsel and dominion of an intelligent and powerful Being.

https://en.wikipedia.org/wiki/General_Scholium


Huygens schreibt 1698:

Zitat:
Der Finger Gottes und die Weisheit der göttlichen Vorsehung zeigt sich in Pflanzen und Tieren noch weit klarer als in Steinen.

For the finger of God, and the Wisdom of Divine Providence, is in them much more clearly manifested than in the other.

http://crev.info/?scientists=christiaan-huygens


Erst Laplace verzichtet gut hundert Jahre später als einer der ersten auf die Anrufung Gottes als Erklärung. Der Legende nach sagte er zu Napoleon, er brauche diese These nicht. Aber auch Laplace war vermutlich Deist.



Ich denke, das alles übersieht Tyson, wenn er die Antwort auf den Untergang der arabischen Wissenschaft exemplarisch an Ghazali festmacht. Um das auf einen Punkt zu bringen, erinnere ich an Thomas Aquinus, der war als Denker eine Ecke fundamentalistischer als Ghazali. Warum ist Europa nicht bei Aquinus stehengeblieben, aber Arabien bei Ghazali?

#11:  Autor: Marcellinus BeitragVerfasst am: 03.10.2016, 22:09
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Was war anders? Nun, die Reformation! Nein, nicht die Ideen von Luther, die durchaus antiaufklärerisch waren, sondern die "negativen" Folgen, die Beendigung der Priesterherrschaft, zumindest in protestantischen Ländern wie England oder den Niederlanden, verbunden mit den Interessen des beginnenden Welthandels, und damit der praktischen Bedeutung genauer astronomischer und auch anderer wissenschaftlich-technischer Kenntnisse.

#12:  Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 04.10.2016, 01:58
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Marcellinus hat folgendes geschrieben:
Was war anders? Nun, die Reformation! Nein, nicht die Ideen von Luther, die durchaus antiaufklärerisch waren, sondern die "negativen" Folgen, die Beendigung der Priesterherrschaft, zumindest in protestantischen Ländern wie England oder den Niederlanden, verbunden mit den Interessen des beginnenden Welthandels, und damit der praktischen Bedeutung genauer astronomischer und auch anderer wissenschaftlich-technischer Kenntnisse.

Der Unterschied könnte auch früher liegen:
Wir hatten hier ein Adelssystem, das seinen Ursprung nicht in irgendeinem dahergelaufenen Gott hat, es ist unabhängig davon. Auch gab es kein ordentliches Rechtssystem. Das war zwar alles beschissen, aber es wurde verhandelbar, sobald die Obrigkeit unter Druck kam - so entstand in England die Magna Charta.

Im Islam war man zwar der Zeit voraus, aber dadurch, dass alles mit dem Koran und den Regeln des Propheten verbunden wurde, wurde es auch festgeschrieben - einschließlich des Rechts, das darüber wachte, dass das auch so blieb, und dass die Rechte eines Individuums nie über denen der Gemeinschaft standen. Wenn jeder neue Gedanke zuerst an den Worten eines Gottes bzw. seines Propheten gemessen wird, und - falls es sich herausstellen sollte, dass er im Widerspruch zu dieser ewigen Wahrheit steht, dann lernen die Menschen schon als Kinder, die eigenen Gedanken entsprechend zu zügeln.

Insofern ist die Reformation mit ihrer Möglichkeit der Entwicklung und Stärkung der Individualität unabhängig von der Gemeinschaft, die sich irgendwann einmal in den Menschenrechten niederschlug, vielleicht nur die logische Folge dessen, dass das Recht in Europa nicht im Christentum festgeschrieben wurde. Die Gedankenfreiheit ist sowohl ein griechisches als auch römisches als auch germanisches Erbe, gegen das das Christentum sich auf Dauer nicht durchsetzen konnte, weil es versäumt hatte, das irdische Recht festzuschreiben.

Gehandelt haben die Araber auch, aber sie hatten offensichtlich mehr Denksperren.

#13: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: kerengWohnort: Hamburg BeitragVerfasst am: 04.10.2016, 07:57
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smallie hat folgendes geschrieben:
Ghazali hat die Natur mit Gott gleichgesetzt. Deshalb konnte es für ihn keine Naturerkenntnis geben, die Gott widerspräche. Wenn Flüsse plötzlich bergauf fließen sollten - inshallah. So oder so, einen Weg zum Seelenheil bietet die Naturerkenntnis für Ghazali nicht.

Al-Ghazali war Pantheist?
Er hat auch geschrieben, dass man kleinen Kindern den Islam eintrichtern muss und ihnen nichts von religiösen Disputen oder Philosophie (Kalam) erzählen darf, bis der Glaube gefestigt ist. Den Begriff "Kinder" wendete er auch auf das gläubige Volk an, das vor Häresien und Neuerungen geschützt werden muss.

#14: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Zumsel BeitragVerfasst am: 04.10.2016, 11:35
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smallie hat folgendes geschrieben:

Ghazali sagt etwas ganz ähnliches wie Shen Kuo:

Zitat:
Nichteinmal herausragende Intelligenz rechtfertigt den Versuch, die Versteckten Dinge durch deduktive Methoden herleiten zu wollen...


Ghazali hat die Natur mit Gott gleichgesetzt. Deshalb konnte es für ihn keine Naturerkenntnis geben, die Gott widerspräche. Wenn Flüsse plötzlich bergauf fließen sollten - inshallah. So oder so, einen Weg zum Seelenheil bietet die Naturerkenntnis für Ghazali nicht.


Na ja, deduktiver geht es kaum.

smallie hat folgendes geschrieben:
Ob das schon der Sargnagel für die arabische Wissenschaft war, so wie Tyson behauptet? Falls ja, erklärt das immer noch nicht, warum moderne Wissenschaft in Europa entstand. Denn in Europa hielt man die Thesen der Griechen und Araber ebenfalls für häretisch.


Ich weiss nicht genau, wie es bei den Arabern war, aber die abendländische Philosophie war auch schon vor der Reformation äußerst vielfältig. Zwar war das Christentum als Grundwahrheit unhinterfragt, aber um die theologische und philosophische Ausdeutung von Dogmen wurde lebhaft gestritten. Darüber hinaus ist das Erbe der antiken Kultur, das seit dem Sieg der Barabaren über das Weströmische Reich zwar erst mal in Vergessenheit geraten war, nie wirklich verlorengegangen (eigentlich hatte die Antike ja schon das ganze Mittelalter hindurch eine überragende Autorität in Europa, selbst die über Rom siegreichen Barbaren bewunderten die Römer ja im Grunde ihres Herzens) und mit der Renaissance setzte ja sogar eine Verherrlichung und Überhöhung dieser Zeit ein. Das Christentum und das antike Erbe Europas, mit samt seiner Tradition des rationalen Denkens, wurden kompatibel gemacht.

Und was Newton betrifft: Auch der Wunsch, Gottes Wirken verstehen zu wollen, kann ein starker Antrieb wissenschaftlicher Forschung sein.

#15: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 04.10.2016, 12:58
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Zumsel hat folgendes geschrieben:
....
Und was Newton betrifft: Auch der Wunsch, Gottes Wirken verstehen zu wollen, kann ein starker Antrieb wissenschaftlicher Forschung sein.

Wobei man dabei aber ganz schnell in Konflikt mit der Kirche kommen kann. Denn jede eigenständige Erklärung hat nicht nur das Potential, im Widerspruch zur Heiligen Schrift bzw. der gültigen Auslegung derselben zu stehen, sie sie ist gleichzeitig ein Angriff auf die Deutungshoheit der Kirche und schränkt deren Raum ein. Deshalb ist die Kirche ein quasi natürlicher Ankläger gegen die Wissenschaft, und deshalb ist es ungünstig, wenn sie auch noch auf dem Richterstuhl sitzt.

Die Folgen davon beleuchtet Tilman Nagel in der Vorbemerkung zu seinem Aufsatz "Kann es einen säkularisierten Islam geben?"
Zitat:
In einer anschließenden Diskussion nach einem Vortrag zum Thema "Krankheit und Sterben in islamischer Sicht" an der Medizinischen Hochschule Hannover, hob eine muslimische Studentin hervor, der Prophet Mohammed habe gesagt, es gebe für jede Krankheit ein Heilmittel, weswegen alle "guten" Behandlungsmethoden "islamisch" seien; überdies habe er einmal einer Verstorbenen den Leib aufschneiden lassen, um einen verschluckten Goldschmuck zu bergen, woraus zu folgern sei, dass der Islam auch die Autopsie billige.1 Die Absurdität dieser Argumentation, der zufolge angemessene Therapien oder Maßnahmen zur Ermittlung der Todesursache allein unter der Voraussetzung erlaubt sein sollen, dass ein im Jahre 632 in Arabien verstorbener Mann sie guthieß oder eine im äußerlichen Vollzug, nicht einmal in der Zwecksetzung vergleichbare Handlung anordnete, fiel der Mehrheit des Publikums nicht auf; im Gegenteil, es zeigte sich beeindruckt, als die Studentin mit dem Hinweis schloss, man könne an diesen Beispielen die Fortschrittlichkeit des Islam und seine Tauglichkeit für jegliches Zeitalter und jeglichen Ort ablesen.

Was ich dazu liefere ist nur ein Erklärungsversuch, über den man streiten kann. Was Nagel da beschreibt, ist die Existenz einer Denkhaltung, die mit unserer wenig zu tun hat.

#16:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 04.10.2016, 22:06
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Marcellinus hat folgendes geschrieben:
Was war anders? Nun, die Reformation! Nein, nicht die Ideen von Luther, die durchaus antiaufklärerisch waren, sondern die "negativen" Folgen, die Beendigung der Priesterherrschaft, zumindest in protestantischen Ländern wie England oder den Niederlanden, ...

Das ist schon mal gut. Ohne die Reformation hätten so manches Buch nicht verlegt werden können. (Stimmt das? Konnten sich die Leute damals ein Buch, das auf dem Index stand, unter der Hand besorgen?)

Allerdings stellt sich bei der Antwort "Reformation" sofort die nächste Frage: Warum Reformation?

fwo hat dazu schon was gesagt. Mehr fällt mir dazu auch nicht ein.


Marcellinus hat folgendes geschrieben:
... verbunden mit den Interessen des beginnenden Welthandels, und damit der praktischen Bedeutung genauer astronomischer und auch anderer wissenschaftlich-technischer Kenntnisse.

Bingo!

An dieser Stelle würde ich auch ansetzen. Das Argument passt auch für China. Ich sollte das in einem eigenen Beitrag aufschreiben.

#17:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 04.10.2016, 22:22
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fwo hat folgendes geschrieben:
Im Islam war man zwar der Zeit voraus, aber dadurch, dass alles mit dem Koran und den Regeln des Propheten verbunden wurde, wurde es auch festgeschrieben - einschließlich des Rechts, das darüber wachte, dass das auch so blieb, und dass die Rechte eines Individuums nie über denen der Gemeinschaft standen. Wenn jeder neue Gedanke zuerst an den Worten eines Gottes bzw. seines Propheten gemessen wird, und - falls es sich herausstellen sollte, dass er im Widerspruch zu dieser ewigen Wahrheit steht, dann lernen die Menschen schon als Kinder, die eigenen Gedanken entsprechend zu zügeln.

[...]

Gehandelt haben die Araber auch, aber sie hatten offensichtlich mehr Denksperren.

Die Denksperren hatten sie aber vor Ghazali noch nicht. Warum hat sich Ghazali durchgesetzt - wenn ich das etwas voreilig an ihm festmache -, und nicht Averroes und Avicenna? Warum waren beide, wie Marcellinus sagte, nicht bestimmend? Oder besser gesagt: ab 1200 oder 1500 nicht mehr bestimmend?

Ein Beispiel für Denken ohne Sperren:


smallie hat folgendes geschrieben:
Hier einige Belegstücke, was in der islamischen Hochkultur von 800 - 1200 gedacht wurde:



RAZI (ca. 864 - 925)

Al-Razi war Arzt und Alchemist. Er entdeckte den Alkohol und die Schwefelsäure und er war der erste, der die Anfangsstadien von Pocken und Masern unterscheiden konnte. Außerdem war er deistischer Freidenker, der sich mit Kritik nicht zurückhielt.

Zitat:
Rhazes, Rasis, Al-Razi, Abu Bakr Muhammad ibn Zakariya ar-Razi

[...] Razi übte harsche Kritik an Religionen, besonders solche, die eine Offenbarung durch einen Propheten behaupteten. Razi unterstellte, daß "Gott keinen einzelnen Menschen über einen anderen stellen würde und daß zwischen ihnen weder Rivalität noch Uneinigkeit herrschen sollte, denn das wäre ihr Verderben." Sein Argument lautete:

Zitat:
Aus welchem Grund sollte es nötig sein, daß Gott bestimmte Menschen auswählt [in dem er sie zu Propheten macht], daß er sie über andere stellt, daß er sie zu deren Leitbild macht, so daß andere von ihnen abhängig sind?


Über den Zusammenhang von Gewalt und Religion sagt Razi, daß Gott bei den vielen Uneinigkeiten unter den Religionen gewußt haben mußte, daß daraus ein universelles Desaster folgen würde und sie in Feindseligkeiten und Kampf untergehen würden. Tatsächlich sind viele Leute so untergegangen, wie man sehen kann."

Er kritisierte ebenso das fehlende Interesse an einer vernünftigen Analyse ihres Glaubens unter den Anhängern einer Religion, und die sie ersetzenden Gewaltausbrüche.

Zitat:
Frägt man die Anhänger dieser Religion, einen Beweis für die Vernunft ihrer Religion zu geben, dann brausen sie auf, werden wütend und trachten nach dem Blut des Fragestellers. Sie verbieten vernünftige Spekulation und streben den Tod ihrer Widersacher an. Dies ist der Grund, warum die Wahrheit zu etwas wurde, von dem man schweigt und das man bemäntelt.

[...]

[Al-Razi] glaubte, daß die Existenz einer großen Vielzahl von Religion bereits Beweis war, daß alle Menschenwerk sind. "Jesus sagte, er sei der Sohn Gottes, während Moses sagte, Er habe keinen Sohn und Mohammed sagte, daß Jesus wie der Rest der Menschen gezeugt sei." "Mani und Zoroaster waren unvereinbar mit Moses, Jesus und Mohammed, was den Ewigen betrifft, die Erschaffung der Welt und die Gründe für die Existenz von Gut und Böse."


Übersetzt aus http://en.wikipedia.org/wiki/Muhammad_ibn_Zakariya_al-Razi
http://de.wikipedia.org/wiki/Abu_Bakr_Muhammad_ibn_Zakariya_ar-Razi


Das sind starke Aussagen, die auch heute noch gültig sind. Wann wurde in Europa erstmals ähnliches geäußert? Bestimmt nicht vor 1790, Diderot, etc. Oder liege ich da falsch?

(Ein Kandidat fällt mir ein, ein abtrünniger Kirchenmann. Wenn ich seinen Namen noch wüßte... Pfeifen )




PS:

Apropos vergessen. Ibn Khaldun hatte ich erwähnt, aber dieses Detail, daß der Mongoleneinfall die Perser ins Nomadentum zurückgeschickt hat, ist mir entfallen:

smallie hat folgendes geschrieben:
IBN CHALDUN (1332 - 1406)

Chaldun war Autor eines Mammutwerkes, in dem er die bekannten Wissenschaften abhandelte und erstmals eine Form von Geschichtswissenschaft betrieb. Er konstatiert darin den Niedergang der arabischen Dynastien. Seine Begründung:

Gelehrsamkeit braucht seßhafte Lebensweise. Nomanden sind viel zu beschäftigt mit ihrem "Broterwerb". Diese kultivierte Lebensweise führe dazu, daß man einem wütenden Ansturm von Barbarenvölkern nicht mehr standhalten kann. Gemeint ist die mongolischen Invasion Persiens. 1258 endete sie mit der Eroberung Bagdads.


Zitat:
Muqaddimah - Arab and Persian civilizations

Diese Lage [Persien als Zentrum islamischer Gelehrsamkeit] bestand in den Städten fort, solange die Perser und ihre Länder, der 'Iraq, Khurasan, and Transoxania' bei der Seßhaftigkeit blieben. Als aber diese Städte in den Schutt fielen, verschwand die seßhafte Lebensweise, die Gott zur Erlangung von Wissenschaft und Handwerk vorgesehen hat. Mit ihr verschwand jede Gelehrsamkeit unter den nicht-Arabern (Persiern), die sich aufs Wüstendasein zurückziehen mußten.

Gelehrsamkeit war nun beschränkt auf Städte mit einer hohen Zahl an Seßhaften [die nicht zum Broterwerb arbeiten mußten] Heute hat Kairo davon die höchste Zahl. [...]

http://en.wikipedia.org/wiki/Muqaddimah

Wenn das wirklich so war, spielt das sicher auch eine Rolle in dieser ganzen Geschichte.

#18: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 04.10.2016, 22:42
    —
kereng hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Ghazali hat die Natur mit Gott gleichgesetzt. Deshalb konnte es für ihn keine Naturerkenntnis geben, die Gott widerspräche. Wenn Flüsse plötzlich bergauf fließen sollten - inshallah. So oder so, einen Weg zum Seelenheil bietet die Naturerkenntnis für Ghazali nicht.

Al-Ghazali war Pantheist?

Ok, schlecht formuliert. Neuer Versuch:


Wenn ein Naturgesetz erst einmal gefunden ist, stellt sich die Frage, ob ein Gott sich darüber hinwegsetzen kann. Die aufgeklärteren Araber haben das bezweifelt.

Ghazali greift das an:
Zitat:
Widerlegung des Glaubens, daß es unmöglich sei, vom natürlichen Lauf der Dinge abzuweichen.

Refutation of their belief in the impossibility of a departure from the natural course of events

http://www.ghazali.org/books/tf/Introduction.htm


Auch die Pariser Verurteilungen von 1277 greifen diese These an. Verdammt wurden Sätze wie:

Zitat:
- Wenn der Urgrund aufhörte zu sein, dann würden die sekundären Gründe weiterbestehen, solange sie ihrer eigenen Natur folgen.

- Was Unmöglich ist, kann weder von Gott noch einem anderen Verursacher hervorgebracht werden.


100. That, among the efficient causes, if the first cause were to cease to act, the secondary cause would not, as long as the secondary cause operates according to its own nature.

17. That what is impossible absolutely speaking cannot be brought about by God or by another agent. – This is erroneous if we mean when is impossible according to nature.

http://legacy.fordham.edu/gsas/phil/klima/Blackwell-proofs/MP_C22.pdf

Das ist eine Kernfrage im Naturalismus. Erst Laplace war um 1800 wieder soweit, das so klar zu sagen, wie es 800 Jahre zuvor in Arabien gesagt wurde.



kereng hat folgendes geschrieben:
Er hat auch geschrieben, dass man kleinen Kindern den Islam eintrichtern muss und ihnen nichts von religiösen Disputen oder Philosophie (Kalam) erzählen darf, bis der Glaube gefestigt ist. Den Begriff "Kinder" wendete er auch auf das gläubige Volk an, das vor Häresien und Neuerungen geschützt werden muss.

Bei sowas würde ich gerne die Originalstelle lesen. Dann könnte ich das ordentlich mit derartigem vergleichen:

Zitat:
Umgang mit Ketzern
Thomas Aquinas - um 1270

Was Ketzer angeht müssen zwei Punkte beachtet werden: einer betrifft ihre Seite, einer die Seite der Kirche.

Ihre Seite ist die der Sünde, deshalb verdienen sie, nicht nur durch Exkommunikation aus der Kirche ausgeschlossen zu werden, sondern auch durch den Tod von der Welt getrennt zu werden. Denn es ist viel schwerwiegender, den Glauben zu vergiften, der die Seele erhebt, als Geld zu fälschen, das für das zeitige Leben gebraucht wird. Wenn nun die weltlichen Authoritäten Geldfälscher und andere Tunichtgute umgehend zum Tode verurteilen, dann besteht noch viel mehr Grund, Ketzer, sobald sie überführt sind, nicht nur zu exkommunizieren, sondern sogar hinzurichten.



With regard to heretics two points must be observed: one, on their own side; the other, on the side of the Church.

On their own side there is the sin, whereby they deserve not only to be separated from the Church by excommunication, but also to be severed from the world by death. For it is a much graver matter to corrupt the faith that quickens the soul, than to forge money, which supports temporal life. Wherefore if forgers of money and other evil-doers are forthwith condemned to death by the secular authority, much more reason is there for heretics, as soon as they are convicted of heresy, to be not only excommunicated but even put to death.

On the part of the Church, however, there is mercy, which looks to the conversion of the wanderer, wherefore she condemns not at once, but "after the first and second admonition", as the Apostle directs: after that, if he is yet stubborn, the Church no longer hoping for his conversion, looks to the salvation of others, by excommunicating him and separating him from the Church, and furthermore delivers him to the secular tribunal to be exterminated thereby from the world by death.

https://en.wikipedia.org/wiki/Thomas_Aquinas#Treatment_of_heretics

Auf der Scheiterhaufenskala dürfte Aquinas den Ghazali überholt haben. zynisches Grinsen

Warum hat man sich in Europa von Aquinas im Laufe der Zeit distanziert, während man in Arabien auf Ghazali zuging?

#19: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 05.10.2016, 09:53
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
....
Warum hat man sich in Europa von Aquinas im Laufe der Zeit distanziert, während man in Arabien auf Ghazali zuging?

Die Frage ist ja auch, ob sich die heute so geschätzen Leute wie Averroës oder Avicenna damals wirklich in der Mitte des Islam befanden, oder ob sie das, was sie schrieben, nur schreiben konnten, weil sie geografisch und machttechnisch weit genug vom Zentrum entfernt lebten, und ob sie dichter am Zentrum nicht das Schicksal von Jordano Bruno geteilt hätten. Das würde bedeuten, dass nicht der Islam auf Ghazalie zugehen musste, sondern dass das heutige Bild des Islam nur durch einige philosophische Lichtgestalten an seiner Peripherie verklärt würde und mit dem damaligen Islam wenig zu tun hätte.

Außerdem wird das Wirken von Philosophen, besonders von Philosophen, die sich weit vom Zentrum der Macht befinden, maßlos überschätzt. Was nützt Dir das Lesen der Originaltexte von Heidegger oder Habermas zum Verständnis der Republik? Sie beeinflussen allenfalls das Denken erwachsener Menschen, aber die Grenzen des Denkens werden im Kindesalter festgelegt, und da sind andere gesellschaftliche Strukturen wirksam als die philosophische Fakultät.

In dem Zusammenhang noch drei Absätze aus Tilman Nagels Aufsatz "Kann es einen säkularisierten Islam geben?"
Zitat:
Wie alle Kreatur ist der Mensch unmittelbar zu Gott und daher im Heil. Sofern er nach Gottes Ratschluss den Verstand richtig gebraucht, hält er an der einzig wahren Glaubenspraxis fest und handelt somit gut und richtig (vgl. Sure 29, 45). Damit dies nicht, wie bei der übrigen Kreatur, unbewusst geschehe, umfasst Gottes Bestimmungsmacht, seine Fügung, auch das Gesetz, die Scharia. Das Gesetz ist der für den Muslim wichtigste Teilbereich des Wissens, das Gott zuallererst Adam und darauf allen weiteren Propheten in unveränderter Weise übermittelte; Gott lehrte Adam die Namen aller geschaffenen Dinge und Wesen und befähigte ihn dadurch, die Stellvertreterschaft Gottes auf Erden wahrzunehmen (Sure 2, 30-33).5 Die unverbrüchliche Hingewandtheit zum Einen, die Treue zu jenem jenseits menschlicher Spekulation und Erfindungskraft liegenden Wissen und die genannte Stellvertreterschaft bilden einen geschlossenen Argumentationszusammenhang, in dem die muslimischen Vorstellungen von Individuum, Gesellschaft und Staat verankert sind. Im Koran wird dieser Zusammenhang auf unterschiedliche Weise verdeutlicht, etwa wenn es mehrfach heißt, alle Streitfälle seien zur Entscheidung "Gott und seinem Gesandten" vorzulegen (z.B. Sure 4, 59 und 83), denen man Gehorsam schulde (z.B. Sure 8, 20 und 46); am stärksten wirken in dieser Hinsicht die verheißungsvollen Worte von Sure 3, Vers 110: "Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen hervorgebracht wurde. Ihr befehlt das Billigenswerte und verbietet das Tadelnswerte und glaubt an Gott."
...........
Die innere Islamisierung des eroberten Machtbereiches begann, wie schon erwähnt, mit einiger Verzögerung. Neben der Kadi-Gerichtsbarkeit, deren Aufbau um 800 abgeschlossen ist, bildeten sich weitere Institutionen heraus, die stärker noch als erstere im Alltag gegenwärtig waren und sind und das Denken und Empfinden der Muslime weit entschiedener prägen. So hatte der Marktvogt nicht allein die Aufgabe, den Gang der Geschäfte zu kontrollieren, sondern war im weitesten Sinne für die Unterwerfung des öffentlichen Raumes unter die islamische Sittlichkeit zuständig; in Saudi-Arabien und Iran existieren noch bzw. wieder Einrichtungen, deren Beauftragte, auch ohne Scheu vor der Privatsphäre und nicht selten brutal, ihre diesbezüglichen Vorgaben durchsetzen. Nicht zu vergessen ist der nichtinstitutionalisierte Druck zu einem scharia-konformen Verhalten, den der aufmerksame Beobachter in der islamischen Welt und auch unter den in Deutschland lebenden Muslimen allenthalten bemerkt. Schließlich ist jedes Glied der "besten Gemeinschaft" aufgerufen, "das Billigenswerte zu befehlen und das Tadelnswerte zu verbieten" (Sure 3, 110).

Der Vollzug der Individualpflichten und der "Pflichten der genügenden Anzahl" ist durch die Scharia, das durch Gott gesetzte Recht, geregelt, desgleichen alle vertraglichen Verhältnisse, die Muslime mit ihresgleichen oder Andersgläubigen eingehen, sowie die Strafen. Die Scharia basiert auf dem Koran und auf der sich ab der Mitte des 7. Jahrhunderts herausbildenden Überlieferung vom normsetzenden Reden und Handeln Mohammeds. Die Methoden der Auslegung und Anwendung dieser Quellen muss der Kadi beherrschen, jedoch nur insoweit, als seine Amtsgeschäfte betroffen sind. Spätestens im 11. Jahrhundert ist die Islamisierung der Gesellschaft so weit fortgeschritten, dass die Überzeugung dominiert, es gebe keinen Bereich im Leben eines Muslims, der nicht dem Urteil der Scharia unterliege. Wenn er am Jüngsten Tag vor Gott bestehen will, dann muss er darauf bedacht sein, auch die nebensächlichste Lebensregung nach Maßgabe der Botschaft des Korans und vor allem des überlieferten Vorbildes des Propheten zu überprüfen. Ihm dabei Hilfe zu leisten, ist die Aufgabe des Muftis, der nun einen offiziellen Status gewinnt. Ihn kann der Muslim zu allen erdenklichen Problemen befragen, die ihn auf dem Weg durch das Diesseits zum Endgericht bedrängen mögen.

Es ist der Verzicht auf die Institution Kirche und stattdessen die Erziehung der gesamten Gemeinde zu ihrer eigenen Stasi, die den Islam kennzeichnet. Dass die Brisanz dieser Konstruktion noch heute nicht unbedingt theoretisch ist (siehe auch Nagel, oben mittlerer Absatz) sondern tödllich sein kann, stellt Slivia Tellerman in ihrer Dissertation zur Apostasie im Islamischen Recht fest:
Zitat:
Zwar kennen nur wenige muslimische Staaten heute einen gesetzlich geregelten Straftatbestand des Abfalls vom Islam, Opfer gefordert hat jedoch eine andere Einstellung, die der 1954 hingerichtete ägyptische Muslimbruder ‘Abd al-Qadir ‘Auda, der Verfasser des wohl verbreitetsten Lehrbuchs zum islamischen Strafrecht, vertreten hat. Das Fehlen der Strafbarkeit der Apostasie in den modernen Strafgesetzen bedeute keineswegs, daß diese als erlaubt gelten könne. Apostasie gehöre zu den hadd- Delikten und somit zur šari‘a. Die šari‘a aber könne nicht abgeschafft werden. Im ägyptischen Strafrecht sei zudem als Rechtfertigungsgrund verbrieft, daß nicht bestraft werden könne, wer in Ausübung eines Rechts handele. Wer also einen Apostaten töte, nehme ein Recht in Anspruch, das ihm die šari‘a gewährt habe und könne deshalb nicht bestraft werden. Auch wenn weithin vernommene Gegenmeinungen aus dem islamischen Spektrum den Mörder des Apostaten vor Gericht stellen wollen, so ist doch die Auffassung ‘Audas bei dem Mord an dem Schriftsteller Farag Foda 1992 schreckliche Wirklichkeit geworden und während des Prozesses gegen den Mörder haben die von der Verteidigung aufgebotenen Sachverständigen, der bekannte Scheich Muhammad al-Ghazzali und der Azhar-Professor Ahmad Mazru‘a, den Mord ebenfalls als gerechtfertigt bezeichnet.

#20: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 05.10.2016, 23:01
    —
Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Ghazali sagt etwas ganz ähnliches wie Shen Kuo:

Zitat:
Nichteinmal herausragende Intelligenz rechtfertigt den Versuch, die Versteckten Dinge durch deduktive Methoden herleiten zu wollen...


Ghazali hat die Natur mit Gott gleichgesetzt. Deshalb konnte es für ihn keine Naturerkenntnis geben, die Gott widerspräche. Wenn Flüsse plötzlich bergauf fließen sollten - inshallah. So oder so, einen Weg zum Seelenheil bietet die Naturerkenntnis für Ghazali nicht.


Na ja, deduktiver geht es kaum.

Zweifellos.

Deshalb sagte ich ja auch: Der Satz ist gleichzeitig völlig richtig und völlig daneben.



Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Ob das schon der Sargnagel für die arabische Wissenschaft war, so wie Tyson behauptet? Falls ja, erklärt das immer noch nicht, warum moderne Wissenschaft in Europa entstand. Denn in Europa hielt man die Thesen der Griechen und Araber ebenfalls für häretisch.


Ich weiss nicht genau, wie es bei den Arabern war, aber die abendländische Philosophie war auch schon vor der Reformation äußerst vielfältig.

Vor der Reformation, ja. Aber auch schon vor 1200? 1100? Buridan, Abelard - vorher war da nicht viel. War da überhaupt irgendwer?


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Zwar war das Christentum als Grundwahrheit unhinterfragt, aber um die theologische und philosophische Ausdeutung von Dogmen wurde lebhaft gestritten.

Lebhaft gestritten heißt auf deutsch erst mal verdammt. Siehe die Pariser Verurteilungen von oben.



Zumsel hat folgendes geschrieben:
Darüber hinaus ist das Erbe der antiken Kultur, das seit dem Sieg der Barabaren über das Weströmische Reich zwar erst mal in Vergessenheit geraten war, nie wirklich verlorengegangen (eigentlich hatte die Antike ja schon das ganze Mittelalter hindurch eine überragende Autorität in Europa, selbst die über Rom siegreichen Barbaren bewunderten die Römer ja im Grunde ihres Herzens) und mit der Renaissance setzte ja sogar eine Verherrlichung und Überhöhung dieser Zeit ein.

Das Erbe ist zum größeren Teil deshalb nicht verlorengegangen, weil es in Arabien bewahrt wurde. Im christlichen, römischen Reich wurden die Schriften der Griechen als Heidenschriften angesehen. Das war das Ende der großen Bibliothek von Alexandrien.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Das Christentum und das antike Erbe Europas, mit samt seiner Tradition des rationalen Denkens, wurden kompatibel gemacht.

Also war das Christentum vorher inkompatibel mit rationalem Denken?

#21: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: DonMartin BeitragVerfasst am: 05.10.2016, 23:44
    —
smallie hat folgendes geschrieben:

Das Erbe ist zum größeren Teil deshalb nicht verlorengegangen, weil es in Arabien bewahrt wurde. Im christlichen, römischen Reich wurden die Schriften der Griechen als Heidenschriften angesehen. Das war das Ende der großen Bibliothek von Alexandrien.

Das halte ich für ein Gerücht. Ich habe noch gelernt, dass es die (nichtchristlichen) Römer unter Caesar waren, die das ganze abgefackelt haben.
Bei Wiki steht, dass auch das nur ein Gerücht ist, ebenso wie die sonstigen Schuldzuweisungen.
Vermutlich ist sie im Laufe der Jahrhunderte schlicht vergammelt.

#22: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 05.10.2016, 23:51
    —
fwo hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
....
Und was Newton betrifft: Auch der Wunsch, Gottes Wirken verstehen zu wollen, kann ein starker Antrieb wissenschaftlicher Forschung sein.

Wobei man dabei aber ganz schnell in Konflikt mit der Kirche kommen kann. Denn jede eigenständige Erklärung hat nicht nur das Potential, im Widerspruch zur Heiligen Schrift bzw. der gültigen Auslegung derselben zu stehen, sie sie ist gleichzeitig ein Angriff auf die Deutungshoheit der Kirche und schränkt deren Raum ein. Deshalb ist die Kirche ein quasi natürlicher Ankläger gegen die Wissenschaft, und deshalb ist es ungünstig, wenn sie auch noch auf dem Richterstuhl sitzt.

Viel schlimmer.

Newtons Physik stand nie im Widerspruch zur englischen Kirche. Es war sein Glaube, daß die Dreifaltigkeit im Widerspruch zur Heiligen Schrift stand, die ihn in Bedrängnis hätte bringen können.

smallie hat folgendes geschrieben:
- Newton war Arianer, er glaubte nicht an die Dreifaltigkeit, was ihn mit Kepler in Konflikt gebracht hätte, der hielt nämlich die Sonne für Gott, die Fixsterne für Jesus und denn Rest für den heiligen Geist. Newton hat sein Lebtag lang nur mit einem Menschen über seinen Arianismus korrespondiert: John Locke. Die Dreifaltigkeit abzustreiten, war damals nicht ganz ungefährlich.


Daß Newton das ausgerechnet John Locke mitgeteilt hat, erscheint mir bedeutsam.


fwo hat folgendes geschrieben:
Die Folgen davon beleuchtet Tilman Nagel in der Vorbemerkung zu seinem Aufsatz "Kann es einen säkularisierten Islam geben?"
Zitat:
In einer anschließenden Diskussion nach einem Vortrag zum Thema "Krankheit und Sterben in islamischer Sicht" an der Medizinischen Hochschule Hannover, hob eine muslimische Studentin hervor, der Prophet Mohammed habe gesagt, es gebe für jede Krankheit ein Heilmittel, weswegen alle "guten" Behandlungsmethoden "islamisch" seien; überdies habe er einmal einer Verstorbenen den Leib aufschneiden lassen, um einen verschluckten Goldschmuck zu bergen, woraus zu folgern sei, dass der Islam auch die Autopsie billige.1 Die Absurdität dieser Argumentation, der zufolge angemessene Therapien oder Maßnahmen zur Ermittlung der Todesursache allein unter der Voraussetzung erlaubt sein sollen, dass ein im Jahre 632 in Arabien verstorbener Mann sie guthieß oder eine im äußerlichen Vollzug, nicht einmal in der Zwecksetzung vergleichbare Handlung anordnete, fiel der Mehrheit des Publikums nicht auf; im Gegenteil, es zeigte sich beeindruckt, als die Studentin mit dem Hinweis schloss, man könne an diesen Beispielen die Fortschrittlichkeit des Islam und seine Tauglichkeit für jegliches Zeitalter und jeglichen Ort ablesen.

Was ich dazu liefere ist nur ein Erklärungsversuch, über den man streiten kann. Was Nagel da beschreibt, ist die Existenz einer Denkhaltung, die mit unserer wenig zu tun hat.

Nagel schreibt hier über die Gegenwart. Ich halte mit einer alten Geschichte dagegen, weil es in diesem Thread doch eher um Geschichte geht. Rechte Denkhaltung anno 1300:

smallie hat folgendes geschrieben:
Die Autobiographie des muslimischen Dichters Usama ibn Munqidh aus dem 12. Jahrhundert erzählt von einem Vorfall, bei dem die Kreuzritter-Invasoren nach einem Arzt gebeten haben, um einige ihrer Kranken zu behandeln. Die Moslems sandten einen Arzt namens Thabit, der zehn Tag später mit dieser Geschichte zurückkehrte:

Zitat:
Rechtschaffenheit

Sie brachten mich zu einem Ritter, der einen Abszess an seinem Bein hatte und zu einer Frau, die besessen war. Ich legte Wickel auf das Bein, der Abszess öffnete sich und begann zu heilen. Der Frau verschrieb ich eine reinigende und erfrischende Diät.

Dann tauchte ein Franken-Arzt [Frankish doctor] auf, der sagte: "Der Mann hat keine Vorstellung davon, wie diese Leute geheilt werden können." Zum Ritter sagte er: "Was ist deine Wahl, mit einem Bein zu leben oder mit zwei zu sterben?" Als der Ritter antwortete, er würde lieber mit einem Bein leben, rief der Arzt nach einem kräftigen Mann und nach einer scharfen Axt. Sie kamen und ich beobachtete. Der Arzt legte das Bein auf einen Holzblock und sagte zum Mann: "Schlag kräftig zu, mach' einen sauberen Schnitt." ... Das Mark spritzte aus dem Bein (nach dem zweiten Schlag) und der Patient verstarb umgehend.

Dann untersuchte der Arzt die Frau und befand: "Sie hat einen Teufel im Kopf und er hat Gefallen an ihr gefunden. Rasiert ihr die Haare." Das wurde gemacht; wieder aß sie ihr übliches Franken-Essen [Frankish food] ... das verschlimmerte ihren Zustand. "Der Teufel sitzt ihn ihrem Kopf", sagte der Arzt. Er nahm eine Säge [razor], schnitt ihren Kopf kreuzförmig auf und entfernte das Gehirn, so das der Schädelknochen blank lag ... die Frau starb sofort.

An dieser Stelle fragte ich, ob ich noch weiter gebraucht werde, was nicht der Fall war. So konnte ich gehen und hatte etwas über medizinische Methoden gelernt, die ich zuvor nicht kannte.

http://www.futilitycloset.com/2014/02/19/righteousness/

#23:  Autor: Klaus-Peter BeitragVerfasst am: 06.10.2016, 01:00
    —
@Smallie
Dass die Franken des Jahres 1300 ziemlich bornierte Arschlöcher waren, halte ich für eher unstrittig. Was genau willst du mit dieser Geschichte zeigen? Bzw. Inwiefern ist das ein Argument gegen Fwos Thesen?

#24:  Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 06.10.2016, 01:42
    —
Klaus-Peter hat folgendes geschrieben:
@Smallie
Dass die Franken des Jahres 1300 ziemlich bornierte Arschlöcher waren, halte ich für eher unstrittig. Was genau willst du mit dieser Geschichte zeigen? Bzw. Inwiefern ist das ein Argument gegen Fwos Thesen?

Die Frage hätte ich jetzt auch gestellt, zumal Nagel diesen Prozess der Isamisierung der Gesellschaft bis ins 11. Jahrhundert und darüberh hinaus beschreibt und die Stabilität dieses Konstruktes bis heute betont. Das ist nicht nur ein Schreiben von der Gegenwart. Die von smallie berichtete Szene ist ein Bild für die Überlegenheit der Kultur des Erzählers. Dass die Medizin sowohl bei den Juden als auch bei den Persern bei einzelnen Ärzte schon länger (Avicenna wurde schon genannt) sehr viel weiter entwickelt war als im Westen, ist bekannt. Aber dieses Bild sagt wenig über die Athmosphäre, in der Kinder aufwuchsen.

Nagel hat die Lehrbücher über den Islam zu der Zeit geschrieben, über die wir hier reden; das halte ich für sehr mutig, ihm da aus der Lektüre von wieviel? Autoren zu widersprechen, die er mit Sicherheit auch kennt.

Was ich als Erziehung jeder Gemeinde zu ihrer eigenen Stasi karikiert habe, führt auch automatisch regelmäßig zu fundamentalistischen Rückbesinnungen. Was wir heute als Salafismus erleben, ist ja auch nichts Neues, er selbst bezieht sich auf Ibn Taimīya (1263 - 1328).

Peter L. Münch-Heubner schreibt dazu in seinem Aufsatz
"Islamismus, Neo-Fundamentalismus und Panislamismus:
Geschichte, theoretische und ideologische Grundlagen"
Zitat:
In seiner Abhandlung "Islam und politischer Extremismus" hebt Khalid Duran auch die historische Dimension jener Erscheinung hervor, die allgemein als "fundamentalistischer oder integristischer Islam bezeichnet wird". "Fachkenner", so der Autor, hätten ohnehin schon immer "auf eine" in der Geschichte "unablässige Welle der Rückfindungen zum Islam" hingewiesen. Duran selbst führt als eines dieser Beispiele das "Baghdad des 9. und 10. Jahrhunderts" an, wo "bereits eine alles Fremde abweisende Orthodoxie und ein kulturfeindlicher Fundamentalismus" mit anderen "Islaminterpretationen" wie u.a. denen der Mu'taziliten, "einer Schule rationalistischer Theologie", in Auseinandersetzungen geraten war. Diese betrafen auch "die Regierungsform des Reiches". Als eine "puritanische" Richtung der Frühzeit des Islam führt Duran das Beispiel der "Kharijiten" an.

Und diese Kharijiten (Harigiten, Charidschiten) finden sich in jedem Standardwerk über die Geschichte des Islam als eine "radikale Sekte", die "fanatischer Eifer" antrieb. Denn: "Ihr Dogma erlaubte ihnen nämlich, nur dann den Kalifen anzuerkennen, wenn die Häupter der Gemeinde ihm übereinstimmend das Prädikat des besten Muslim zuerkannten, und es machte ihnen zur Pflicht, mit Gewalt eine Art heiligen Krieges gegen die 'illegitimen' Kalifen zu führen."

Eine Bedrohung der Religion 'von außen' war in diesem Falle noch nicht gegeben und trotzdem ging es auch hier schon um die 'reine' Lehre und um fundamentalistische Inhalte. Und man konnte gegen den 'Feind' des 'wahren' Glaubens einen "heiligen Krieg" führen, sogar wenn dieser selbst Muslim war.

Gegen "'schlechte' Muslime" zogen im Maghreb des 11. Jahrhunderts auch die Almoraviden in einem "heiligen Krieg" zu Felde. Sie vertraten einen "militanten Islam", der sich gegen die "'verderbte' Kultur der maghrebinischen Staaten" richtete. Auch ihnen ging es schon um eine "buchstabengetreue Frömmigkeit" und die "Erneuerung des Islam" war ihr Ziel.

Quelle im selben Link wie der Aufsatz von Tilman Nagel.

Da haben wir dann einen ganz einfachen und schlüssigen Grund, warum sich die leuchtenden Außenseiter wie Averroës nicht durchsetzen konnten. Ein Blick in dessen Vita zeigt denn auch genau diese Geschichte: Gefördert von Abu Yaqub Yusuf I. und verstoßen von dessen Sohn Abū Yūsuf Yaʿqūb al-Mansūr, weil der die Orthodoxen nicht verärgern wollte.

p.s. Ichh habe mir mal den Spaß gemacht, auch bei denen, die sonst noch für die Übersetzung und Pflege der griechischen Philosopie berühmt sind, in den Lebenslauf zu sehen:neben Avicenna noch al-Kindi und al-Farabi. Das Bild, das da für mich entsteht, ist nicht, dass die sich in der Mitte des Islam befanden, sondern dass sie eine Zeitlang das Glück hatten, in der Nähe eines Fürsten zu leben, der sie in dieser Arbeit unterstütze. Und wenn diese Unterstützung wegbrach, war es anschließend schlecht um sie bestellt, auch, wenn es woanders heißt, dass sie in Intellektuellenkreisen viel diskutiert wurden.

Sich von den Schriften dieser Philosophen ein Bild vom mittelalterlichen Islam zu machen, dürfte tatsächlich so etwas Ähnliches sein, als wolle man den Katholizismus um 1600 durch die Schriften des Giordano Bruno erhellen. Die oft zitierte Liberalität des mittelalterlichen Islam ist angesichts der regelmäßigen Wellen der Reislamisierung wohl eher eine romantische Verklärung als dass sie viel mit der damaligen Wirklichkeit zu tun hat. Es handelte sich bei dieser Liberalität immer nur um punktuelle kurzzeitige Blüten.

#25:  Autor: DonMartin BeitragVerfasst am: 06.10.2016, 12:19
    —
zelig hat folgendes geschrieben:
Gestern bei ttt mitbekommen:
Frankopan, Licht aus dem Osten
http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/ndr/frankopan100.html

Kann mich dumpf erinnern, fand ich aber reichlich Banane, was der Mann da verzapft.
Er wirft munter Zeitalter und Regionen durcheinander, die wenig bis nichts miteinander zu tun haben,
nur um zu "beweisen", wie doof wir in Europa waren (und implizit immer noch wären).
Meinetwegen haben die Chinesen das Papier ein paar hundert Jahre vor uns erfunden,
die Inder die Null und die islamischen Araber (seltsamerweise) den Alkohol.
Das ist aber tausend(e) Jahre her und daher eher welker Lorbeer.
So gut wie alles was die moderne Welt ausmacht, technisch/wissenschaftlich wie zivilisatorisch, ist seit 500 Jahren genuin europäisch.
Nix Chinesen Islam, oder irgendwelche Aliens.
Wir haben also allen Grund, "eurozentrisch" zu sein.
Die moderne Molekularbiologie zB ist Lichtjahre entfernt von der albernen Säftelehre eines Aristoteles (der war das doch, oder?),
ebenso die Differential/Integralrechnung von den geometrischen Gehversuchen der alten Griechen.
Von der Physik gar nicht erst zu reden.

#26: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 06.10.2016, 18:12
    —
DonMartin hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Das Erbe ist zum größeren Teil deshalb nicht verlorengegangen, weil es in Arabien bewahrt wurde. Im christlichen, römischen Reich wurden die Schriften der Griechen als Heidenschriften angesehen. Das war das Ende der großen Bibliothek von Alexandrien.

Das halte ich für ein Gerücht. Ich habe noch gelernt, dass es die (nichtchristlichen) Römer unter Caesar waren, die das ganze abgefackelt haben.

Das stimmt, der hat auch mal gezündelt, das war aber noch nicht der endgültige Untergang der Bibliothek irgendwann um 380 oder so.


DonMartin hat folgendes geschrieben:
Bei Wiki steht, dass auch das nur ein Gerücht ist, ebenso wie die sonstigen Schuldzuweisungen.
Vermutlich ist sie im Laufe der Jahrhunderte schlicht vergammelt.

Ich hätte einen fertigen Thread zu dem Thema aus einem meiner alten Foren. Leider fehlt mir gerade die Zeit, das zu bringen. Ich bin ja noch einige Antworten im Schul-Thread schuldig und komm nicht dazu.


DonMartin hat folgendes geschrieben:
zelig hat folgendes geschrieben:
Gestern bei ttt mitbekommen:
Frankopan, Licht aus dem Osten
http://www.daserste.de/information/wissen-kultur/ttt/sendung/ndr/frankopan100.html

Kann mich dumpf erinnern, fand ich aber reichlich Banane, was der Mann da verzapft.
Er wirft munter Zeitalter und Regionen durcheinander, die wenig bis nichts miteinander zu tun haben,
nur um zu "beweisen", wie doof wir in Europa waren (und implizit immer noch wären).
Meinetwegen haben die Chinesen das Papier ein paar hundert Jahre vor uns erfunden,
die Inder die Null und die islamischen Araber (seltsamerweise) den Alkohol.
Das ist aber tausend(e) Jahre her und daher eher welker Lorbeer.
So gut wie alles was die moderne Welt ausmacht, technisch/wissenschaftlich wie zivilisatorisch, ist seit 500 Jahren genuin europäisch.
Nix Chinesen Islam, oder irgendwelche Aliens.
Wir haben also allen Grund, "eurozentrisch" zu sein.
Die moderne Molekularbiologie zB ist Lichtjahre entfernt von der albernen Säftelehre eines Aristoteles (der war das doch, oder?),
ebenso die Differential/Integralrechnung von den geometrischen Gehversuchen der alten Griechen.
Von der Physik gar nicht erst zu reden.

Es ist unbestritten, daß die moderne Wissenschaft in Europa entstand. Nach meiner Auslegung sogar erst recht spät, eher um 1800 denn um 1600 bei Galilei, wie es oft dargestellt wird.

"Eurozentrismus" ist das passende Stichwort. Übersetzung lasse ich weg, dann wird's heute vielleicht noch was mit einer Antwort an fwo.

Zitat:
Political correctness and the history of science

[...]

There used to be a brief standard sketch of the history of science, that probably arose some time in the Enlightenment but which owes much of its ethos to Renaissance historiography. This outline usually goes something like this.

Science was invented by the ancient Greeks. After the collapse of civilisation in the Dark Ages (a deliberate use of a discredited term here) science was rescued and conserved (but not changed or added to) by the Islamic Empire before being retrieved in the Renaissance by the Europeans, who then went on to create modern science in the Scientific Revolution. This piece of mythology reflected the triumphalist historiography of a colonialist Europe in the throws of dominating and exploiting large parts of the rest of the world.

During the twentieth century historians, many of them Europeans, dismantled this piece of fiction and began to explore and elucidate the histories of science of other cultures such as Egypt, Babylon, China, India and the Islamic Empire, creating in the process a much wider and infinitely more complex picture of the history of science, consisting of transfers of knowledge across space and time throughout the last approximately four thousand years.

This newly acquired knowledge exposed anybody who still insisted on propagating part or all of the earlier fairy story to the charge of eurocentrism, a charge that when considering the whole of the history of science is more than justified.

Unfortunately, as I have commented in the past, this also led to an over zealous backlash on behalf of the previously wronged cultures particularly on the Internet. [...] Eurocentrism has become a sort of universal weapon used indiscriminately whether it is applicable or not.

https://thonyc.wordpress.com/2015/09/30/political-correctness-and-the-history-of-science/

#27: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 06.10.2016, 23:44
    —
Schon wieder ein Islam-Thread. Nein, gnade, oh Gott! Das ist penetrant. Wenn wir so weiter machen werden noch als Affen oder Kröten wiedergeboren. (Errm. Uppsi. Weinen )



fwo hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
....
Warum hat man sich in Europa von Aquinas im Laufe der Zeit distanziert, während man in Arabien auf Ghazali zuging?

Die Frage ist ja auch, ob sich die heute so geschätzen Leute wie Averroës oder Avicenna damals wirklich in der Mitte des Islam befanden, oder ob sie das, was sie schrieben, nur schreiben konnten, weil sie geografisch und machttechnisch weit genug vom Zentrum entfernt lebten, und ob sie dichter am Zentrum nicht das Schicksal von Jordano Bruno geteilt hätten. Das würde bedeuten, dass nicht der Islam auf Ghazalie zugehen musste, sondern dass das heutige Bild des Islam nur durch einige philosophische Lichtgestalten an seiner Peripherie verklärt würde und mit dem damaligen Islam wenig zu tun hätte.

Manche der Leute haben tatsächlich auf den Deckel bekommen, gar keine Frage. Sie haben aber auch Dinge gesagt, die Europa erst gar nicht gesagt wurden. Religion sei Menschenwerk - wann wurde das in Europa erstmals gesagt?

So oder so standen auch Leute wie Galilei oder Newton nicht im Zentrum des Christentums. Die europäischen Philosophen haben bis ins neunzehnte Jahrhundert viel theologisiert - und standen dabei ebenfalls an der Peripherie des Christentums, waren aber weniger kühn in ihren Überlegungen.


fwo hat folgendes geschrieben:
Was nützt Dir das Lesen der Originaltexte von Heidegger oder Habermas zum Verständnis der Republik?

Die Erkenntnis, das man mit so was durchkommen und als profund gelten konnte? Pfeifen


fwo hat folgendes geschrieben:
Sie beeinflussen allenfalls das Denken erwachsener Menschen, aber die Grenzen des Denkens werden im Kindesalter festgelegt, und da sind andere gesellschaftliche Strukturen wirksam als die philosophische Fakultät.

Eins meiner Lieblingsthemen.

Hast du was Konkretes, an dem du den Wandel festmachst? Vorher/Nachher-Erziehungsratgeber?


fwo hat folgendes geschrieben:
In dem Zusammenhang noch drei Absätze aus Tilman Nagels Aufsatz "Kann es einen säkularisierten Islam geben?"
Zitat:
Die unverbrüchliche Hingewandtheit zum Einen, die Treue zu jenem jenseits menschlicher Spekulation und Erfindungskraft liegenden Wissen und die genannte Stellvertreterschaft bilden einen geschlossenen Argumentationszusammenhang, in dem die muslimischen Vorstellungen von Individuum, Gesellschaft und Staat verankert sind.

[...] am stärksten wirken in dieser Hinsicht die verheißungsvollen Worte von Sure 3, Vers 110: "Ihr seid die beste Gemeinschaft, die für die Menschen hervorgebracht wurde. Ihr befehlt das Billigenswerte und verbietet das Tadelnswerte und glaubt an Gott."

Das Ihr befehlt das Billigenswerte und verbietet das Tadelnswerte und glaubt an Gott könnte auch in der Präambel zur bayerischen Verfassung stehen. nee

Der Satz ist ein Allgemeinplatz, der sich ohne nähere Angabe, was Billigens- und tadelnswert ist, kaum kritisieren läßt, außer man hängt einer politischen Utopie an, in der Befehlen verboten ist.



fwo hat folgendes geschrieben:
Zitat:
Spätestens im 11. Jahrhundert ist die Islamisierung der Gesellschaft so weit fortgeschritten, dass die Überzeugung dominiert, es gebe keinen Bereich im Leben eines Muslims, der nicht dem Urteil der Scharia unterliege. Wenn er am Jüngsten Tag vor Gott bestehen will, dann muss er darauf bedacht sein, auch die nebensächlichste Lebensregung nach Maßgabe der Botschaft des Korans und vor allem des überlieferten Vorbildes des Propheten zu überprüfen.

Das ist eine vernünftige These, die die Eingangsfrage erklären oder zumindest einen Baustein dazu liefern könnte.

Ich denke schon, daß da was dran ist. Eingangs sagte ich: In Arabien kam dann aber verstärkt eine mystische Sicht des Islam auf, die die schnöde Welterkenntnis als unwesentlich für die geistig/religiösen Entwicklung ansah.. Trotz des unterschiedlichen Dralls sehe ich die Ähnlichkeit.

Zwei Sachen scheinen mir im Zitat nicht ganz zu passen:

Das elfte Jahrhundert ist ein bisschen früh, es ging's noch ein weiter mit der arabischen Wissenschaft. Wenn die Islamisierung der Gesellschaft spätestens im 11. Jahrhundert dominat wurde, welch Argument bleibt dann noch, das Verschwinden der arabischen Wissenschaft um 1300 oder 1450 zu erklären? Falls der erwähnte Ali Qushij um 1430 nicht ein Ausreißer war.

Außerdem sagt Ghazali über Sonnen- und Mondfinsternisse: Wir haben kein Interesse daran, solche Theorien zu widerlegen, denn die Widerlegung wäre sinnlos. Solche Überlegungen waren also nicht un-islamisch. Im Kern sagt er damit das selbe wie später Galilei: in der Bibel steht, wie man in den Himmel kommt, nicht wie der Himmel sich bewegt. Was hat die Scharia mit den Himmelsbewegungen zu tun?


fwo hat folgendes geschrieben:
Es ist der Verzicht auf die Institution Kirche und stattdessen die Erziehung der gesamten Gemeinde zu ihrer eigenen Stasi, die den Islam kennzeichnet.

Ein interessanter Gedanke. Der Verzicht auf eine Kirche nach römischem Muster sticht ins Auge.

Was mir dabei noch nicht einleuchtet: wenn es keine zentrale Instanz gibt, warum zerfiel der Islam nicht in viele lokale Sekten? Das passierte im Christentum trotz einer zentralen Instanz immer wieder.

Ein äußerer Feind könnte hier eine Erklärung sein, aber laut folgendem gab es den nicht. (*)

fwo hat folgendes geschrieben:
Peter L. Münch-Heubner schreibt dazu in seinem Aufsatz
"Islamismus, Neo-Fundamentalismus und Panislamismus:
Geschichte, theoretische und ideologische Grundlagen"
Zitat:
Eine Bedrohung der Religion 'von außen' war in diesem Falle noch nicht gegeben und trotzdem ging es auch hier schon um die 'reine' Lehre und um fundamentalistische Inhalte. Und man konnte gegen den 'Feind' des 'wahren' Glaubens einen "heiligen Krieg" führen, sogar wenn dieser selbst Muslim war.

Gegen "'schlechte' Muslime" zogen im Maghreb des 11. Jahrhunderts auch die Almoraviden in einem "heiligen Krieg" zu Felde. Sie vertraten einen "militanten Islam", der sich gegen die "'verderbte' Kultur der maghrebinischen Staaten" richtete. Auch ihnen ging es schon um eine "buchstabengetreue Frömmigkeit" und die "Erneuerung des Islam" war ihr Ziel.

Perfekt. Da steht ja schon, daß es nicht nur einen guten Islam gab, sondern auch "schlechte" und einen alten und einen Erneuerten. Der Islam ist oder war kein monolithischer Block, in dem schon immer die wahre Lehre galt. Laut Münch-Heubner gab es nicht nur einen, sondern mehrere Islame.

Welcher Islam ist der wahre? Alle wahren Islame sind fundamentalistisch, so wie alle wahren Schotten Röcke tragen. Ein nicht-fundamentalistischer Islam ist kein echter Islam, so wie ein Schotte ohne Rock kein wahrer Schotte ist.

Ich würde lieber darüber reden, warum die Schotten angefangen haben, Röcke zu tragen, um warum sie es inzwischen meist nicht mehr tun.


fwo hat folgendes geschrieben:
Sich von den Schriften dieser Philosophen ein Bild vom mittelalterlichen Islam zu machen, dürfte tatsächlich so etwas Ähnliches sein, als wolle man den Katholizismus um 1600 durch die Schriften des Giordano Bruno erhellen.

Das habe ich auch nicht vor. Was die Philosophen geschrieben haben war weder hier noch dort typisch für die landläufige Religionsausübung.

Jedenfalls hat die Affäre Giordano Bruno die weitere wissenschaftliche Entwicklung in Europa nicht aufgehalten. Warum nicht? Marcellinus sagte Reformation. Ich sagte: warum Reformation?



fwo hat folgendes geschrieben:
Die oft zitierte Liberalität des mittelalterlichen Islam ist angesichts der regelmäßigen Wellen der Reislamisierung wohl eher eine romantische Verklärung als dass sie viel mit der damaligen Wirklichkeit zu tun hat. Es handelte sich bei dieser Liberalität immer nur um punktuelle kurzzeitige Blüten.

Kurzzeitige Blüte ist ja schon mal was. Ideengeschichtlich ist da einiges entstanden und geblieben. Die verdammten Thesen von Paris, die alle aus dem arabischen Raum stammen, sind verdammt gut.




Wenn ich dir das Argument im Munde umdrehen darf: ist das Christentum also die tolerantere Religion, die die Entwicklung der modernen Wissenschaft erst ermöglicht hat, im Gegensatz zum Islam, zum Konfuzianismus, Buddhismus, oder Hinduismus?

Falls du nein sagst, sind wir gerade auf der falschen Fährte, soweit es die Eingangsfrage betrifft. Wenn du ja sagst, warte ich auf deine Apologetik des Christentums. Zustimmung

#28: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: DonMartin BeitragVerfasst am: 07.10.2016, 09:39
    —
smallie hat folgendes geschrieben:

Das stimmt, der hat auch mal gezündelt, das war aber noch nicht der endgültige Untergang der Bibliothek irgendwann um 380 oder so.

Dann hätten wir aber ein zeitliches Problem.
Die heidnische Antike ging so um diesen Dreh rum zu Ende,
etwa mit der Zwangschristianisierung durch Konstantin.
Die islamischen Araber begannen allerdings erst so ab 700 ihre (überaus gewalttätige) Ausbreitung.
smallie hat folgendes geschrieben:

Es ist unbestritten, daß die moderne Wissenschaft in Europa entstand. Nach meiner Auslegung sogar erst recht spät, eher um 1800 denn um 1600 bei Galilei, wie es oft dargestellt wird.

Diesen Zeitpunkt kann man locker auf 1500 legen, Renaissance.
Im 17. Jahrhundert waren ja schon Kepler, Newton etc zu Gange, das war schon echte moderne Wissenschaft.

#29:  Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 07.10.2016, 11:14
    —
@ smallie

Ich nehme direkt mal nur die letzte Frage auf, weil der Rest nicht den Eindruck einer klaren Argumentation auf mich macht, sondern mir mehr vorkommt, wie ein Assoziationsprotokoll, zu dem ich hier ähnlich assoziativ antworte.

Ein Tipp zu meinen Zitaten: Ich mag eigentlich keine langen Zitate, sondern muss mich dazu überwinden. Wenn ich hier drei Absätze von Nagel im Zusammenhang lasse, dann, weil die einen Zusammenhang darstellen - den zerreist man und verliert ihn aus dem Auge, wenn man einen einzelnen Satz davon kommentiert.

Zur Stasi statt der Institution Kirche: Die zentrale Instanz hier ist keine Organisation, sondern die heilige Schrift. Und natürlich führte das zu lokalen Varianten: Shiiten, Sunniten, Alawiten usw., die sich (fast) alle weiterhin Muslime nennen und die jeweils anderen als Abtrünnig bezeichnen (und bei Gelegenheit sogar deshalb Krieg gegen sie führen). Auch Boko Haram und IS, die sich als Varianten oder zeitlich und örtlich begrenzte? Blüten des Islam selbst stabilisieren, gehören hierzu wie auch wie auch die zeitlich und räumlich stark begrenzten philosophischen Blüten, die in den Machträumen einzelner Herrscher möglich waren. Die Stasi habe ich als Bild gewählt, weil die sich nicht Feind von außen richtet, sie sucht die internen Abweichler. Die Reislamisierungen oder Rückbesinnungen auf die Quellen richteten sich nicht nach außen, sondern gegen die Verderbnis im Inneren. Wir kennen soetwas auch aus der christlichen Kirchengeschichte, ich nehme als Beispiel Jan Hus. Da fällt auch sofort der Unterschied auf: Jan Hus bezieht sich wieder erneut auf die Bibel, und die Kirche antwortet, natürlich nicht wörtlich, aber dem Wesen nach, dass die alleine nichts wert ist. Was zählt ist die Exegese der Kirche, der Obrigkeit. Das Ergebnis ist, das Jan Hus brennt.

smallie hat folgendes geschrieben:
....
Jedenfalls hat die Affäre Giordano Bruno die weitere wissenschaftliche Entwicklung in Europa nicht aufgehalten. Warum nicht? Marcellinus sagte Reformation. Ich sagte: warum Reformation?
.....
Wenn ich dir das Argument im Munde umdrehen darf: ist das Christentum also die tolerantere Religion, die die Entwicklung der modernen Wissenschaft erst ermöglicht hat, im Gegensatz zum Islam, zum Konfuzianismus, Buddhismus, oder Hinduismus?

Falls du nein sagst, sind wir gerade auf der falschen Fährte, soweit es die Eingangsfrage betrifft. Wenn du ja sagst, warte ich auf deine Apologetik des Christentums. Zustimmung


Darauf gibt es zwei ganz einfache Antworten:
1. die praktische:
Ich lebe in einem Land mit klar christlicher Tradition, in dem noch vor 70 Jahren fast 100 % aller Bewohner christlich waren. Sehen wir mal von der DDR ab, die aber das Zahlenbild nur unwesentlich verändert: Wir sind nicht von einer Macht erobert worden, die eine andere Religion etablierte. Trotzdem haben inzwischen ca 40% der Bewohner das Christentum verlassen. Nenne mir einen Staat mit muslimischer Tradition, in dem soetwas möglich war oder ist.

Ich bin hier - genau wie Du - mit einer Mailadresse angemeldet, die an einer eigenen Domain hängt, meine postalische Adresse ist also sofort greifbar. In den meisten islamischen Ländern säßen wir beide bereits im Gefängnis, mir drohte evtl. schon aufgrund meines Footers die Todesstrafe.

2. theologisch: Während das Ziel des komplett islamisch kontrollierten Staates bereits im Koran festgelegt ist, befinden sich Christen und erst recht Kirchen, die einen christlichen Staat errichten wollen, im Gegensatz zu ihrem Gründer: Johannes 18:36: Jesus antwortete: Mein Reich ist nicht von dieser Welt. .... (Das mag zelig meinetwegen weiter ausführen. Das ist nicht meine Welt.)

Außerdem irrst Du auch mit Deiner Vergleichsmethodik zwischen den Autoren der verschiedenen Religionen, wenn Du nicht die im Hintergrund stehende Basis mit einbeziehst:
smallie hat folgendes geschrieben:
....
Auf der Scheiterhaufenskala dürfte Aquinas den Ghazali überholt haben. zynisches Grinsen
.....

Ghazali brauchte hier keinen Wettbewerb im Umgang mit Ketzern, weil dieser Umgang bereits von Mohammed geregelt war.
Dazu die bereits zitierte Tellenbach:
Zitat:
Als Grundlage für eine Strafbarkeit der Apostasie werden immer wieder die Prophetenworte: “tötet den, der seine Religion wechselt!“ und „ Das Blut eines Muslims (zu vergießen) ist nicht erlaubt, außer in einem dieser drei (Fälle): der verheiratete Ehebrecher, Leben um Leben, und der seinen Glauben Verlassende und von der Gemeinschaft sich Trennende“ herangezogen.

Und die Worte Mohammeds dürfen im Gegensatz zu den Lehren einzelner Philosophen nicht dem Zeitgeist unterworfen werden (sonst kommt die nächste Reislamisierungswelle.)
Zur Scheiterhaufenskala des Islam solltest Du also die Menschen dazuzählen, die in den unterschiedlichen Reislamisierungswellen zu Tode kamen, da gehören auch die Opfer von Al-Qaida, dem IS und Boko Haram mit dazu.

Dazu gleich noch vorab ein evolutionäres Schlaglicht: Du bewunderst die anderen Blüten des Islam wie Averroes, ohne zu sehen, wo ihre Sahmen aufgehen, und ich meine, nur aufgehen können: in einer christlichen Tradition, die dazu übergeht, eine atheistische zu werden.

Und eine etwas komplexere Antwort, die meine Fäden vom Anfang der Diskussion noch einmal zusammenfast. Man müsste sie wohl systemisch oder evolutionär nennen. Aber die braucht etwas mehr Zeit und einen eigenen Post.

#30: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Marcellinus BeitragVerfasst am: 07.10.2016, 17:47
    —
smallie hat folgendes geschrieben:

Jedenfalls hat die Affäre Giordano Bruno die weitere wissenschaftliche Entwicklung in Europa nicht aufgehalten. Warum nicht? Marcellinus sagte Reformation. Ich sagte: warum Reformation?


Nicht wegen dem, was Luther mit der Reformation beabsichtigt hat, sondern wegen dem, was er mit ihr beendet hat: Die Priesterherrschaft der einen kath. Kirche. Von nun an standen die Landeskirchen unter der Kontrolle der Fürsten, und die in Konkurrenz zu einander. Wissenschaft wurde zu einem Mittel der Konkurrenz, besonders im Zeitalter der Entdeckungen, in dem man zunehmend beobachtete, daß man sich wissenschaftliche Tabus nicht leisten konnte.

Das Osmanische wie das Chinesische Reich waren so groß, daß sie ihrer jeweiligen, ideologischen Weltsicht den Vorrang gegenüber neuen, ausländischen Ideen, Erkenntnissen und Methoden geben zu können meinten. Vielleicht hatten Ihre auf den eigenen Ideologien beruhenden Herrschaftssysteme auch einfach nur zu viel verlieren.

So verhinderte der Sultan die Einführung des Buchdrucks in seinem Reich, und der Sohn des Himmels ließ seine prächtige Überseeflotte zerstören, und den Bau weiterer Schiffe bei Todesstrafe verbieten.

So begann der Aufstieg der europäischen Staaten, und unter ihnen vor allem die protestantischen England und Niederlande. Aber auch Spanien, Portugal und Frankreich machten sich erst nicht schlecht, fielen dann aber zurück, während Deutschland in einem Religionskrieg versank, und danach in innerdeutschen Konkurrenzkämpfen zwischen Östereich und Preußen. Die Kath. Kirche, die in all diesen Kämpfen auf der Verliererseite stand, versank immer mehr im Obskurantismus, aus dem sie erst mit dem Vat. II im 20. Jh. halbherzig wieder auftauchte.

#31: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Zumsel BeitragVerfasst am: 08.10.2016, 11:30
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Ob das schon der Sargnagel für die arabische Wissenschaft war, so wie Tyson behauptet? Falls ja, erklärt das immer noch nicht, warum moderne Wissenschaft in Europa entstand. Denn in Europa hielt man die Thesen der Griechen und Araber ebenfalls für häretisch.


Ich weiss nicht genau, wie es bei den Arabern war, aber die abendländische Philosophie war auch schon vor der Reformation äußerst vielfältig.

Vor der Reformation, ja. Aber auch schon vor 1200? 1100? Buridan, Abelard - vorher war da nicht viel. War da überhaupt irgendwer?


Nun ja, zunächst mal waren schon die Autoren des Neuen Testamentes von hellinistischer Philosophie inspiriert. Das ist nicht unwichtig zur richtigen richtigen Einordnung von z.B. Aussagen wie dieser hier:

smallie hat folgendes geschrieben:

Wenn ein Naturgesetz erst einmal gefunden ist, stellt sich die Frage, ob ein Gott sich darüber hinwegsetzen kann. Die aufgeklärteren Araber haben das bezweifelt.

Ghazali greift das an:
Zitat:
Widerlegung des Glaubens, daß es unmöglich sei, vom natürlichen Lauf der Dinge abzuweichen.


Bei einem Gottesbild, wie es uns etwa im Johannesevangelium erscheint, stellt sich diese Frage gar nicht. Denn hier ist Gott identisch mit dem Logos, der Weltvernunft. Die Frage, ob Gott sein eigenes Naturgesetz ändern kann, ist demgegenüber sehr unphilosophisch und geradezu kindlich-mythologisch.Ein Gott, der die Personifikation der Vernunft und der Wahrheit ist, ist in seinem Willen nicht menschlichen Launen unterworfen. Gott zu erforschen heisst hier, die Vernunft zu erforschen.
Auch die Kirchenväter sind in Ihrem Denken klar von der Auseinandersetzung mit den Neuplatonikern geprägt. Die Schriften des Augustinus sind dafür ein klares Zeugnis. Ein weiterer bedeuteder neuplatonischer Theologe ist z.B. Eriugena.

Auch die Scholastik mag zwar einen schlechten Ruf haben, zeugt aber eben schon von dem Bemühen, Glauben und Rationalität miteinander in Einklang zu bringen.


smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Zwar war das Christentum als Grundwahrheit unhinterfragt, aber um die theologische und philosophische Ausdeutung von Dogmen wurde lebhaft gestritten.

Lebhaft gestritten heißt auf deutsch erst mal verdammt. Siehe die Pariser Verurteilungen von oben.


Richtig, spricht aber eben nicht gegen das Vorhandensein abweichendeer philosophisch-theologischer Ideen.



smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Darüber hinaus ist das Erbe der antiken Kultur, das seit dem Sieg der Barabaren über das Weströmische Reich zwar erst mal in Vergessenheit geraten war, nie wirklich verlorengegangen (eigentlich hatte die Antike ja schon das ganze Mittelalter hindurch eine überragende Autorität in Europa, selbst die über Rom siegreichen Barbaren bewunderten die Römer ja im Grunde ihres Herzens) und mit der Renaissance setzte ja sogar eine Verherrlichung und Überhöhung dieser Zeit ein.

Das Erbe ist zum größeren Teil deshalb nicht verlorengegangen, weil es in Arabien bewahrt wurde. ...


Ja, zum Teil stimmt das. Aber wie gesagt: Die Philosophie und die Neigung zum rationalen Denken ist im Christentum bereits in seiner Entstehung angelegt. Das Christentum, wie wir es kennen, ist ohne griechische Philosophie gar nicht denkbar.


smallie hat folgendes geschrieben:
Also war das Christentum vorher inkompatibel mit rationalem Denken?


Touchée, das war schlecht ausgedrückt

#32:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 08.10.2016, 16:24
    —
fwo hat folgendes geschrieben:
Ein Tipp zu meinen Zitaten: Ich mag eigentlich keine langen Zitate, sondern muss mich dazu überwinden. Wenn ich hier drei Absätze von Nagel im Zusammenhang lasse, dann, weil die einen Zusammenhang darstellen - den zerreist man und verliert ihn aus dem Auge, wenn man einen einzelnen Satz davon kommentiert.

Oh, ich hätte dazu sagen sollen, daß ich im Gegensatz zu Nagel den Islam für säkularisierbar halte.

Siehe ganz unten die Lehrsätze der Mu'taziliten.


fwo hat folgendes geschrieben:
Die Reislamisierungen oder Rückbesinnungen auf die Quellen richteten sich nicht nach außen, sondern gegen die Verderbnis im Inneren. Wir kennen soetwas auch aus der christlichen Kirchengeschichte, ich nehme als Beispiel Jan Hus. Da fällt auch sofort der Unterschied auf: Jan Hus bezieht sich wieder erneut auf die Bibel, und die Kirche antwortet, natürlich nicht wörtlich, aber dem Wesen nach, dass die alleine nichts wert ist. Was zählt ist die Exegese der Kirche, der Obrigkeit. Das Ergebnis ist, das Jan Hus brennt.

Das Problem der Exegese stellt sich den Koran genau so wie für die Bibel.

(Außerdem war es natürlich völlig unchristlich, Hus freies Geleit zu zusichern, und ihn dann doch zu verbrennen.)



fwo hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Wenn ich dir das Argument im Munde umdrehen darf: ist das Christentum also die tolerantere Religion, die die Entwicklung der modernen Wissenschaft erst ermöglicht hat, im Gegensatz zum Islam, zum Konfuzianismus, Buddhismus, oder Hinduismus?

Falls du nein sagst, sind wir gerade auf der falschen Fährte, soweit es die Eingangsfrage betrifft. Wenn du ja sagst, warte ich auf deine Apologetik des Christentums. Zustimmung


Darauf gibt es zwei ganz einfache Antworten:
1. die praktische:
Ich lebe in einem Land mit klar christlicher Tradition, in dem noch vor 70 Jahren fast 100 % aller Bewohner christlich waren. Sehen wir mal von der DDR ab, die aber das Zahlenbild nur unwesentlich verändert: Wir sind nicht von einer Macht erobert worden, die eine andere Religion etablierte. Trotzdem haben inzwischen ca 40% der Bewohner das Christentum verlassen. Nenne mir einen Staat mit muslimischer Tradition, in dem soetwas möglich war oder ist.

Libanon?

Ich bezweifle, daß wir das der christlichen Tradition zu verdanken haben. Oben hatte ich John Locke erwähnt. Das ist die Tradition, der wir gewisse Freiheiten verdanken. Den Franzosen vor und während der zeit der Revolution, Voltaire, Diderot, Pierre Bayle, die Engländer Locke, Hume, Thomas Paine samt den anderen Gründervätern. Diese Leute waren größtenteils keine Christen, sondern deistische Freidenker.



fwo hat folgendes geschrieben:
Ich bin hier - genau wie Du - mit einer Mailadresse angemeldet, die an einer eigenen Domain hängt, meine postalische Adresse ist also sofort greifbar. In den meisten islamischen Ländern säßen wir beide bereits im Gefängnis, mir drohte evtl. schon aufgrund meines Footers die Todesstrafe.

Ich finde, du machst das zu sehr an der Gegenwart fest.


Das stammt aus einer Arbeit zu den Pariser Verurteilungen:

Zitat:
Welche Dynamik der philosophische Diskurs dabei konkret entwickeln konnte, bezeugt der – bestürzte – Bericht eines spanischen Muslim über die freien Diskussionen im Bayt al-Hikma, dem Haus der Weisheit in Bagdad, deren er Zeuge wurde:

    Bei der ersten Sitzung, an der ich teilnahm, fand ich nicht nur Musulmanen aller Richtungen, orthodoxe und heterodoxe, sondern auch Ungläubige, der Lehre Zoroasters anhängende Perser, Materialisten, Atheisten, Juden und Christen – kurz Individuen aller Art. Jede dieser Sekten hatte einen gebildeten Führer im Saal, alle erhoben sich mit Respekt und keiner setzte sich, bevor dieser Führer Platz genommen hatte. Der Saal war bald voll von Menschen; als er angefüllt war, ergriff einer das Wort mit den Sätzen: Wir sind hier vereint, um zu räsonnieren. Ihr kennt alle die Bedingungen. Ihr Muselmanen werdet also keine Beweisgründe vorbringen, die Eurem Buch entnommen sind oder sich auf die Autorität Eures Propheten stützen; denn wir glauben weder an das eine noch an den anderen. Jeder muß sich auf Argumente beschränken, die vernunftgemäß sind.


http://sammelpunkt.philo.at:8080/1254/1/Grabher-1277.pdf



fwo hat folgendes geschrieben:
Und die Worte Mohammeds dürfen im Gegensatz zu den Lehren einzelner Philosophen nicht dem Zeitgeist unterworfen werden

Dann hätte Mohammed besser nichts zweideutiges schreiben sollen, dann bräuchte man den vermaledeiten Zeitgeist nicht. zwinkern

Die Mutakallimum oder Mutaziliten waren nicht so starr. Münch-Heubner erwähnt sie sogar:

fwo hat folgendes geschrieben:
Zitat:
In seiner Abhandlung "Islam und politischer Extremismus" hebt Khalid Duran auch die historische Dimension jener Erscheinung hervor, die allgemein als "fundamentalistischer oder integristischer Islam bezeichnet wird". "Fachkenner", so der Autor, hätten ohnehin schon immer "auf eine" in der Geschichte "unablässige Welle der Rückfindungen zum Islam" hingewiesen. Duran selbst führt als eines dieser Beispiele das "Baghdad des 9. und 10. Jahrhunderts" an, wo "bereits eine alles Fremde abweisende Orthodoxie und ein kulturfeindlicher Fundamentalismus" mit anderen "Islaminterpretationen" wie u.a. denen der Mu'taziliten, "einer Schule rationalistischer Theologie", in Auseinandersetzungen geraten war.

Heubner beruft sich auf einen Autoren, der sich wiederum auf "Fachkenner" beruft. Das ist eine Menge Hörensagen.

Wie passt die "alles Fremde abweisende Orthodoxie in Bagdad" zum obigen Bericht über das Bayt al-Hikma, ebenfalls Bagdad?


fwo hat folgendes geschrieben:
(sonst kommt die nächste Reislamisierungswelle.)

Solche Wellen sind kein alleiniges Merkmal des Islam. Die gab's bei Christentum auch. Amalrikaner, Katharer, Albigenser, Hussiten, die mußten alle dran glauben. Sagtest du ja auch schon. Wo ist jetzt der Unterschied zwischen beiden Religionen?



fwo hat folgendes geschrieben:
Du bewunderst die anderen Blüten des Islam wie Averroes, ...

Genaugenommen sind es nur die Blüten der arabisch/islamischen Kultur. zwinkern


fwo hat folgendes geschrieben:
ohne zu sehen, wo ihre Sahmen aufgehen, und ich meine, nur aufgehen können: in einer christlichen Tradition, die dazu übergeht, eine atheistische zu werden.

Daß es so gekommen ist, war eher Folge der geschichtlichen und geographischen Umstände. Siehe Marcellinus.

Die Araber waren damals arg gebeutelt. Das Maurische Spanien verloren. Bagdad eingeäschert, die größte Bibliothek der damaligen Welt vernichtet. Mehrere Kreuzzüge überstanden. Schließlich von den Osmanen erobert. Es wundert mich nicht, daß der Same dort nicht aufgegangen ist. Halt - falsches Bild. Der Same ist ja aufgegangen, für einige wenige Jahrhundert. Dann ging er wieder ein.



PS:

Lehrsätze der Mu'taziliten:
Zitat:
Gott ist eine absolute Einheit, ihm kommen keine Wesensattribute zu. Texte, die derartiges suggerieren, sind anders zu interpretieren.

Der Mensch ist frei. Wegen dieser beiden Prinzipien bezeichneten die Mu'taziliten sich selbst als „Verteidiger der Gerechtigkeit und Einheit“.

Alles für die Erlösung des Menschen notwendige Wissen geht aus seiner Vernunft hervor; sowohl vor als auch nach der islamischen Offenbarung konnten die Menschen allein durch das Licht der Vernunft Wissen erwerben. Dies macht Wissen verbindlich für alle Menschen, überall und zu jeder Zeit.

https://de.wikipedia.org/wiki/Islamische_Philosophie

#33: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 08.10.2016, 20:41
    —
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Jedenfalls hat die Affäre Giordano Bruno die weitere wissenschaftliche Entwicklung in Europa nicht aufgehalten. Warum nicht? Marcellinus sagte Reformation. Ich sagte: warum Reformation?


Nicht wegen dem, was Luther mit der Reformation beabsichtigt hat, sondern wegen dem, was er mit ihr beendet hat: Die Priesterherrschaft der einen kath. Kirche. Von nun an standen die Landeskirchen unter der Kontrolle der Fürsten, und die in Konkurrenz zu einander. Wissenschaft wurde zu einem Mittel der Konkurrenz, besonders im Zeitalter der Entdeckungen, in dem man zunehmend beobachtete, daß man sich wissenschaftliche Tabus nicht leisten konnte.

Das Osmanische wie das Chinesische Reich waren so groß, daß sie ihrer jeweiligen, ideologischen Weltsicht den Vorrang gegenüber neuen, ausländischen Ideen, Erkenntnissen und Methoden geben zu können meinten. Vielleicht hatten Ihre auf den eigenen Ideologien beruhenden Herrschaftssysteme auch einfach nur zu viel verlieren.

So verhinderte der Sultan die Einführung des Buchdrucks in seinem Reich, und der Sohn des Himmels ließ seine prächtige Überseeflotte zerstören, und den Bau weiterer Schiffe bei Todesstrafe verbieten.

So begann der Aufstieg der europäischen Staaten, und unter ihnen vor allem die protestantischen England und Niederlande. Aber auch Spanien, Portugal und Frankreich machten sich erst nicht schlecht, fielen dann aber zurück, während Deutschland in einem Religionskrieg versank, und danach in innerdeutschen Konkurrenzkämpfen zwischen Östereich und Preußen. Die Kath. Kirche, die in all diesen Kämpfen auf der Verliererseite stand, versank immer mehr im Obskurantismus, aus dem sie erst mit dem Vat. II im 20. Jh. halbherzig wieder auftauchte.

Ziemlich genau so sehe ich das auch.

Die kleinteilige Konkurrenz innerhalb Europas war bedeutend. Zum Beispiel sind die Chinesen nach Ostafrika gesegelt, sie hatten aber kein Interesse, dort eine Kolonie zu gründen. Was hätten sie gewinnen können, wo sie sich selbst genügten?

Ganz anders in Europa. Ausgedehnte Handelswege oder Kolonien versprachen einen Machtvorteil auf dem Heimatkontinent.

#34:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 08.10.2016, 21:04
    —
Die Pariser Verurteilungen

Im Jahr 1277 verurteilte der Pariser Bischof eine Liste von Thesen, die aus dem arabischen Raum kommend an der Artistenfakultät Mode geworden waren.

Im folgenden eine Auswahl aus den verdammten Thesen. Ich bin immer wieder erstaunt, wie modern die Gedankenwelt der aufgeklärteren Araber heute noch klingt. Mal sehen, ob es euch auch so geht.


Zitat:
Verurteilung von 219 Behauptungen

Stephen, durch göttliche Vorsehung der unwürdige Diener der Kirche von Paris grüßt im Namen des Sohnes der gebenedeiten Jungfrau alle, die diesen Brief lesen.

Wir haben Kunde erhalten [...] daß einige Lehrer an der Schule der Künste in Paris die Grenzen ihrer Fakultät überschreiten und versuchen, gewisse offensichtliche und abscheuliche Irrtümer, oder eher Eitelkeiten und lügnerische Dummheiten, zu behandeln und bereden, als ob diese in Schulen diskutabel wären; eine Liste liegt diesem Schreiben bei. [...]

Als Begründung für die erwähnten Irrtümer führen sie heidnische Schriften an - Schande über ihre Ignoranz - die sie für so überzeugend halten, daß sie keine Antworten darauf finden. [...] Sie sagen, all dies sei wahr gemäß der Philosophie, aber unwahr gemäß des katholischen Glaubens, als ob es zwei sich widersprechende Wahrheiten geben könne und als ob die Wahrheit der heiligen Schrift von den Worten der verfluchten [accursed] Heiden widerlegt werden könne.

http://legacy.fordham.edu/gsas/phil/klima/Blackwell-proofs/MP_C22.pdf


(Bitte nicht über die Nummerierung wundern, die ist auch in den Quellen nicht einheitlich.)


Intellektuelle Redlichkeit

    Niemand sollte etwas behaupten, außer es ist offensichtlich oder es kann aus offensichtlichen Prinzipien hergeleitet werden.

    Der Mensch soll sich nicht damit zufrieden geben, wenn Autoritäten Gewissheiten über bestimmte Fragen einfordern.

    Daß es keine Frage gibt, die ein Philosoph nicht stellen kann, denn Begründungen werden von Dingen abgeleitet. Es ist Sache der Philosophie, alles zu bedenken und in Frage zu stellen.



Gott, Immanenz und Natur

    Daß der Urgrund der entfernteste Grund aller Dinge ist.

    Wenn der Urgrund aufhörte zu sein, dann würden die sekundären Gründe weiterbestehen, solange sie ihrer eigenen Natur folgen.

    Daß Gott nicht die Auswirkungen eines sekundären Grundes hervorbringen kann, ohne den sekundären Grund anzuwenden.


    16. That the first cause is the most remote cause of all things. – This is erroneous if so
    understood as to mean that it is not the most proximate.

    100. That, among the efficient causes, if the first cause were to cease to act, the secondary
    cause would not, as long as the secondary cause operates according to its own
    nature.

    69. That God cannot produce the effect of a secondary cause without the secondary cause
    itself.




Primat der Logik

    Was Unmöglich ist, kann weder von Gott noch einem anderen Verursacher hervorgebracht werden.

    Daß Gott den Himmel nicht in gerader Linie bewegen kann, denn dann bliebe ein Vakuum.
    [Eine schröckliche Sache, dieses Vakuum.]

    17. That what is impossible absolutely speaking cannot be brought about by God or by
    another agent. – This is erroneous if we mean when is impossible according to nature.

    66. That God could not move the heaven in a straight line, the reason being that He
    would then leave a vacuum.





Geist, Wille, Leidenschaft, Affekt

    Der Geist ist für alle der Selbe, auch wenn ihn nicht jeder besitzt, so ist er doch jedem zugänglich.

    Nachdem ein Entschluß zum Handeln getroffen wurde, ist der Wille nicht mehr frei.

    Wenn Verstandesgründe richtiggestellt werden, dann wird auch der Wille richtiggestellt.

    Daß es keine Sünde in den höheren Leistungen der Seele gäbe und Sünde deshalb aus dem Affekt [passion] stamme und nicht vom Willen.

    Daß ein Mensch, der im Affekt handelt aus Zwang handelt.



    117. That the intellect is numerically one for all, for although it may be separated from
    this or that body, it is not separated from every body.

    165. That after a conclusion has been reached about something to be done, the will does
    not remain free, and that punishments are provided by law only for the correction of ignorance
    and in order that the correction may be a source of knowledge for others.

    166. That if reason is rectified, the will is also rectified. – This is erroneous because
    contrary to Augustine’s gloss on this verse from the Psalms: My soul hath coveted to long,
    and so on [Ps. 118:20], and because according to this, grace would not be necessary for the
    rectitude of the will but only science, which is the error of Pelagius.

    167. That there can be no sin in the higher powers of the soul. And thus sin comes from
    passion and not from the will.

    168. That a man acting from passion acts by compulsion.





Die Perle:

    Daß Glück zu diesem Leben gehört und nicht zu einem anderen.

    172. That happiness is had in this life and not in another.



Vergleichende Religionswissenschaft:

    Die künftige Auferstehung darf vom Philosophen nicht zugestanden werden, weil es unmöglich ist, sie mit der Vernunft zu erforschen.

    Daß die christliche Gesetzesauslegung die Lehre behindert.

    Daß es im Christentum ebenso Legenden und Fehler gibt wie in allen anderen.

    Daß niemand mehr über etwas weiß, nur weil er die Theologie kennt.

    Daß die Lehren der Theologen auf Legenden beruhen.



    180. That the Christian law impedes learning.
    181. That there are fables and falsehoods in the Christian law just as in others.
    182. That one does not know anything more by the fact that he knows theology.
    183. That the teachings of the theologian are based on fables.




Sex

    Die Sünde gegen die Natur, also der Mißbrauch des Beischlafs, mag gegen die Natur der Art gehen, aber er geht nicht gegen die Natur des einzelnen.

    Vollkommene sexuelle Enthaltsamkeit zerstört die Tugend und die menschliche Art.

    Sexuelle Lust verhindert nicht die Ausübung oder die Anwendung der Einsicht.

    Die einfache Unzucht, also die des Ledigen mit einer Ledigen, ist keine Sünde.



PS: Ein Satz ist dabei, den ich kritisieren müßte.


http://legacy.fordham.edu/gsas/phil/klima/Blackwell-proofs/MP_C22.pdf
http://sammelpunkt.philo.at:8080/1254/1/Grabher-1277.pdf
http://www.hoye.de/ma/ma1277.pdf


Zuletzt bearbeitet von smallie am 08.10.2016, 22:00, insgesamt einmal bearbeitet

#35:  Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 08.10.2016, 21:50
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
....

Ich bezweifle, daß wir das der christlichen Tradition zu verdanken haben. Oben hatte ich John Locke erwähnt. Das ist die Tradition, der wir gewisse Freiheiten verdanken. Den Franzosen vor und während der zeit der Revolution, Voltaire, Diderot, Pierre Bayle, die Engländer Locke, Hume, Thomas Paine samt den anderen Gründervätern. Diese Leute waren größtenteils keine Christen, sondern deistische Freidenker.....

Ich habe im Moment zu wenig Zeit (u.a. weil ich mich zuviel mit 9/11 beschäftigt habe), deshalb nur ein Hinweis auf ein grundsätzliches Missverständnis:

Ich gehe nicht davon, aus, dass wir unsere heutige Freiheit der christlichen Tradition zu verdanken haben. Ich habe selbst schon oft genug betont, dass den christlichen Kirchen die Freiheiten, die wir heute besitzen, abgerungen wurden. Meine Fragestellung ist vielmehr, wie es geschehen konnte, dass das Christentum bzw. die christlichen Kirchen soviel Kontrolle verloren haben, während der Islam, abgesehen von einigen zeitlich und örtlich begrenzten Blüten praktisch kontinuierlich an Kontrolle gewinnt.

#36:  Autor: Marcellinus BeitragVerfasst am: 08.10.2016, 23:37
    —
fwo hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
....

Ich bezweifle, daß wir das der christlichen Tradition zu verdanken haben. Oben hatte ich John Locke erwähnt. Das ist die Tradition, der wir gewisse Freiheiten verdanken. Den Franzosen vor und während der zeit der Revolution, Voltaire, Diderot, Pierre Bayle, die Engländer Locke, Hume, Thomas Paine samt den anderen Gründervätern. Diese Leute waren größtenteils keine Christen, sondern deistische Freidenker.....

Ich habe im Moment zu wenig Zeit (u.a. weil ich mich zuviel mit 9/11 beschäftigt habe), deshalb nur ein Hinweis auf ein grundsätzliches Missverständnis:

Ich gehe nicht davon, aus, dass wir unsere heutige Freiheit der christlichen Tradition zu verdanken haben. Ich habe selbst schon oft genug betont, dass den christlichen Kirchen die Freiheiten, die wir heute besitzen, abgerungen wurden. Meine Fragestellung ist vielmehr, wie es geschehen konnte, dass das Christentum bzw. die christlichen Kirchen soviel Kontrolle verloren haben, während der Islam, abgesehen von einigen zeitlich und örtlich begrenzten Blüten praktisch kontinuierlich an Kontrolle gewinnt.


Es hat mit dem Staatenbildungsprozeß zu tun. Je mehr sich die westlichen Staaten entwickelten, umso mehr säkularisierten sie sich, dh. umso mehr Macht und Funktionen wanderte von den Kirchen zu den Staatsverwaltungen, während die Kirchen immer mehr auf das Niveau von Anstalten zur Verwaltung von Heilsgewißheiten herabsanken.

In den islamischen Ländern beobachten wir stattdessen das Gegenteil, den zunehmenden Verfall von Staaten, die Auflösung von staatlichen Gewaltmonopolen, die Entfunktionalisierung von Justiz und Verwaltung und den Aufstieg von nichtstaatlichen, religiös organisierten Machtzentren, erst neben, dann anstatt der staatlichen.

Die neuen Staatsgebilde sind allerdings nur soweit stabil, wie die religiösen Führer Sie zusammenhalten können (Iran). Überall sonst lösen sie sich in konfessionelle oder Stammesgebilde auf (Irak, Syrien), gelegentlich und nur vorübergehend aufgehalten durch Militärregimes (Ägypten), die aber nicht über bloße Gewaltherrschaften hinauskommen.

Die Türkei ist mitten drin in diesem Prozeß, in dem die religiöse Autokratie sich nur weiterentwickeln kann, indem sie die staatlichen Strukturen systematisch zerschlägt. Justiz, Verwaltung, Polizei, Schulwesen, all das kommt zunehmend unter religiöse Kontrolle, und damit lösen sich die staatlichen Funktionen auf. Das Ergebnis wird ein Bürgerkrieg oder ein Zerfall der Türkei sein.

#37: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Myron BeitragVerfasst am: 09.10.2016, 04:12
    —
Chinasky hat folgendes geschrieben:
Nun meine Frage: Kennt einer von Euch eine kompakte und auch für Laien verständliche Übersicht über den Islam, bzw. die islamische Welt und ihr Verhältnis zur (Natur-) Wissenschaft, in welcher auch auf diese spezielle Frage (warum, bzw. wie die Führungsrolle irgendwann verloren ging) eingegangen wird? Schön wäre freilich eine frei im Web zugängliche Darstellung, aber gegebenenfalls werde ich mir auch mal wieder ein Buch zu Gemüte führen. Smilie


Arabic and Islamic Natural Philosophy and Natural Science

#38: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Zumsel BeitragVerfasst am: 09.10.2016, 12:36
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Jedenfalls hat die Affäre Giordano Bruno die weitere wissenschaftliche Entwicklung in Europa nicht aufgehalten. Warum nicht? Marcellinus sagte Reformation. Ich sagte: warum Reformation?


Nicht wegen dem, was Luther mit der Reformation beabsichtigt hat, sondern wegen dem, was er mit ihr beendet hat: Die Priesterherrschaft der einen kath. Kirche. Von nun an standen die Landeskirchen unter der Kontrolle der Fürsten, und die in Konkurrenz zu einander. Wissenschaft wurde zu einem Mittel der Konkurrenz, besonders im Zeitalter der Entdeckungen, in dem man zunehmend beobachtete, daß man sich wissenschaftliche Tabus nicht leisten konnte.

Das Osmanische wie das Chinesische Reich waren so groß, daß sie ihrer jeweiligen, ideologischen Weltsicht den Vorrang gegenüber neuen, ausländischen Ideen, Erkenntnissen und Methoden geben zu können meinten. Vielleicht hatten Ihre auf den eigenen Ideologien beruhenden Herrschaftssysteme auch einfach nur zu viel verlieren.

So verhinderte der Sultan die Einführung des Buchdrucks in seinem Reich, und der Sohn des Himmels ließ seine prächtige Überseeflotte zerstören, und den Bau weiterer Schiffe bei Todesstrafe verbieten.

So begann der Aufstieg der europäischen Staaten, und unter ihnen vor allem die protestantischen England und Niederlande. Aber auch Spanien, Portugal und Frankreich machten sich erst nicht schlecht, fielen dann aber zurück, während Deutschland in einem Religionskrieg versank, und danach in innerdeutschen Konkurrenzkämpfen zwischen Östereich und Preußen. Die Kath. Kirche, die in all diesen Kämpfen auf der Verliererseite stand, versank immer mehr im Obskurantismus, aus dem sie erst mit dem Vat. II im 20. Jh. halbherzig wieder auftauchte.

Ziemlich genau so sehe ich das auch.

Die kleinteilige Konkurrenz innerhalb Europas war bedeutend. Zum Beispiel sind die Chinesen nach Ostafrika gesegelt, sie hatten aber kein Interesse, dort eine Kolonie zu gründen. Was hätten sie gewinnen können, wo sie sich selbst genügten?

Ganz anders in Europa. Ausgedehnte Handelswege oder Kolonien versprachen einen Machtvorteil auf dem Heimatkontinent.


Ich kann da ehrlich gesagt noch keine konsistente Argumentation erkennen.

Zunächst mal stimmt es ja nicht, dass Priester das Mittelalter "beherrscht" hätten, schon gar nicht außerhalb des Heiligen Römischen Reiches. Und auch innerhalb des Reiches wurden hohe kirchliche Ämter ja vornehmlich von Adeligen aus i.d.R. recht profanen Gründen besetzt. Wahr ist, dass die Reformation mit einem Autoritätsverfall des Klerus einherging, Ursache und Wirkung liegen aber ja genau umgekehrt, als hier suggeriert. Die Reformation war weniger Ausgangspunkt als viel mehr notwendige Folge von Urbanisierung, Freihandel und kultureller Blüte, die in erster Linie mal von den Handelszentren des grundkatholischen Italien ausgingen, also durchaus nicht zufällig in geographischer Nähe zum Zentrum des antiken Europas.

Mir ist auch nicht ganz klar, wie die These von der fruchtbaren kleinteiligen Konkurrenz der Fürsten im HRR zu der Tatsache passen soll, dass gerade die zentralistisch regierten Königreiche besonders erfolgreich waren. Und auch nicht, worin der direkte Zusammenhang zwischen Kolonialismus und wissenschaflichen Fortschritt bestehen soll.

#39: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 10.10.2016, 23:01
    —
DonMartin hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Das stimmt, der hat auch mal gezündelt, das war aber noch nicht der endgültige Untergang der Bibliothek irgendwann um 380 oder so.

Dann hätten wir aber ein zeitliches Problem.
Die heidnische Antike ging so um diesen Dreh rum zu Ende,
Die islamischen Araber begannen allerdings erst so ab 700 ihre (überaus gewalttätige) Ausbreitung.
etwa mit der Zwangschristianisierung durch Konstantin.

Es gab Orte, auf die die Romchristen keinen Zugriff hatten. Dort blieben die griechischen Schriften erhalten.

(Ein kleinerer Teil blieb über Byzanz erhalten.)


DonMartin hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Es ist unbestritten, daß die moderne Wissenschaft in Europa entstand. Nach meiner Auslegung sogar erst recht spät, eher um 1800 denn um 1600 bei Galilei, wie es oft dargestellt wird.

Diesen Zeitpunkt kann man locker auf 1500 legen, Renaissance.
Im 17. Jahrhundert waren ja schon Kepler, Newton etc zu Gange, das war schon echte moderne Wissenschaft.

Was ist echte moderne Wissenschaft? Die Grenzziehung ist etwas willkürlich.

    Naturbeobachtung? Gesteuerte Naturbeobachtung, also Experiment? Mathematische Formulierung?


Klingt alles gut, aber dann beginnt Naturwissenschaft mit dem Frequenzgesetz der Pythagoräer: halbe Länge einer Saite gibt doppelte Frequenz. Kepler hielt die Sonne für Gott, die Fixsterne für Jesus und denn Rest für den heiligen Geist. Newton meinte, das Sonnensystem wäre instabil ohne korrigierende Eingriffe eines Gottes. Laplace hat mit seiner Störungsrechnung Newtons Einwand aufgehoben. Auf der Geologenseite haben James Hutton und Charles Lyell erkannt, daß die Erde sehr viel älter sein mußte, als das Alte Testament nahelegt. Damit war der Wahrheitsgehalt der Bibel das erste Mal nicht nur philosophisch, sondern faktisch widerlegt.

Moderne Wissenschaft beginnt mit dem Verzicht auf übernatürliche Stegreif-Erklärungen. Das wäre meine, etwas willkürliche Festlegung. Woran machst du moderne Wissenschaft fest?

#40: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 11.10.2016, 00:01
    —
Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Wenn ein Naturgesetz erst einmal gefunden ist, stellt sich die Frage, ob ein Gott sich darüber hinwegsetzen kann. Die aufgeklärteren Araber haben das bezweifelt.

Ghazali greift das an:
Zitat:
Widerlegung des Glaubens, daß es unmöglich sei, vom natürlichen Lauf der Dinge abzuweichen.


Bei einem Gottesbild, wie es uns etwa im Johannesevangelium erscheint, stellt sich diese Frage gar nicht. Denn hier ist Gott identisch mit dem Logos, der Weltvernunft.

Weltvernunft?

Den Mangel an Weltvernunft hat Al-Razi gut erkannt: einen Propheten zu einer ausgewählten Zeit zu einem ausgewählten Völk zu schicken, und dabei seine Botschaft so undeutlich von diversen Scharlatanen abgegrenzt sein zu lassen, daß sich die Anhänger echter und vermeintlicher Propheten gegenseitig die Köpfe einschlagen, das ist ein merkwürdiger Logos.

Stell dir vor, auf allen Kontinenten der Welt, in jeder Kultur, wären zur gleichen Zeit Gesandte aufgetreten, die alle das selbe erzählt hätten. Das wäre ein Zeichen für göttliche Weltvernunft: Gott spricht das Wort zum Sonntag. Regelmäßig und gebührenfrei.


Bitte nicht sagen, das sei Spinnerei. NeinNein Bei der Septuaginta ging es ja auch, daß siebzig Übersetzer die Bibel gleich übersetzten ... Pfeifen


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Die Frage, ob Gott sein eigenes Naturgesetz ändern kann, ist demgegenüber sehr unphilosophisch und geradezu kindlich-mythologisch.Ein Gott, der die Personifikation der Vernunft und der Wahrheit ist, ist in seinem Willen nicht menschlichen Launen unterworfen. Gott zu erforschen heisst hier, die Vernunft zu erforschen.

Das alte Argument: wenn ein Gott in den Lauf der Welt eingreifen könnte, warum tut er es dann nicht?

Das letzte Gegenargument dazu stammt von Leibniz: Wir leben in der besten aller möglichen Welten. Nicht sehr überzeugend, wenn du mich fragst.

Vernunft ist etwas, das keinen menschlichen - oder göttlichen - Launen unterworfen ist.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Auch die Kirchenväter sind in Ihrem Denken klar von der Auseinandersetzung mit den Neuplatonikern geprägt. Die Schriften des Augustinus sind dafür ein klares Zeugnis.

Das wenige, was ich von Augustinus gelesen habe, fand ich immer ganz fürchterlich.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Ein weiterer bedeuteder neuplatonischer Theologe ist z.B. Eriugena.

Den kannte ich noch nicht.

Das wäre eine Hausaufgabe für mich, herauszufinden, woher die Quellen für seine Aristoteles-Übersetzungen stammten.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Die Philosophie und die Neigung zum rationalen Denken ist im Christentum bereits in seiner Entstehung angelegt. Das Christentum, wie wir es kennen, ist ohne griechische Philosophie gar nicht denkbar.

Kannst du dafür ein oder zwei Beispiele geben? Ich weiß gerade nicht, was du meinst.

Bedeutungsverschiebungen durch Übersetzung vom Aramäischen ins Griechische meinst du wohl nicht.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Also war das Christentum vorher inkompatibel mit rationalem Denken?


Touchée, das war schlecht ausgedrückt

Gar nicht. Du hast das schon richtig ausgedrückt.

Reichen die Pariser Verurteilungen als Beleg für die Schwierigkeiten, die die christliche Hauptströmung mit rationalem Denken hatte?

#41:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 11.10.2016, 00:31
    —
fwo hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
....

Ich bezweifle, daß wir das der christlichen Tradition zu verdanken haben. Oben hatte ich John Locke erwähnt. Das ist die Tradition, der wir gewisse Freiheiten verdanken. Den Franzosen vor und während der zeit der Revolution, Voltaire, Diderot, Pierre Bayle, die Engländer Locke, Hume, Thomas Paine samt den anderen Gründervätern. Diese Leute waren größtenteils keine Christen, sondern deistische Freidenker.....

Ich habe im Moment zu wenig Zeit (u.a. weil ich mich zuviel mit 9/11 beschäftigt habe), deshalb nur ein Hinweis auf ein grundsätzliches Missverständnis:

Ich gehe nicht davon, aus, dass wir unsere heutige Freiheit der christlichen Tradition zu verdanken haben. Ich habe selbst schon oft genug betont, dass den christlichen Kirchen die Freiheiten, die wir heute besitzen, abgerungen wurden. Meine Fragestellung ist vielmehr, wie es geschehen konnte, dass das Christentum bzw. die christlichen Kirchen soviel Kontrolle verloren haben, während der Islam, abgesehen von einigen zeitlich und örtlich begrenzten Blüten praktisch kontinuierlich an Kontrolle gewinnt.

Dann räume ich auch noch ein mögliches Missverständnis auf.


Ich seh' dein Argument mit der Todesstrafe auf Glaubensabfall schon. Zwei Beispiele, auf die ich mich festnageln lasse (Autsch! Jesus!). Das erste liegt etwas im Dunkel der Geschichte, das zweite sollte sich zahlenmäßig recherchieren lassen.

In der islamischen Tradition, bei den Sufis, gibt es den Gedanken, daß alle Religionen letztlich das selbe sagen. Ob das stimmt, sei dahingestellt. Aber +1 Sympathie haben sie dafür bei mir gut. Das war irgendwann um 1200 oder 1300. Die Bahaii, aus der islamischen Tradition stammend, haben dies um 1840 zum Prinzip ihrer Religion erhoben. Der Religionsstifter wurde ziemlich bald exekutiert, etliche Anhänger ebenso. Die Anhänger werden noch heute verfolgt, ausgerottet aber wurden sie noch nicht.

Diese Verfolgung läßt sich nicht verleugnen oder beschönigen.

Allerdings könnte ich anmerken, daß die Verfolgten aus der islamischen Tradition heraus zu einer Neuerung fähig waren, zu der es keine Parallele im Christentum gibt. Deshalb würde ich dem Islam die Wandlungsfähigkeit nicht grundsätzlich absprechen.

#42:  Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 11.10.2016, 00:38
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
....
Allerdings könnte ich anmerken, daß die Verfolgten aus der islamischen Tradition heraus zu einer Neuerung fähig waren, zu der es keine Parallele im Christentum gibt. Deshalb würde ich dem Islam die Wandlungsfähigkeit nicht grundsätzlich absprechen.

Nur als ganz kleiner Einwand (ich schreibe immer noch an der größeren Antwort - sie will irgendwie nicht):
West-Europa war praktisch zu 100% christlich. Wenn Du also die Religionen bzw. ihren Machtbereich als Biotop neuer Traditionen betrachtest, dann solltest Du den europäischen Atheismus als etwas aus dem Christentum entstandenes verstehen und ihn dem Christentum zuguten halten.
Geschockt Lachen

#43: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: DonMartin BeitragVerfasst am: 11.10.2016, 02:29
    —
smallie hat folgendes geschrieben:

Es gab Orte, auf die die Romchristen keinen Zugriff hatten. Dort blieben die griechischen Schriften erhalten.

Und das soll genau wo und wann gewesen sein?

smallie hat folgendes geschrieben:


Was ist echte moderne Wissenschaft? Die Grenzziehung ist etwas willkürlich.

    Naturbeobachtung? Gesteuerte Naturbeobachtung, also Experiment? Mathematische Formulierung?


zum Beispiel. Hingucken, selber denken, statt alte Schriften wiederzukäuen.
Verzicht auf religiöse, anthropozentrische oder ästhetische "Argumente".
("Planetenbahnen müssen kreisförmig sein, weil das die perfekte Form ist")
smallie hat folgendes geschrieben:

Klingt alles gut, aber dann beginnt Naturwissenschaft mit dem Frequenzgesetz der Pythagoräer: halbe Länge einer Saite gibt doppelte Frequenz. Kepler hielt die Sonne für Gott, die Fixsterne für Jesus und denn Rest für den heiligen Geist. Newton meinte, das Sonnensystem wäre instabil ohne korrigierende Eingriffe eines Gottes. ....

Dass die nebenher ihre Schrullen hatten - geschenkt. Sie waren schliesslich Kinder ihre Zeit.
"Moderne" Wissenschaft gab's vereinzelt auch schon vor der Renaissance,
der olle Archimedes zB. Der war pfiffiger als die meisten damals schwafelnden Philosophen.

#44: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Religionskritik-WiesbadenWohnort: Wiesbaden BeitragVerfasst am: 11.10.2016, 08:08
    —
DonMartin hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Es gab Orte, auf die die Romchristen keinen Zugriff hatten. Dort blieben die griechischen Schriften erhalten.

Und das soll genau wo und wann gewesen sein?

Byzanz,
bis eben die Kreuzfahrer es eroberten (1204) und so sehr schwächten,
dass die Eroberung durch die Türken 1453 eher Glück, als Schrecken bedeuteten.

In Byzanz gab es eine hohe Schulbildung - zu der auch das Studium von 'nicht christlichen' Philosophen gehörte.

Wie hoch das kulturelle Gefälle zwischen Ostrom und den 'Erben' des Weströmischen Reiches war - sieht man auch an Otto II, Otto III und die beide verbindende Frau Theophanu - die ja aus Byzanz höchst edel geboren kam.
Aber da sind wir noch mal 200 Jahre früher.

#45: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: DonMartin BeitragVerfasst am: 11.10.2016, 08:35
    —
Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:

Byzanz,
bis eben die Kreuzfahrer es eroberten (1204) und so sehr schwächten,
dass die Eroberung durch die Türken 1453 eher Glück, als Schrecken bedeuteten.

In Byzanz gab es eine hohe Schulbildung - zu der auch das Studium von 'nicht christlichen' Philosophen gehörte.

Ebend.
Ich finde es eine absurde Vorstellung, die antike heidnische Zivilisation wäre von dumpfen Christen verdaddelt worden, um dann von edlen islamischen Arabern wieder ausgebuddelt zu werden.
Das alte (christliche) Byzanz hat die antike Zivilisation bewahrt, und von denen haben es die Araber, als sie grosse Teile des oströmischen Reiches plattgemacht haben.

#46:  Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 11.10.2016, 08:51
    —
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
fwo hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
....

Ich bezweifle, daß wir das der christlichen Tradition zu verdanken haben. Oben hatte ich John Locke erwähnt. Das ist die Tradition, der wir gewisse Freiheiten verdanken. Den Franzosen vor und während der zeit der Revolution, Voltaire, Diderot, Pierre Bayle, die Engländer Locke, Hume, Thomas Paine samt den anderen Gründervätern. Diese Leute waren größtenteils keine Christen, sondern deistische Freidenker.....

Ich habe im Moment zu wenig Zeit (u.a. weil ich mich zuviel mit 9/11 beschäftigt habe), deshalb nur ein Hinweis auf ein grundsätzliches Missverständnis:

Ich gehe nicht davon, aus, dass wir unsere heutige Freiheit der christlichen Tradition zu verdanken haben. Ich habe selbst schon oft genug betont, dass den christlichen Kirchen die Freiheiten, die wir heute besitzen, abgerungen wurden. Meine Fragestellung ist vielmehr, wie es geschehen konnte, dass das Christentum bzw. die christlichen Kirchen soviel Kontrolle verloren haben, während der Islam, abgesehen von einigen zeitlich und örtlich begrenzten Blüten praktisch kontinuierlich an Kontrolle gewinnt.


Es hat mit dem Staatenbildungsprozeß zu tun. Je mehr sich die westlichen Staaten entwickelten, umso mehr säkularisierten sie sich, dh. umso mehr Macht und Funktionen wanderte von den Kirchen zu den Staatsverwaltungen, während die Kirchen immer mehr auf das Niveau von Anstalten zur Verwaltung von Heilsgewißheiten herabsanken.

In den islamischen Ländern beobachten wir stattdessen das Gegenteil, den zunehmenden Verfall von Staaten, die Auflösung von staatlichen Gewaltmonopolen, die Entfunktionalisierung von Justiz und Verwaltung und den Aufstieg von nichtstaatlichen, religiös organisierten Machtzentren, erst neben, dann anstatt der staatlichen.

Die neuen Staatsgebilde sind allerdings nur soweit stabil, wie die religiösen Führer Sie zusammenhalten können (Iran). Überall sonst lösen sie sich in konfessionelle oder Stammesgebilde auf (Irak, Syrien), gelegentlich und nur vorübergehend aufgehalten durch Militärregimes (Ägypten), die aber nicht über bloße Gewaltherrschaften hinauskommen.

Die Türkei ist mitten drin in diesem Prozeß, in dem die religiöse Autokratie sich nur weiterentwickeln kann, indem sie die staatlichen Strukturen systematisch zerschlägt. Justiz, Verwaltung, Polizei, Schulwesen, all das kommt zunehmend unter religiöse Kontrolle, und damit lösen sich die staatlichen Funktionen auf. Das Ergebnis wird ein Bürgerkrieg oder ein Zerfall der Türkei sein.

Das ist eine schöne Beschreibung des Vorganges von einem anderen Standpunkt, verstehen tue ich ihn dadurch noch nicht. Da bietet mir Nagels Beschreibung des Islam bzw. der Muslime eher einen Anhaltspunkt. (Wenn ich mich hier auf Nagel beziehe, dann auf der einen Seite deshalb, weil er es versteht, seinen Gedanken auf den Punkt zu bringen. Auf der anderen Seite wird bei ihm offensichtlich, dass er seine Meinung zum Thema nicht nur aus dem Quellenstudium bezieht, sonder auch aus seiner eigenen Ansicht der Gegenwart. Ich schließe das aus seiner Übereinstimmung mit den oppositionellen Insidern der Gegenseite, wie z.B. Bassam Tibi, der seinen Euro-Islam, also den demokratiefähigen Islam bereits offiziell zu Grabe getragen hat.)

Zur Historie:
Wie Zumsel schon korrigiert hat, beherrschte die Priesterschaft des Christentums weder die Staaten des Altertums noch die des Mittelalters. Die Priesterschaft war zwar mit dem herrschenden Adel verquickt, aber hatte weder Legislative noch Judikative noch Exekutive inne, auch, wenn sie in alles hineinredete. Insofern ist hier, so übel das damals auch gehandhabt wurde, bereits im Ansatz der Spalt vorhanden, von dem aus man die christliche Kirche später von der Macht vertreiben konnte.

Der Islam ist da anders angelegt: Er beansprucht, die Regeln für die ganze Welt festzulegen, für den Weg der Erkenntnis wie auch für das Leben miteinander, er ist also die Basis nicht nur der Wissenschaft, sonder auch der Legislative und der Judikative. Das lässt er sich auch nicht nehmen, ohne sich komplett in Frage gestellt zu sehen. In der Gegenwart ist das z.B. in der Kairoer Erklärung der Menschenrechte zu erkennen und den koodinierten Aktivitäten der islamischen Staaten in der UN, eine Zusammenfassung der schriftlichen Basis sowie einen Anriss des historischen Ablaufs von Nagel hier habe ich bereits zitiert.

Was der Islam damit etabliert, ist die Bindung an einen Schrift, kombiniert mit der Angst vor dem Tod, denn Häresie wird mit dem Tod bestraft - da Mohammed das bereits selbst mit Verrat gleichsetzt, haben wir hier in gewissem Sinn soetwas wie unseren "Verfassungspatriotismus", den wir gerne anstelle des klassischen, an ein Land oder eine Herrschaft gebundenen setzen würden.

Im Vergleich dazu ist der Christ in seinem Christentum weniger an die Schrift gebunden als an die Kirche (die Schrift war ihm an Anfang sogar verboten), und wenn er die Kirche verlässt, hat diese nur die Sanktionsmöglichkeiten des Staates, wenn der dafür überhaupt Strafen vorsieht.

Da kommt dann eine zweite Ebene dazu: Zum angstbestimmten Verhältnis des Muslims zu seiner heiligen Schrift und seinem Verfasser kommt der Auftrag für jeden Muslim immer und überall zu helfen, innerhalb der Gemeinschaft das Regelwerk des Islam durchzusetzen. In der gesellschaftlichen Realität führt das dazu, dass z.B. eine Rückbesinnung auf die heilige Schrift nicht einfach darin besteht, dass da ein paar Prediger dazu aufrufen und das evtl. von der weltlichen Regierung übernommen wird, wenn die Kirche noch genügend Druckmittel hat, sondern dass sich ganz schnell (in historischen Maßstäben) auch ein Mob organisieren lässt, mit dem man ein ganzes Land überrollen kann, wie bei Afghanistan zu sehen war.

Was aber viel wichtiger ist, sind die klimatischen Folgen diese gegenseitigen Aufpassens. Auch bei den Christen gab es während der Inquisition jede Menge Denunzianten, aber der Islam führt die gegenseitige Überwachung und Zurechtweisung als Pflicht für jedermann und nicht nur für den Blockwart ein. Es war damals bei allen Religionen in allen Staaten so, dass ein Leben außerhalb der religiösen Gemeinde praktisch nicht möglich war. Hier kommt jetzt noch eine Minimierung des Privatraumes dazu - der Islam ist totalitär, auch die Wissenschaft ist da kein Freiraum.

Wenn ich das zusammenfasse, finden wir im Islam fast alle die Fortschrittsbremsen, die wir auch im Christentum während des Altertums und des Mittelalters sehen können. Die drei wesentlichen Unterschiede, die ich sehe, sind, dass im islamisch beherrschten Gebiet die Fähigkeit zu lesen und zu schreiben verbreiteter war, das gab es bei Christens lange Zeit fast nur in den Klöstern, so dass eine Wissenstradition außerhalb eines Klerus stattfinden konnte. Das ist das, was eine Zeit lang noch für Blüten gesorgt hat. 2. etablierte er eine Gesellschaft, die überall und durch jeden kontrollierte. 3. übernahm er eine Kontrollfunktionen in der Gesetzgebung, die Rechtsprechung übernahm er komplett und schaffte so eine komplette Herrschaft über die Gesellschaft.

******
Zur Frage, ob es einen säkularisierten Islam geben kann: Dazu müsste der Islam wesentliche Glaubensgrundsätze aufgeben, wie es z.B. Tibi für seinen Euroislam gefordert hatte. Das wird in einer islamischen Gesellschaft institutionell verhindert (s.o.) in einer westlichen Gesellschaft wäre es prinzipiell möglich, obwohl das Gebieten des Rechten und Verbieten des Verwerflichen (s.o.) auch in dieser Gesellschaft funktioniert, wie der Druck zeigt, dem Abweichler vom Islam auch in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind, was z.B. an den Klagen der Alewiten über Drangsalierung zu erkennen ist. Das bedeutet, dass der Staat hier helfen müsste, was er sich aber verkneift. Das wiederum ist der Hintergrund für Tibis Beerdigung seines Projektes Euro-Islam.

#47: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Zumsel BeitragVerfasst am: 11.10.2016, 11:27
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
Den Mangel an Weltvernunft hat Al-Razi gut erkannt: einen Propheten zu einer ausgewählten Zeit zu einem ausgewählten Völk zu schicken, und dabei seine Botschaft so undeutlich von diversen Scharlatanen abgegrenzt sein zu lassen, daß sich die Anhänger echter und vermeintlicher Propheten gegenseitig die Köpfe einschlagen, das ist ein merkwürdiger Logos.

Stell dir vor, auf allen Kontinenten der Welt, in jeder Kultur, wären zur gleichen Zeit Gesandte aufgetreten, die alle das selbe erzählt hätten. Das wäre ein Zeichen für göttliche Weltvernunft: Gott spricht das Wort zum Sonntag. Regelmäßig und gebührenfrei.


Jetzt verwechselst du aber den philosophischen Vernunftbegriff mit dem alltäglichen aka "gesunder Menschenverstand".

smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Die Frage, ob Gott sein eigenes Naturgesetz ändern kann, ist demgegenüber sehr unphilosophisch und geradezu kindlich-mythologisch.Ein Gott, der die Personifikation der Vernunft und der Wahrheit ist, ist in seinem Willen nicht menschlichen Launen unterworfen. Gott zu erforschen heisst hier, die Vernunft zu erforschen.

Das alte Argument: wenn ein Gott in den Lauf der Welt eingreifen könnte, warum tut er es dann nicht?

Das letzte Gegenargument dazu stammt von Leibniz: Wir leben in der besten aller möglichen Welten. Nicht sehr überzeugend, wenn du mich fragst.


Eigentlich wird da aber nicht gefragt, warum Gott nicht in den Weltverlauf eingreift, sondern warum die Welt ist wie sie ist, also, warum Gott sie so eingerichtet hat. Ein Eingreifen würde ja eine Fehlerkorrektur bedeuten. Du siehst also, auch hier geht es um strukturelle Erforschung, nicht um die Rechtfertigung der Launen eines alten Mannes mit Bart.

smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Ein weiterer bedeuteder neuplatonischer Theologe ist z.B. Eriugena.

Den kannte ich noch nicht.

Das wäre eine Hausaufgabe für mich, herauszufinden, woher die Quellen für seine Aristoteles-Übersetzungen stammten.


Bedeutend für unser Thema ist aus meiner Sicht v.a. dies:
"veram esse philosophiam veram religionem", wahre Philosophie und wahre Religion sind identisch. Und eine Theologie ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie der logischen Überprüfung standhält

Wikipedia hat folgendes geschrieben:
Es war im Frühmittelalter üblich, Meinungen mit einem einfachen Autoritätsbeweis zu rechtfertigen oder zu bekämpfen, indem man zu zeigen versuchte, dass sie Aussagen der Bibel, der Kirchenväter und der Konzilien entsprechen bzw. widersprechen. Eriugena gibt sich damit nicht zufrieden. Diese Neuerung macht den von seiner Umwelt als revolutionär und anstößig empfundenen Aspekt seines Auftretens aus. Am Autoritätsbeweis hält er zwar fest, doch ist dies für ihn nur der letzte, bestätigende Schritt, der eine bereits anderweitig erfolgte Urteilsfindung abrunden soll. Mit dieser Vorgehensweise wird der Folgerichtigkeit der inhaltlichen Argumentation die eigentliche Beweislast aufgebürdet und die Bedeutung der Berufung auf Autoritäten stark reduziert.


https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Scottus_Eriugena

Für mich kommt hier das zum Ausdruck, was die europäische Geistesgeschichte seit den Vorsokratikern auszeichnet: Begründen! Begründen! Begründen! In keinem anderen Kulturkreis hatte (und hat?) die rationale Rechtfertigung einen derart hohen Stellenwert wie in Europa. Die Pflicht zur rational nachvollziehbaren Begründung könnte man geradezu als eine europäische Marotte bezeichnen. Und genau diese Marotte( in Kombination mit sehr vorteilhaften klimatischen Bedingungen) dürfte der wesentliche Vorteil unseres Kulturkreises gewesen sein.

smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Die Philosophie und die Neigung zum rationalen Denken ist im Christentum bereits in seiner Entstehung angelegt. Das Christentum, wie wir es kennen, ist ohne griechische Philosophie gar nicht denkbar.

Kannst du dafür ein oder zwei Beispiele geben? Ich weiß gerade nicht, was du meinst.


Gott als "Logos", Gott als das "Gute an sich", Gott als "oberste Idee", Gott als "reiner Geist", Gott als Verkörperung der intelligiblen Welt...


smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Also war das Christentum vorher inkompatibel mit rationalem Denken?


Touchée, das war schlecht ausgedrückt

Gar nicht. Du hast das schon richtig ausgedrückt.

Reichen die Pariser Verurteilungen als Beleg für die Schwierigkeiten, die die christliche Hauptströmung mit rationalem Denken hatte?


Die Politik der Kirche war i.d.R. ziemlich vernünftig (im alltäglichen Sinne des Wortes) auf Machtsicherung ausgerichtet. Auffällig ist doch, dass zur Irrlehre meist erklärt wurde, was das Potenzial hatte, Autorität oder Notwendigkeit der Kirche in Frage zu stellen. Und ebenso auffälig ist, dass die schlimmsten Ketzerverfolgungen die Verbreitung der entsprechenden Ideen bestenfalls halbwegs im Zaum halten konnte

#48: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 11.10.2016, 12:01
    —
Zumsel hat folgendes geschrieben:
....Und ebenso auffälig ist, dass die schlimmsten Ketzerverfolgungen die Verbreitung der entsprechenden Ideen bestenfalls halbwegs im Zaum halten konnte

Das gehört aber auch in den Zusammenhang, dass die Inquisition nicht von jedem x-beliebigen gemacht werden konnte: da durften die lokalen Richter nicht ran, weil das komplett vom normalen Rechtswesen getrennt war. In der Hinsicht ist der Islam nach der Installation der Schariagerichte und erst recht nach Einführung der Religionspolizei, die ja im Iran wieder (revolutionäre Garde) und in Saudi-Arabien noch existiert, viel flexibler und effektiver. Die erledig(t)en das schnell und ohne viel Aufhebens. Die großen theologischen Prozesse, die die Presse mitbekommt, sind ja zahlenmäßig eher unbedeutend. Von denen, die im Iran mal eben zwischendurch an Baukränen aufgeknüpft werden, erfahren wir nur selten etwas.

Wenn wir uns aber heute den leicht erregbaren Zorn der Muslime über Häresien jeder Art ansehen, der wiederum nur ein Ausdruck der weiter untern schlummernden Angst ist, dann wird vorstellbar, über wieviel Generationen da die Häretiker konsequent ausgerottet worden sein müssen, um eine derart starke Bindung der Glaubensinhalte an dieses Gefühl zu produzieren, die dann unbewusst in der Sprache als Gefühlsinhalt bestimmter Vokabeln transportiert wird.

Da fehlen einfach die Gerichtsakten, weil diese Verhandlungen, wenn man sie überhaupt so nennen kann, nicht so formalisiert ablaufen. Nach dem, was ich so aus Zeitungsfetzen von der revolutionären Garde in Erinnerung habe, würde ich mehr von religösen Lynchkommandos sprechen.

#49: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 12.10.2016, 00:18
    —
Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Jedenfalls hat die Affäre Giordano Bruno die weitere wissenschaftliche Entwicklung in Europa nicht aufgehalten. Warum nicht? Marcellinus sagte Reformation. Ich sagte: warum Reformation?


Nicht wegen dem, was Luther mit der Reformation beabsichtigt hat, sondern wegen dem, was er mit ihr beendet hat: Die Priesterherrschaft der einen kath. Kirche. Von nun an standen die Landeskirchen unter der Kontrolle der Fürsten, und die in Konkurrenz zu einander. Wissenschaft wurde zu einem Mittel der Konkurrenz, besonders im Zeitalter der Entdeckungen, in dem man zunehmend beobachtete, daß man sich wissenschaftliche Tabus nicht leisten konnte.

Das Osmanische wie das Chinesische Reich waren so groß, daß sie ihrer jeweiligen, ideologischen Weltsicht den Vorrang gegenüber neuen, ausländischen Ideen, Erkenntnissen und Methoden geben zu können meinten. Vielleicht hatten Ihre auf den eigenen Ideologien beruhenden Herrschaftssysteme auch einfach nur zu viel verlieren.

So verhinderte der Sultan die Einführung des Buchdrucks in seinem Reich, und der Sohn des Himmels ließ seine prächtige Überseeflotte zerstören, und den Bau weiterer Schiffe bei Todesstrafe verbieten.

So begann der Aufstieg der europäischen Staaten, und unter ihnen vor allem die protestantischen England und Niederlande. Aber auch Spanien, Portugal und Frankreich machten sich erst nicht schlecht, fielen dann aber zurück, während Deutschland in einem Religionskrieg versank, und danach in innerdeutschen Konkurrenzkämpfen zwischen Östereich und Preußen. Die Kath. Kirche, die in all diesen Kämpfen auf der Verliererseite stand, versank immer mehr im Obskurantismus, aus dem sie erst mit dem Vat. II im 20. Jh. halbherzig wieder auftauchte.

Ziemlich genau so sehe ich das auch.

Die kleinteilige Konkurrenz innerhalb Europas war bedeutend. Zum Beispiel sind die Chinesen nach Ostafrika gesegelt, sie hatten aber kein Interesse, dort eine Kolonie zu gründen. Was hätten sie gewinnen können, wo sie sich selbst genügten?

Ganz anders in Europa. Ausgedehnte Handelswege oder Kolonien versprachen einen Machtvorteil auf dem Heimatkontinent.


Ich kann da ehrlich gesagt noch keine konsistente Argumentation erkennen.

Zunächst mal stimmt es ja nicht, dass Priester das Mittelalter "beherrscht" hätten, ...

Warum konnte dann ein Bischof der Pariser Artistenfakultät vorschreiben, was dort gelehrt werden sollte? Antwort: er war der Dekan.

Weitere Beispiele für die weltliche Macht der Kirche: Investiturstreit, Kirchenbann und Gang nach Canossa, später die Exkommunikation von Friedrich II. Bis hin zum Ablaßhandel. Darüber weißt du oder wißt ihr sicher mehr als ich.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
...schon gar nicht außerhalb des Heiligen Römischen Reiches.

Ockham in England wird so zitiert, und das bestätigt deinen Einwand:

Zitat:
Ockham, könne sich an einen Dominikaner (in Oxford) erinnern, der auf den Einwand der Pariser Verurteilung antwortete: damnationem illam nequaquam mare transisse, die Sentenz könne jenseits des Ärmelkanals keine bindende Kraft besitzen.

http://www.hoye.de/ma/ma1277.pdf

Dreihundert Jahre später, zu Zeiten Newtons sieht es anders aus. Dann herrscht in England religiöse Unterdrückung gegen Andersdenkende.

Auf diese Andersdenkenden komme ich bei fwo noch mal zurück.

(Übrigens sprechen wir gerade über einen sehr langen Zeitraum. Und deshalb womöglich aneinander vorbei.)


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Wahr ist, dass die Reformation mit einem Autoritätsverfall des Klerus einherging, Ursache und Wirkung liegen aber ja genau umgekehrt, als hier suggeriert. Die Reformation war weniger Ausgangspunkt als viel mehr notwendige Folge von Urbanisierung, Freihandel und kultureller Blüte, ...

Eine notwendige Folge von Urbanisierung, Freihandel und kultureller Blüte? Genau das gab es im arabischen Raum ein paar Jahrhunderte zuvor ebenso. Warum nicht einfach diese Merkmale nehmen und sie als Voraussetzung sehen für "liberale" Denkrichtungen?

Das passt dann auch dazu:

smallie hat folgendes geschrieben:
Zitat:
Vor einigen Monaten berichtet der Psychologe Joseph Henrich und seine Kollegen von einer interkulturellen Studie die 15 unterschiedliche Gesellschaften untersucht hatte. Heraus kam, daß die Neigung der Menschen, sich Fremden gegenüber freundlich zu verhalten und Ungerechtigkeit [unfairness] zu ahnden in auf Handel basierenden Gesellschaften [market economies] am Stärksten waren; derartige Normen für sind für den reibungslosen Handel wesentlich.

http://www.nytimes.com/2010/05/09/magazine/09babies-t.html?pagewanted=all&_r=2



Zumsel hat folgendes geschrieben:
... die in erster Linie mal von den Handelszentren des grundkatholischen Italien ausgingen, also durchaus nicht zufällig in geographischer Nähe zum Zentrum des antiken Europas.

Eher: nicht zufällig in geographischer Nähe zur arabischen Welt.

Ich sag nur Fibonacci, der hat um 1200 herum die arabischen Zahlen in Europa eingeführt. Doppelte Buchführung - eine arabische Erfindung. Usw.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Mir ist auch nicht ganz klar, wie die These von der fruchtbaren kleinteiligen Konkurrenz der Fürsten im HRR zu der Tatsache passen soll, dass gerade die zentralistisch regierten Königreiche besonders erfolgreich waren.

Die Überlegung ist aus der Evolutionstheorie geborgt. Drei Blöcke, von denen zwei monolithisch sind, der dritte differenziert:

    China
    Osmanisches Reich
    Europa (=HRR, später Spanien, Portugal, England, Frankreich, ...)


Die Konkurrenz innerhalb Europas führt dazu, daß Europa den anderen Blöcken davonläuft. Um das an einem Beispiel anschaulich zu machen.

Der Chinese Zhen-He besegelte die Westmeere und kam bis nach Ostafrika. Im zentralistischen China wurde allerdings beschieden: interessiert uns nicht.

Ganz anders in Europa. Du erinnerst dich an den italienischen Seefahrer, der den Erdumfang zu gering berechnet hatte und deshalb der Meinung war, er könne nach Westen segelnd Indien erreichen. Kaum jemand glaubte seiner Berechnung, erst die Spanier schickten ihn, aus welchen Gründen auch immer, auf sein Himmelfahrtskommando. Zufälliger Weise fand Kolumbus etwas, das er nicht gesucht hatte, sonst hätte man nie wieder von ihm gehört.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Und auch nicht, worin der direkte Zusammenhang zwischen Kolonialismus und wissenschaflichen Fortschritt bestehen soll.

Von Kleinkram wie Navigation, Mercator-Projektion, gang-genauen Uhren mal abgesehen:

Alexander Humboldt hätte es ohne Kolonialismus nicht so schnell gegeben. Darwin war Mitreisender auf einer kartographischen Expedition.

#50: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 12.10.2016, 01:08
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
...
Eine notwendige Folge von Urbanisierung, Freihandel und kultureller Blüte? Genau das gab es im arabischen Raum ein paar Jahrhunderte zuvor ebenso. Warum nicht einfach diese Merkmale nehmen und sie als Voraussetzung sehen für "liberale" Denkrichtungen?....

kulturelle Blüte und "liberale" Denkrichtungen sind zwar nicht genau das selbe, aber irgendwie riecht das gerade nach Kreisschluss.

Was mir da noch auffällt: Die Araber waren eigentlich auch nach dem Mittelalter noch mit Handel beschaftigt, trotzdem war die geistige Freiheit rückläufig.
Das hier klingt für mich eher nach dem umgedrehten Kausalverhältnis : Wer offen genug ist, kann auch Handel treiben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Das passt dann auch dazu:

smallie hat folgendes geschrieben:
Zitat:
Vor einigen Monaten berichtet der Psychologe Joseph Henrich und seine Kollegen von einer interkulturellen Studie die 15 unterschiedliche Gesellschaften untersucht hatte. Heraus kam, daß die Neigung der Menschen, sich Fremden gegenüber freundlich zu verhalten und Ungerechtigkeit [unfairness] zu ahnden in auf Handel basierenden Gesellschaften [market economies] am Stärksten waren; derartige Normen für sind für den reibungslosen Handel wesentlich.

http://www.nytimes.com/2010/05/09/magazine/09babies-t.html?pagewanted=all&_r=2
....


Auch bin ich mir nicht sicher, ob man im mittelalterlichen und dann neuzeitlichen Europa wirklich von konkurrierenden Systemen sprechen kann. Wenn ich das beschreiben sollte, würde ich es als ein Vielvölker-System beschreiben, in dem die lokalen Familien einer übergreifenden Kaste von Schutzgelderpressern (=Adel) mit Mord und Totschlag um die Vorherrschaft rangen. Der einzige echte Wettbewerb, der stattfand, bestand in Wikingerübungen - da sind wir wieder beieinander: Beutemachen im militärisch unterlegenen Ausland. Der brutalste Teil davon, die Sklavenjagd zur Beschaffung dieses auch bei Europäern begehrten Handelsgutes befand sich mW in Afrika aber fest in arabischer Hand - es waren nicht nur die Europäer Kolonialisten, sie waren nur die militärisch erfolgreicheren.

(Treppenwitz zu diesem Thema: Die erste juristische Forderung nach Freiheit als allgemeinem Menschenrecht in Form einer allgemeinen Ablehnung der Sklaverei stand 1235 im weltlichen Rechtsbuch "Sachsenspiegel" und wurde christlich begründet.)

#51:  Autor: Friedensreich BeitragVerfasst am: 12.10.2016, 11:44
    —
Aber man sollte auch nicht außer acht lassen, dass im 10/11 JH neben islam. Philosophen auch ein Staat der Karmaten durch Abu Qarmat errichtet wurde, der in letzter Konsequenz atheistisch war. Irgenwie sehe ich darin eine Vosrtufe des Kommunismus. Als mir am meisten imponierene Aktion, war doch der Raub des "schwarzen Steines" durch die Karmaten. Sie gaben ihn nach etwa 30 jahren gegen "Lösegeld" wieder zurück. Immerhin hat sich der Staat mehr als 100 Jehre lang gehalten. Zugrunde gegangen ist er durch fehlende wirtschafts und Machtstrukturen. Außerdem war der Staat, so sehe ich es, eher auf Plünderung der umliegenden Staaten ausgerichtet und irgendwann ist halt auch mal alles leergeplündert. Auch ar-Razi war dem Islam gegenüber eher kritisch eingestellt.

#52:  Autor: Marcellinus BeitragVerfasst am: 12.10.2016, 13:26
    —
fwo hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
....
Allerdings könnte ich anmerken, daß die Verfolgten aus der islamischen Tradition heraus zu einer Neuerung fähig waren, zu der es keine Parallele im Christentum gibt. Deshalb würde ich dem Islam die Wandlungsfähigkeit nicht grundsätzlich absprechen.

Nur als ganz kleiner Einwand (ich schreibe immer noch an der größeren Antwort - sie will irgendwie nicht):
West-Europa war praktisch zu 100% christlich. Wenn Du also die Religionen bzw. ihren Machtbereich als Biotop neuer Traditionen betrachtest, dann solltest Du den europäischen Atheismus als etwas aus dem Christentum entstandenes verstehen und ihn dem Christentum zuguten halten.
Geschockt Lachen


Nun, weil etwas in einen bestimmten Bereich entstanden ist, muß man es ihm deswegen nicht „zugute halten“, ist es doch wesentlich ein Reaktion auf dessen Irrtümer und Fehler. Es war ja auch nicht ein Vorzug des Ptolemäischen Weltbildes, daß darauf das kopernikanische entstanden ist.

fwo hat folgendes geschrieben:
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
fwo hat folgendes geschrieben:

Ich gehe nicht davon, aus, dass wir unsere heutige Freiheit der christlichen Tradition zu verdanken haben. Ich habe selbst schon oft genug betont, dass den christlichen Kirchen die Freiheiten, die wir heute besitzen, abgerungen wurden. Meine Fragestellung ist vielmehr, wie es geschehen konnte, dass das Christentum bzw. die christlichen Kirchen soviel Kontrolle verloren haben, während der Islam, abgesehen von einigen zeitlich und örtlich begrenzten Blüten praktisch kontinuierlich an Kontrolle gewinnt.


Es hat mit dem Staatenbildungsprozeß zu tun. Je mehr sich die westlichen Staaten entwickelten, umso mehr säkularisierten sie sich, dh. umso mehr Macht und Funktionen wanderte von den Kirchen zu den Staatsverwaltungen, während die Kirchen immer mehr auf das Niveau von Anstalten zur Verwaltung von Heilsgewißheiten herabsanken.

In den islamischen Ländern beobachten wir stattdessen das Gegenteil, den zunehmenden Verfall von Staaten, die Auflösung von staatlichen Gewaltmonopolen, die Entfunktionalisierung von Justiz und Verwaltung und den Aufstieg von nichtstaatlichen, religiös organisierten Machtzentren, erst neben, dann anstatt der staatlichen.

Das ist eine schöne Beschreibung des Vorganges von einem anderen Standpunkt, verstehen tue ich ihn dadurch noch nicht. Da bietet mir Nagels Beschreibung des Islam bzw. der Muslime eher einen Anhaltspunkt. (Wenn ich mich hier auf Nagel beziehe, dann auf der einen Seite deshalb, weil er es versteht, seinen Gedanken auf den Punkt zu bringen. Auf der anderen Seite wird bei ihm offensichtlich, dass er seine Meinung zum Thema nicht nur aus dem Quellenstudium bezieht, sonder auch aus seiner eigenen Ansicht der Gegenwart. Ich schließe das aus seiner Übereinstimmung mit den oppositionellen Insidern der Gegenseite, wie z.B. Bassam Tibi, der seinen Euro-Islam, also den demokratiefähigen Islam bereits offiziell zu Grabe getragen hat.)


Nagel ist Philosoph und betreibt wesentlich Ideengeschichte. Vielleicht liegt er dir daher mehr. Ich habe aber erhebliche Zweifel, ob Menschen und die Gesellschaften, die sie miteinander bilden vor allem von Ideen geleitet und entwickelt werden. Anderseits sind sie auch nicht ein bloßer „Überbau“. Vielmehr gehe ich davon aus, daß Ideen gedankliche Werkzeuge sind, und wie Werkzeuge werden sie unter bestimmten Bedingungen von Menschen entwickelt, und wenn man sie dann einmal hat, auch angewendet. Aber wie ein Elektromotor nur funktioniert, wenn man auch die entsprechende Infrastruktur hat, können Ideen nicht unter beliebigen Bedingungen funktionieren. Dafür sind sie allerdings erheblich anpassungsfähiger, besonders, wenn sie, wie philosophische und noch mehr religiöse Ideen, vor allem auf dem „Argument“ der Glaubwürdigkeit beruhen.

fwo hat folgendes geschrieben:

Zur Historie:
Wie Zumsel schon korrigiert hat, beherrschte die Priesterschaft des Christentums weder die Staaten des Altertums noch die des Mittelalters. Die Priesterschaft war zwar mit dem herrschenden Adel verquickt, aber hatte weder Legislative noch Judikative noch Exekutive inne, auch, wenn sie in alles hineinredete. Insofern ist hier, so übel das damals auch gehandhabt wurde, bereits im Ansatz der Spalt vorhanden, von dem aus man die christliche Kirche später von der Macht vertreiben konnte.


Zumsel hat gar nichts „korrigiert“, wie smallie schon geschrieben hat. Der „Spalt“ bestand nicht zwischen Kirche und Adel, denn wie ihr beide zu Recht geschrieben habt, rekrutierte sie die mittelalterliche Kirche wesentlich aus dem Adel, sondern der Spalt bestand strukturell zwischen Priesterherrschaft und Königsherrschaft. Im Mittelalter rekrutierten sie die staatlichen Funktionsträger (soweit man überhaupt davon sprechen konnte) vor allem aus Kirchenmännern, schon, weil das die einzigen waren, die lesen und schreiben konnten. Die ersten Universitäten dienten vor allem der Ausbildung von Klerikern. Das ist übrigens der eigentliche Grund, warum Theologie bis heute zu den Wissenschaften zählt.

Erst mit der Säkularisierung, verursacht vor allem durch die zunehmende Konzentration von zuerst militärischer Macht in den Händen von Königen, dem sich in den befriedeten Gebieten ausbreitenden Handel und den damit steigenden Steuereinnahmen wuchs eine säkulare Verwaltung, und damit der Rückgang kirchlicher Macht.

fwo hat folgendes geschrieben:

Der Islam ist da anders angelegt: Er beansprucht, die Regeln für die ganze Welt festzulegen, für den Weg der Erkenntnis wie auch für das Leben miteinander, er ist also die Basis nicht nur der Wissenschaft, sonder auch der Legislative und der Judikative. Das lässt er sich auch nicht nehmen, ohne sich komplett in Frage gestellt zu sehen. In der Gegenwart ist das z.B. in der Kairoer Erklärung der Menschenrechte zu erkennen und den koodinierten Aktivitäten der islamischen Staaten in der UN, eine Zusammenfassung der schriftlichen Basis sowie einen Anriss des historischen Ablaufs von Nagel hier habe ich bereits zitiert.


Der Anspruch des Christentums war nicht anders, wenn auch nicht ausdrücklich in der Bibel formuliert. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, daß die Islamischen Staaten, nach einer Phase, in der die Priesterherrschaft wesentlich hinter der der Kalifen und Sultane zurückstehen mußte, und die deshalb ein Phase geistigen und wissenschaftlichen und damit auch wirtschaftlichen Fortschritts war, nun sich seit einigen Jahrhunderten immer mehr in Auflösung befinden, was den Priestern immer mehr Einfluß auf Bildung und Erziehung und damit auf alle Staatsgeschäfte und gesellschaftlichen Verhältnisse eingeräumt hat - mit den bekannten Ergebnissen.

fwo hat folgendes geschrieben:

Was der Islam damit etabliert, ist die Bindung an einen Schrift, kombiniert mit der Angst vor dem Tod, denn Häresie wird mit dem Tod bestraft - da Mohammed das bereits selbst mit Verrat gleichsetzt, haben wir hier in gewissem Sinn soetwas wie unseren "Verfassungspatriotismus", den wir gerne anstelle des klassischen, an ein Land oder eine Herrschaft gebundenen setzen würden.

Im Vergleich dazu ist der Christ in seinem Christentum weniger an die Schrift gebunden als an die Kirche (die Schrift war ihm an Anfang sogar verboten), und wenn er die Kirche verlässt, hat diese nur die Sanktionsmöglichkeiten des Staates, wenn der dafür überhaupt Strafen vorsieht.


Wie gesagt, solange die Priesterherrschaft in den christlichen Ländern mangels einer säkularen Staatsmacht ungebrochen war, war Apostasie im Christentum ebenso undenkbar wie im Islam. Es wurde noch im 19. Jh in Spanien Todesurteile wegen Ungläubigkeit verhängt und vollstreckt.

fwo hat folgendes geschrieben:

Zur Frage, ob es einen säkularisierten Islam geben kann: Dazu müsste der Islam wesentliche Glaubensgrundsätze aufgeben, wie es z.B. Tibi für seinen Euroislam gefordert hatte. Das wird in einer islamischen Gesellschaft institutionell verhindert (s.o.) in einer westlichen Gesellschaft wäre es prinzipiell möglich, obwohl das Gebieten des Rechten und Verbieten des Verwerflichen (s.o.) auch in dieser Gesellschaft funktioniert, wie der Druck zeigt, dem Abweichler vom Islam auch in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind, was z.B. an den Klagen der Alewiten über Drangsalierung zu erkennen ist. Das bedeutet, dass der Staat hier helfen müsste, was er sich aber verkneift. Das wiederum ist der Hintergrund für Tibis Beerdigung seines Projektes Euro-Islam.


Für einen säkularisierten Islam braucht es funktionierende, säkulare Staaten, mit einem funktionierenden Gewaltmonopol und der Ausschließung der Priester aus staatlichen Funktionen. Dazu fehlen vor allem in eigentlich allen islamischen Staaten die sozialen Voraussetzungen, bzw. wie in der Türkei, werden sie zum Teil sogar aktiv beseitigt, wie zB das Schließen von Schulen, die nicht reine Koran-Schulen sind. Solange sich daran nichts ändert, ist auf Besserung nicht zu hoffen.

#53:  Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 12.10.2016, 14:19
    —
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
fwo hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
....
Allerdings könnte ich anmerken, daß die Verfolgten aus der islamischen Tradition heraus zu einer Neuerung fähig waren, zu der es keine Parallele im Christentum gibt. Deshalb würde ich dem Islam die Wandlungsfähigkeit nicht grundsätzlich absprechen.

Nur als ganz kleiner Einwand (ich schreibe immer noch an der größeren Antwort - sie will irgendwie nicht):
West-Europa war praktisch zu 100% christlich. Wenn Du also die Religionen bzw. ihren Machtbereich als Biotop neuer Traditionen betrachtest, dann solltest Du den europäischen Atheismus als etwas aus dem Christentum entstandenes verstehen und ihn dem Christentum zuguten halten.
Geschockt Lachen


Nun, weil etwas in einen bestimmten Bereich entstanden ist, muß man es ihm deswegen nicht „zugute halten“, ist es doch wesentlich ein Reaktion auf dessen Irrtümer und Fehler. Es war ja auch nicht ein Vorzug des Ptolemäischen Weltbildes, daß darauf das kopernikanische entstanden ist. ...

Ich benutze selten Smilies. Ich dachte, es sei offensichtlich, wie das gemeint ist.
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
...Ich habe aber erhebliche Zweifel, ob Menschen und die Gesellschaften, die sie miteinander bilden vor allem von Ideen geleitet und entwickelt werden. Anderseits sind sie auch nicht ein bloßer „Überbau“. Vielmehr gehe ich davon aus, daß Ideen gedankliche Werkzeuge sind, und wie Werkzeuge werden sie unter bestimmten Bedingungen von Menschen entwickelt, und wenn man sie dann einmal hat, auch angewendet. Aber wie ein Elektromotor nur funktioniert, wenn man auch die entsprechende Infrastruktur hat, können Ideen nicht unter beliebigen Bedingungen funktionieren. Dafür sind sie allerdings erheblich anpassungsfähiger, besonders, wenn sie, wie philosophische und noch mehr religiöse Ideen, vor allem auf dem „Argument“ der Glaubwürdigkeit beruhen....

Wenn Du schreibst, dass Gesellschaften nicht vor allem von Ideen geleitet werden, sind wir uns einig - die Vernunft wird da regelmäßig überschätzt.
Aber Ideen wirken nicht nur über die Ratio:
fwo hat folgendes geschrieben:
....
Wenn wir uns aber heute den leicht erregbaren Zorn der Muslime über Häresien jeder Art ansehen, der wiederum nur ein Ausdruck der weiter untern schlummernden Angst ist, dann wird vorstellbar, über wieviel Generationen da die Häretiker konsequent ausgerottet worden sein müssen, um eine derart starke Bindung der Glaubensinhalte an dieses Gefühl zu produzieren, die dann unbewusst in der Sprache als Gefühlsinhalt bestimmter Vokabeln transportiert wird.....

Auf dieses Ergebnis weist Nagel hin, wenn er seinem Aufsatz diesen Satz vorausstellt:
Zitat:
Der Leser möge bei der notwendigerweise gedrängten Darstellung im Auge behalten, dass alles, was vorzutragen ist, für den gläubigen Muslimen kein intellektuelles Spiel ist, sondern seine Existenz unmittelbar und tief berührt. Sich dies vorzustellen, ist für jemanden, der an den postmodernen Synkretismus aus unüberschaubar vielen Religions- und Weltanschauungssplittern gewöhnt ist, kein geringes Ansinnen; aber es ist ihm zuzumuten, sofern er die Herausforderung begreifen will, vor der er steht.

Wenn wir über dieses Thema reden, tun wir das als intellektuelle Übung. Wer in diesem religiösen Anspruch sozialisiert ist, völlig egal, ob diese Religion jetzt Islam oder Chirstentum heißt, der Unterschied zwischen beiden war lange genug marginal und ist es außerhalb Europas teilweise heute noch, der hört da auf zu denken, weil das Gefühl zu stark wird, bzw. wird in den Bahnen denken, die das Gefühl zulässt. Mohammeds Ideen sind in der Ausführung stärker geeignet als die christlichen, die Änderung der Gefühlswelt seiner Nachfolger festzuschreiben. Darin sehe ich ihren evolutionären Vorteil. Die Hisba, die Mohammed einführt, hat im Christentum kein Äquivalent. Die Veränderung des Islam in Richtung Demokratietauglichkeit ist da nicht nur eine Sache der äußeren Bedingungen, die Du richtig aufzählst, sie bedarf des Überbordwerfens einiger Glaubensgrundsätze und auch des Verzichts auf die Hisba. Der Euro-Islam, wenn er denn kommt, wird aus der Sicht des othodoxen Islam kein Islam mehr sein, weshalb deren Mitwirkung sehr zweifelhaft sein wird. Und es wird eine Arbeit von Generationen sein.

#54: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Religionskritik-WiesbadenWohnort: Wiesbaden BeitragVerfasst am: 13.10.2016, 01:06
    —
DonMartin hat folgendes geschrieben:
Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:

Byzanz,
bis eben die Kreuzfahrer es eroberten (1204) und so sehr schwächten,
dass die Eroberung durch die Türken 1453 eher Glück, als Schrecken bedeuteten.

In Byzanz gab es eine hohe Schulbildung - zu der auch das Studium von 'nicht christlichen' Philosophen gehörte.

Ebend.
Ich finde es eine absurde Vorstellung, die antike heidnische Zivilisation wäre von dumpfen Christen verdaddelt worden, um dann von edlen islamischen Arabern wieder ausgebuddelt zu werden.
Das alte (christliche) Byzanz hat die antike Zivilisation bewahrt, und von denen haben es die Araber, als sie grosse Teile des oströmischen Reiches plattgemacht haben.


äh,
plattgemacht würde ich nicht formulieren,
- sondern einfach nur 'erobert'.

Es ist ja bekannt, das Christen, Juden und auch viele andere innerhalb der dann von Muslimen eroberten Gebiete meist ihre kulturellen Freiheiten behalten durften.
Ansonsten hätte es schon damals eine Völkerwanderung in Richtung christliches Westeuropa gegeben.
Eine harte Hand gegen Nichtislamische Kulte lässt sich eigentlich nur in der ersten Phase der Eroberung beobachten. Da dann eben auch vor allem auf der saudischen Halbinsel.

Auch später - im 12. Jahrhundert war das christliche 'Westeuropa' nicht sexy für die anderen christlichen Gemeinschaften,
die blutigen Kreuzzugsheere waren ja bekannt,
und als Ostrom in das Ei zurückschlüpfte,
auch da haben sich die schismatischen Orthodoxen nicht auf den Weg zu ihren Glaubensbrüdern im Westen gemacht.
Man blieb lieber unter einem Sultan,
als unter einem westlichen und dann wohl katholischen Herrscher.

zurück zu Aristoteles und Byzanz als Ergänzung für diesen Thread,
in Berlin hat im Juli 2016 Prof. Christophe Erismann (Universität Wien)
über das Thema:

Zitat:
Aristoteles in Byzanz und die Pluralität der philosophischen Traditionen des neunten Jahrhunderts

Quelle:
http://www.fu-berlin.de/campusleben/kalender/2016/07/20160713-aristoteles-ringvorlesung.html

hier dann mal was via google - books,
quelle: Philosohphie in Byzanz, Seite S. 215



Erwähnt sei noch,
das man auch bis zum Mongolensturm in prächtigen und prunkvollem Kiew wohl die Schriften von Aristoteles studieren konnte.

#55:  Autor: Eklatant BeitragVerfasst am: 13.10.2016, 07:32
    —
Angeblich sei die Idee der natürlichen Selektion (Evolution) bereits diskutiert worden:

https://en.wikipedia.org/wiki/Islamic_Golden_Age#Evolution

Zitat:
In his survey of the history of the ideas which led to the theory of natural selection, Conway Zirkle noted that al-Jahiz was one of those who discussed a "struggle for existence", in his Kitab al-Hayawan (Book of Animals), written in the 9th century.[43] In the 13th century, Nasir al-Din al-Tusi believed that humans were derived from advanced animals, saying, "Such humans [probably anthropoid apes] live in the Western Sudan and other distant corners of the world. They are close to animals by their habits, deeds and behavior."[44] In 1377, Ibn Khaldun in his Muqaddimah stated, "“The animal kingdom was developed, its species multiplied, and in the gradual process of Creation, it ended in man & arising from the world of the monkeys.”[45]


Und die Herkunft des Menschen aus dem Tierreich/von Primaten
Quellen:
http://azer.com/aiweb/categories/magazine/92_folder/92_articles/92_tusi.html
http://archive.aramcoworld.com/issue/200703/rediscovering.arabic.science.htm

Interessant dabei ist sowieso die Rolle der
https://de.wikipedia.org/wiki/Mu%CA%BFtazila Doktrin

Zitat:
Die rationalistische Methode, welche die Kalam-Gelehrten eingeführt hatten, betrachteten einige sunnitische Hauptvertreter als Häresie. Zu den bekanntesten dieser Vertreter zählt Ahmad ibn Hanbal (gest. 855). 833 wurde gegen sie eine Inquisition (arabisch Mihna) eingeführt. Als Prüfstein wurde die von Abū l-Hudhail gelehrte Erschaffenheit des Korans verwendet, diese wurde nämlich von den Traditionsgelehrten bestritten, die glaubten, dass der Koran die unerschaffene Rede Gottes sei. Diejenigen, die der Lehre Abū l-Hudhails nicht zustimmten, wurden bestraft, darunter auch Ahmad ibn Hanbal. Für die Muʿtaziliten war dieses Inquisitionsverfahren allerdings eher kontraproduktiv. Sie galten fortan als Komplizen des Unrechtsregimes, das für die Mihna verantwortlich war.


bzw. die Mihna:
https://de.wikipedia.org/wiki/Mihna

Und ihr Einfluss bzw. Verschwinden in der Geschichte wieder.


Zur Rolle Ghazalis gab es eine zweischneidige Meinung so wäre die Einführung von Qur'anschulen durch Nizam al-Mulk.

Meint zumindest:
https://de.qantara.de/content/al-ghazalis-verhaeltnis-zur-wissenschaft-der-missverstandene-philosoph

Zitat:
Mit der Festlegung auf das 11. Jahrhundert als die Periode, in der die Muslime begannen, sich von wissenschaftlichen Entwicklungen abzuwenden, haben die Wissenschaftler zwar recht. Allerdings haben sie als treibende Kraft die falsche Person identifiziert. Tatsächlich war es Abu Ali al-Hassan al-Tusi (1018-1092), besser bekannt unter dem Namen Nizam al-Mulk, der Großwesir der Seldschuken-Dynastie.
Islamische Restauration, statt wissenschaftlicher Fortschritt: Nizam al-Mulk hatte ein Bildungssystem geschaffen, das sogenannte Nizamiyah, welches auf religiöse Studien fokussierte – zu Lasten der unabhängigen Forschung.
Zum ersten Mal in der islamischen Geschichte wurden religiöse Studien institutionalisiert und als lukrativer Karriereweg angesehen. Zuvor waren Wissenschaft und islamisches Recht miteinander verflochten gewesen.

Gegenbewegung zum rationalistischen Denken

Die Schulen der Nizamiyah konzentrierten sich jedoch nicht nur auf die Religion, sondern nahmen auch als Quelle eine strenge sunnitische Interpretation der islamischen Jurisprudenz in ihren Lehrplan auf: die schafiitische Rechtsschule.


Insgesamt muss man konstatieren, dass eben der Islam bzw. die Hinwendung zur vorherrschenden Religion (was nunmal der Islam mit all seinem Blödsinn ist) - auch in der Rechtsprechung und Finanzierung - dazu führte, dass das "Goldene Zeitalter der Arabisch / Persischen Wissenschaft" kaputt ging bzw. sang und klanglos entschlummerte.
Natürlich wurden Waffentechniken immernoch weiter entwickelt Lachen

Von "goldenem Zeitalter des Islams" zu sprechen ist in etwa so als, wenn ab morgen der christliche Kreationismus ein neues dunkles Zeitalter einleiten würde und Menschen im Jahre 3016 über die Zeit von ~1800-2016 als "Goldenes Zeitalter des Christentums" sprechen würden.
So lächerlich ist dieser blödsinnige Titel eigentlich.

#56:  Autor: Marcellinus BeitragVerfasst am: 13.10.2016, 12:11
    —
fwo hat folgendes geschrieben:

Wenn wir über dieses Thema reden, tun wir das als intellektuelle Übung. Wer in diesem religiösen Anspruch sozialisiert ist, völlig egal, ob diese Religion jetzt Islam oder Chirstentum heißt, der Unterschied zwischen beiden war lange genug marginal und ist es außerhalb Europas teilweise heute noch, der hört da auf zu denken, weil das Gefühl zu stark wird, bzw. wird in den Bahnen denken, die das Gefühl zulässt. Mohammeds Ideen sind in der Ausführung stärker geeignet als die christlichen, die Änderung der Gefühlswelt seiner Nachfolger festzuschreiben. Darin sehe ich ihren evolutionären Vorteil. Die Hisba, die Mohammed einführt, hat im Christentum kein Äquivalent. Die Veränderung des Islam in Richtung Demokratietauglichkeit ist da nicht nur eine Sache der äußeren Bedingungen, die Du richtig aufzählst, sie bedarf des Überbordwerfens einiger Glaubensgrundsätze und auch des Verzichts auf die Hisba. Der Euro-Islam, wenn er denn kommt, wird aus der Sicht des othodoxen Islam kein Islam mehr sein, weshalb deren Mitwirkung sehr zweifelhaft sein wird. Und es wird eine Arbeit von Generationen sein.


Ich weiß nicht, ob der Islam je demokratietauglich sein wird. Ich weiß auch nicht, ob es das Christentum ist, oder irgendeine andere sekundäre (Offenbarungs-)Religion. Demokratien leben davon, die Lebensverhältnisse der Menschen, ihre offiziellen Beziehungen untereinander zu verhandeln, daß den Menschen das, was sie gemeinsam haben, ihr Staat, ihre Gesellschaft, die Rechte und Gesetze, die ihr Zusammenleben regeln, wichtiger ist als das, was sie unterscheidet. Das verträgt sich nicht mit der Vorstellung einer absoluten Wahrheit, ganz egal woher sie kommt.

In der Praxis besteht also die Demokratiefähigkeit solcher Glaubensgemeinschaften, seien sie religiöser Art oder nicht, immer darin, daß eine genügend große Zahl ihrer Mitglieder wesentliche Glaubensgrundsätze „über Bord werfen“ zugunsten eines Zusammenleben mit anderen.

Bei der Mehrzahl der Christen in unserem Land ist das passiert, und zwar beides (und vermutlich hängt beides sogar voneinander ab): sie haben sich mehrheitlich für einen Vorrang unserer Rechte und Gesetze vor ihren Glaubensgrundsätzen entschieden, und sie haben dabei viele dieser Glaubensgrundsätze über Bord geschmissen.

Der Weg, den die Moslems noch zu gehen haben, ist sicherlich weiter, aber einige sind ihn schon gegangen. Nicht über die Veränderung (schon gar nicht „Reformation“) des Islam, sondern durch „über Bord werfen“ von Glaubenssätzen. Es scheint mir auch der einig mögliche Weg. Die Pfaffen werden dann schon nachkommen, schon um den Kontakt zu ihren „Schäfchen“ nicht zu verlieren.

Es ist also albern, von den Mullahs und Imamen zu verlangen, ihren Islam zu verändern. Sie werden sagen, daß sie das gar nicht können, und wenn wir die Religionsfreiheit ernst nehmen, können wir es auch nicht von ihnen verlangen. Wie das Christentum vorher auch wird der Islam sich nur verändern, wenn die Mehrzahl der Moslems aufhört, ihn so ernst zu nehmen. Und das geht, wenn sie etwas haben, was ihnen wichtiger ist, die Teilhabe an dieser Welt. Dazu sollten wir sie ermuntern. Leider tun wir im Moment das Gegenteil. Einerseits grenzen wir sie aus, indem wir alle Menschen muslimischer Herkunft auf ihre zugegeben rückständige Religion reduzieren, und andererseits fördern wir genau diese Rückständigkeit, indem wir im wesentlichen mit denen diskutieren, die wir für ihre religiösen Vertreter halten. Das kann nicht gut gehen!

Die Mehrzahl der Mitglieder der christlichen Konfessionen sind keine Überzeugungstäter, eher „Kulturchristen“, aufgewachsen in einer bestimmten Tradition, die aber nur in beschränktem Umfang ihr Verhalten bestimmt. Ich habe die starke Vermutung, daß das auch zu früheren Zeiten nicht anders war, nur daß die größere Macht der Kleriker eben eine größere Anpassung erzwang, aber nicht eine größere Überzeugung.

Ich vermute ebenfalls, daß das bei den Moslems nicht anders ist. Bei denen, die aus dem Iran gekommen sind, ist es sogar offensichtlich, sind doch viele dort sogar ausdrücklich vor dem Mullah-Regime geflohen.

Kurz gesagt: der Islam an sich (was immer das sein mag) ist zwar theoretisch ziemlich reformunfähig, aber in der Praxis hängt es daran nicht, sondern, wie beim Christentum auch (man denke nur an die Fundamentalisten in den USA), daran, inwieweit ein radikaler, fundamentalistischer Islam in der Lage ist, weiterhin Menschen an sich zu binden. Das ist keine theologische, keine theoretische Frage, und keine intellektuelle Übung, sondern eine praktische.

#57:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 13.10.2016, 22:07
    —
fwo hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
....
Allerdings könnte ich anmerken, daß die Verfolgten aus der islamischen Tradition heraus zu einer Neuerung fähig waren, zu der es keine Parallele im Christentum gibt. Deshalb würde ich dem Islam die Wandlungsfähigkeit nicht grundsätzlich absprechen.

Nur als ganz kleiner Einwand (ich schreibe immer noch an der größeren Antwort - sie will irgendwie nicht):
West-Europa war praktisch zu 100% christlich.

Zu 100 % christlich? Die gehörten bestimmt allen zur Konfession der echten und einzig wahren Schottenchristen. Pfeifen

Jan Hus war eine andere Art von Christ, als jene, die ihn verbrannt haben. Es gibt kein 100-prozentiges Christentum. Weder das Christentum noch der Islam sind ein monolithischer Block.


fwo hat folgendes geschrieben:
Wenn Du also die Religionen bzw. ihren Machtbereich als Biotop neuer Traditionen betrachtest, dann solltest Du den europäischen Atheismus als etwas aus dem Christentum entstandenes verstehen und ihn dem Christentum zuguten halten.
Geschockt Lachen

Marcellinus hat bereits ein treffendes Argument gebracht.

In Ergänzung: der europäische Atheismus ist nicht direkt aus dem Christentum entstanden. Dazwischen gab es eine Übergangsphase von deistischen Freidenkern. Ich stelle mal die kesse These in den Raum, daß gesellschaftlicher Fortschritt oft von religiösen Dissidenten ausging. Zumindest bis ins neunzehnte Jahrhundert. Das waren die Andersdenkenden, die ich oben erwähnt hatte.



Für's Archiv, muß man nicht lesen, aber ich werde Thomas Paine gleich nochmal brauchen. Stichwort Vernunft.

(Übersetzung hinzugefügt.)

smallie hat folgendes geschrieben:
Zitat:
Thomas Paine - The Age of Reason
1794, 1795, and 1807

Ich glaube an einen Gott, nicht an mehrere und hoffe auf Glückseligkeit jenseits dieses Lebens. Ich glaube an die Gleichheit der Menschen und ich glaube, daß die religiösen Pflichten darin bestehen, Gerechtigkeit zu üben und liebevolle Gnade, und danach zu trachten unsere Mitgeschöpfe glücklich zu machen.

Ich glaube nicht an das Bekenntnis der jüdischen Kirche, der römischen Kirche, der griechischen Kirche, der türkischen Kirche, der protestantischen Kirche, noch an das irgendeiner anderen Kirche, die ich kenne. Mein Verstand ist mir meine eigene Kirche.



I believe in one God, and no more; and I hope for happiness beyond this life. I believe in the equality of man; and I believe that religious duties consist in doing justice, loving mercy, and endeavouring to make our fellow-creatures happy.

[...] I do not believe in the creed professed by the Jewish Church, by the Roman Church, by the Greek Church, by the Turkish Church, by the Protestant Church, nor by any church that I know of. My own mind is my own church.

http://en.wikipedia.org/wiki/The_Age_of_Reason

#58: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 13.10.2016, 23:47
    —
Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Den Mangel an Weltvernunft hat Al-Razi gut erkannt: einen Propheten zu einer ausgewählten Zeit zu einem ausgewählten Völk zu schicken, und dabei seine Botschaft so undeutlich von diversen Scharlatanen abgegrenzt sein zu lassen, daß sich die Anhänger echter und vermeintlicher Propheten gegenseitig die Köpfe einschlagen, das ist ein merkwürdiger Logos.

Stell dir vor, auf allen Kontinenten der Welt, in jeder Kultur, wären zur gleichen Zeit Gesandte aufgetreten, die alle das selbe erzählt hätten. Das wäre ein Zeichen für göttliche Weltvernunft: Gott spricht das Wort zum Sonntag. Regelmäßig und gebührenfrei.


Jetzt verwechselst du aber den philosophischen Vernunftbegriff mit dem alltäglichen aka "gesunder Menschenverstand".

Wie lautet denn der philosophische Vernunftbegriff?

Sollte er anders gehen als

smallie hat folgendes geschrieben:
Vernunft ist etwas, das keinen menschlichen - oder göttlichen - Launen unterworfen ist.


müßte ich ein ernstes Wörtchen mit den Leuten reden.



Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Die Frage, ob Gott sein eigenes Naturgesetz ändern kann, ist demgegenüber sehr unphilosophisch und geradezu kindlich-mythologisch.Ein Gott, der die Personifikation der Vernunft und der Wahrheit ist, ist in seinem Willen nicht menschlichen Launen unterworfen. Gott zu erforschen heisst hier, die Vernunft zu erforschen.

Das alte Argument: wenn ein Gott in den Lauf der Welt eingreifen könnte, warum tut er es dann nicht?

Das letzte Gegenargument dazu stammt von Leibniz: Wir leben in der besten aller möglichen Welten. Nicht sehr überzeugend, wenn du mich fragst.


Eigentlich wird da aber nicht gefragt, warum Gott nicht in den Weltverlauf eingreift, sondern warum die Welt ist wie sie ist, also, warum Gott sie so eingerichtet hat. Ein Eingreifen würde ja eine Fehlerkorrektur bedeuten. Du siehst also, auch hier geht es um strukturelle Erforschung, nicht um die Rechtfertigung der Launen eines alten Mannes mit Bart.

Fehlerkorrektur ist ein gutes Stichwort.

Die Sintflut dürfte die massivste Fehlerkorrektur in der Erdgeschichte gewesen sein. Wann kam die Sintflut theologisch aus der Mode? Ich weiß es nicht, tippe aber auf nach 1800. Hutton und Lyell, wie oben erwähnt. Die Launen des Alten sind in der Bibel gut, errm, "dokumentiert". Und wenn die Sendung eines eingeborenen Sohnes kein Eingriff in die Weltgeschichte ist, dann weiß ich auch nicht.

Sag, von welchem Christentum sprichst du?



Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Ein weiterer bedeuteder neuplatonischer Theologe ist z.B. Eriugena.

Den kannte ich noch nicht.

Das wäre eine Hausaufgabe für mich, herauszufinden, woher die Quellen für seine Aristoteles-Übersetzungen stammten.


Bedeutend für unser Thema ist aus meiner Sicht v.a. dies:
"veram esse philosophiam veram religionem", wahre Philosophie und wahre Religion sind identisch.

Dem Satz schließe ich mich an.

Das hilft uns aber bei konkreten Aussagen nicht weiter, denn ob wir uns einig werden, was wahre Philosophie und wahre Religion sein soll, ist zu bezweifeln.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Und eine Theologie ist nur dann gerechtfertigt, wenn sie der logischen Überprüfung standhält

Wikipedia hat folgendes geschrieben:
Es war im Frühmittelalter üblich, Meinungen mit einem einfachen Autoritätsbeweis zu rechtfertigen oder zu bekämpfen, indem man zu zeigen versuchte, dass sie Aussagen der Bibel, der Kirchenväter und der Konzilien entsprechen bzw. widersprechen. Eriugena gibt sich damit nicht zufrieden. Diese Neuerung macht den von seiner Umwelt als revolutionär und anstößig empfundenen Aspekt seines Auftretens aus. Am Autoritätsbeweis hält er zwar fest, doch ist dies für ihn nur der letzte, bestätigende Schritt, der eine bereits anderweitig erfolgte Urteilsfindung abrunden soll. Mit dieser Vorgehensweise wird der Folgerichtigkeit der inhaltlichen Argumentation die eigentliche Beweislast aufgebürdet und die Bedeutung der Berufung auf Autoritäten stark reduziert.


https://de.wikipedia.org/wiki/Johannes_Scottus_Eriugena

Für mich kommt hier das zum Ausdruck, was die europäische Geistesgeschichte seit den Vorsokratikern auszeichnet: Begründen! Begründen! Begründen!

Und in anderen Weltgegenden galt das nicht?

Außerdem behaupte nach wie vor, daß es in Europa eine Zeitlang ziemlich dunkel aussah mit dem Begründen. nee


Zumsel hat folgendes geschrieben:
Und genau diese Marotte( in Kombination mit sehr vorteilhaften klimatischen Bedingungen) dürfte der wesentliche Vorteil unseres Kulturkreises gewesen sein.

Klimatische Bedingungen sind ein gutes Argument. Daraus folgt eine höhere Bevölkerungszahl und potentiell mehr Dichter und Denker.

(Allerdings passt das Argument nicht für China, das ebenfalls günstige klimatische Bedingungen hat.)


Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Die Philosophie und die Neigung zum rationalen Denken ist im Christentum bereits in seiner Entstehung angelegt. Das Christentum, wie wir es kennen, ist ohne griechische Philosophie gar nicht denkbar.

Kannst du dafür ein oder zwei Beispiele geben? Ich weiß gerade nicht, was du meinst.


Gott als "Logos", Gott als das "Gute an sich", Gott als "oberste Idee", Gott als "reiner Geist", Gott als Verkörperung der intelligiblen Welt...

Derartiges soll der Kern der Lehren eines judäischen Zimmermannssohnes gewesen sein? Nee, das ist eine nachträgliche Überstülpung.

Griechische Philosophie war eher ein Fremdkörper:

Zitat:
Eine Geschichte des Konfliktes zwischen Glauben und Wissen innerhalb des Christentums muss damit beginnen, die Paulinische Verachtung der philosophischen Weisheit in Erinnerung zu rufen.

    „Denn es stehet geschrieben: Ich will zunichte machen die Weisheit der Weisen (perdam sapientiam sapientium), und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen (prudentiam prudentium repro-babo).

    Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weltweisen? Hat nicht Gott die Weisheit dieser Welt zur Torheit gemacht? Denn dieweil die Welt durch ihre Weisheit Gott in seiner Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch törichte Predigt selig zu machen die, so daran glauben, sintemal die Juden Zeichen fordern, und die Griechen nach Weisheit fragen.

    Wir aber predigen den gekreuzigten Christum, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit. Denen aber, die berufen sind, beide, Juden und Griechen, predigen wir Christum göttliche Kraft und göttliche Weisheit. Denn die göttliche Torheit ist weiser, denn die Menschen sind, und die göttliche Schwachheit ist stärker, denn die Menschen sind.“


http://sammelpunkt.philo.at:8080/1254/1/Grabher-1277.pdf

Das kann man als anti-intellektuell hinstellen. Ich persönlich kann es auch als begründete Vorsicht vor philosophischem Blendwerk auslegen. Was Augustinus in die Bibel hineingelesen hat, steht nicht wirklich drin. Spätestens ab da war das Christentum (TM) nicht mehr das, was es hätte sein können.


Nochmal Thomas Paine:

Zitat:
Die christlichen Mythologen hatten Satan in den Abgrund verbannt, mußten ihn aber wieder freilassen, um die Fortsetzung des Märchens zu schreiben. [...] Sie lassen ihn laufen, ohne ihm ein Ehrenwort abzuverlangen - denn ohne ihn konnten sie nicht auskommen [...] Sie versprachen ihm ALLE Juden, ALLE Türken, letztlich neun Zehntel der Welt. Wer kann nun noch die Milde der christlichen Mythologie bezweifeln?

[Die christlichen Mythologen] stellen diesen tugendhaften, liebenswürdigen Menschen Jesus Christus so dar, als sei er gleichzeitig Gott und Mensch und außerdem Sohn Gottes, vom Himmel empfangen, zum Zwecke geopfert zu werden, weil, wie sie sagen, Eva ein Gelüst nach einem Apfel überkam.

https://en.wikipedia.org/wiki/The_Age_of_Reason

#59:  Autor: Marcellinus BeitragVerfasst am: 14.10.2016, 11:19
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
Den Mangel an Weltvernunft hat Al-Razi gut erkannt: einen Propheten zu einer ausgewählten Zeit zu einem ausgewählten Völk zu schicken, und dabei seine Botschaft so undeutlich von diversen Scharlatanen abgegrenzt sein zu lassen, daß sich die Anhänger echter und vermeintlicher Propheten gegenseitig die Köpfe einschlagen, das ist ein merkwürdiger Logos.

Stell dir vor, auf allen Kontinenten der Welt, in jeder Kultur, wären zur gleichen Zeit Gesandte aufgetreten, die alle das selbe erzählt hätten. Das wäre ein Zeichen für göttliche Weltvernunft: Gott spricht das Wort zum Sonntag. Regelmäßig und gebührenfrei.


Köstlich! Smilie

smallie hat folgendes geschrieben:

Zumsel hat folgendes geschrieben:

"veram esse philosophiam veram religionem", wahre Philosophie und wahre Religion sind identisch.

Dem Satz schließe ich mich an.


Ich halte es da eher mit Auguste Comte: Es ist die Aufgabe der Philosophie, die Herrschaft der Theologie zu beenden, oder ihr Schicksal. auf sie zurückzufallen. (Siehe Habermas).

smallie hat folgendes geschrieben:

Zumsel hat folgendes geschrieben:
Und genau diese Marotte( in Kombination mit sehr vorteilhaften klimatischen Bedingungen) dürfte der wesentliche Vorteil unseres Kulturkreises gewesen sein.

Klimatische Bedingungen sind ein gutes Argument. Daraus folgt eine höhere Bevölkerungszahl und potentiell mehr Dichter und Denker.

(Allerdings passt das Argument nicht für China, das ebenfalls günstige klimatische Bedingungen hat.)


Oh, China hatte immer eine hohe Zahl an Dichtern und Denkern. Nur eben sehr viel früher und sehr viel kontinuierlicher staatliche Strukturen als andere Weltgegenden. Diese staatlichen Strukturen gaben den Herrschern, vom ersten Kaiser Qin Shihuangdi angefangen, die Möglichkeit, Dichter und Denker, deren Dichten und Denken ihnen nicht genehm war, am Dichten und Denken, und oft auch am Weiterleben zu hindern.

#60:  Autor: Er_Win BeitragVerfasst am: 14.10.2016, 12:07
    —
Marcellinus hat folgendes geschrieben:

Oh, China hatte immer eine hohe Zahl an Dichtern und Denkern. Nur eben sehr viel früher und sehr viel kontinuierlicher staatliche Strukturen als andere Weltgegenden. Diese staatlichen Strukturen gaben den Herrschern, vom ersten Kaiser Qin Shihuangdi angefangen, die Möglichkeit, Dichter und Denker, deren Dichten und Denken ihnen nicht genehm war, am Dichten und Denken, und oft auch am Weiterleben zu hindern.


Die Essenz der Dichter und Denker sind aber immer schon deren Ideen gewesen. Und da hatte die Vergangenheit durchaus "Vorteile", was den Wunsch und die Realisierung "gezielten Ablebens" betraf.

Heute müßte man das Internet "abschalten", denn die Illusion man könne diese globale Kommukationsstruktur inhaltlich unter "deutungshoheitliche Kontrolle" bringen, ist *imho zum Scheitern verurteilt. Daran ändert auch das Argument nichts, dass nur weniges an Inhalten im Internet als Ausfluß von "Dichtern und Denkern" gesehen werden sollte ...

#61: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Zumsel BeitragVerfasst am: 16.10.2016, 11:54
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
Warum konnte dann ein Bischof der Pariser Artistenfakultät vorschreiben, was dort gelehrt werden sollte? Antwort: er war der Dekan.


Weitere Beispiele für die weltliche Macht der Kirche: Investiturstreit, Kirchenbann und Gang nach Canossa, später die Exkommunikation von Friedrich II. Bis hin zum Ablaßhandel. Darüber weißt du oder wißt ihr sicher mehr als ich.


Dass die Kirche sehr mächtig war bestreitet ja niemand, das wäre ja auch völlig lächerlich. Das ist aber etwas anderes als eine Theokratie oder "Priesterherrschaft", so etwas gab es nur im Kirchenstaat und auch der war abhängig von Wohlwollen und machtpolitischen Kalkülen weltlichen Herrscher. Zur Erinnerung: Die Argumentation war, dass die Macht der Priester durch die Reformation gebrochen worden wäre, daher die weltlichen Herrscher zueinander in Konkurrenz traten und dadurch den wissenschaftlichen Fortschritt begünstigten. Ganz so, als hätten zuvor Priester als Priester konkurrenzlos über den Kontinent geherrscht.

smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Wahr ist, dass die Reformation mit einem Autoritätsverfall des Klerus einherging, Ursache und Wirkung liegen aber ja genau umgekehrt, als hier suggeriert. Die Reformation war weniger Ausgangspunkt als viel mehr notwendige Folge von Urbanisierung, Freihandel und kultureller Blüte, ...

Eine notwendige Folge von Urbanisierung, Freihandel und kultureller Blüte? Genau das gab es im arabischen Raum ein paar Jahrhunderte zuvor ebenso. Warum nicht einfach diese Merkmale nehmen und sie als Voraussetzung sehen für "liberale" Denkrichtungen?


Weil es zur Erklärung des in Reden stehenden Phänomens ja offensichtlich nicht ausreicht, wie der Vergleich von arabischer und europäischer (Geistes-)Geschichte zeigt.

smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
... die in erster Linie mal von den Handelszentren des grundkatholischen Italien ausgingen, also durchaus nicht zufällig in geographischer Nähe zum Zentrum des antiken Europas.

Eher: nicht zufällig in geographischer Nähe zur arabischen Welt.


Also zu Cordoba lagen die Franken näher.

smallie hat folgendes geschrieben:
Der Chinese Zhen-He besegelte die Westmeere und kam bis nach Ostafrika. Im zentralistischen China wurde allerdings beschieden: interessiert uns nicht.


Interessant wäre hier zu wissen, warum es die Chinesen nicht interessierte. Mangelndes Interesse am Seehandel wird es wohl kaum gewesen sein. Oben hattest du noch geschrieben Urbanisierung, Freihandel und kultureller Blüte sollten als Erklärung für das Entstehen progressiven Denkens ausreichen.


smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Und auch nicht, worin der direkte Zusammenhang zwischen Kolonialismus und wissenschaflichen Fortschritt bestehen soll.

Von Kleinkram wie Navigation, Mercator-Projektion, gang-genauen Uhren mal abgesehen:

Alexander Humboldt hätte es ohne Kolonialismus nicht so schnell gegeben. Darwin war Mitreisender auf einer kartographischen Expedition.


Ja, das klingt soweit schlüssig

smallie hat folgendes geschrieben:
Die Sintflut dürfte die massivste Fehlerkorrektur in der Erdgeschichte gewesen sein. Wann kam die Sintflut theologisch aus der Mode? Ich weiß es nicht, tippe aber auf nach 1800. Hutton und Lyell, wie oben erwähnt. Die Launen des Alten sind in der Bibel gut, errm, "dokumentiert". Und wenn die Sendung eines eingeborenen Sohnes kein Eingriff in die Weltgeschichte ist, dann weiß ich auch nicht.


Wie christliche Theologen und Philosophen nun biblische Mythen mit ihren theoretischen Konzepten in Einklang brachten, kann ich dir im Einzelnen auch nicht sagen. Ist aber bezüglich der philosophisch-theologischen Grundausrichtung auch nicht so schrecklich relevant.

smallie hat folgendes geschrieben:
...Außerdem behaupte nach wie vor, daß es in Europa eine Zeitlang ziemlich dunkel aussah mit dem Begründen. nee


Das brauchst du nicht zu behaupten, denn es ist ein unbestrittenes Faktum.


smallie hat folgendes geschrieben:
Klimatische Bedingungen sind ein gutes Argument. Daraus folgt eine höhere Bevölkerungszahl und potentiell mehr Dichter und Denker.


V.a. auch eine leichtere Befriedigung von Grundbedürfnissen und damit mehr Kapazitäten für Luxusbeschäftigungen.

smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Die Philosophie und die Neigung zum rationalen Denken ist im Christentum bereits in seiner Entstehung angelegt. Das Christentum, wie wir es kennen, ist ohne griechische Philosophie gar nicht denkbar.

Kannst du dafür ein oder zwei Beispiele geben? Ich weiß gerade nicht, was du meinst.


Gott als "Logos", Gott als das "Gute an sich", Gott als "oberste Idee", Gott als "reiner Geist", Gott als Verkörperung der intelligiblen Welt...

Derartiges soll der Kern der Lehren eines judäischen Zimmermannssohnes gewesen sein? Nee, das ist eine nachträgliche Überstülpung.

Griechische Philosophie war eher ein Fremdkörper:
...


Das mag schon sein. Aber ohne den "griechischen Fremdkörper" hätte die Lehre des nazarenischen Sektengurus nichts memorierens- und beschäftigungswertes für europäische Gelehrte gehabt und wäre heute bestenfalls eine Fußnote in der Geschichte.

#62: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 22.10.2016, 09:25
    —
DonMartin hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Es gab Orte, auf die die Romchristen keinen Zugriff hatten. Dort blieben die griechischen Schriften erhalten.

Und das soll genau wo und wann gewesen sein?

Grabher erwähnt:

Zitat:
Migration des Wissens: Alexandria, Byzanz, Edessa, Bagdad (529-1055)

In den intellektuellen Zentren Konstantinopel, Athen und Alexandria wurde die Beschäftigung mit Philosophie schlechthin mit dem Studium des Aristoteles gleichgesetzt. Für den Untergang der Schule von Athen, die 529 von Justinian geschlossen wurde, war ausschlaggebend gewesen, dass sie – im Gegensatz zur alexandrinischen Schule – keinen Kompromiss mit dem Christentum einging. [ Ausrufezeichen ]

Ein Zentrum der Aristoteles-Rezeption wurde ab dem 4. Jahrhundert die Schule von Edessa, die von syrischen Christen – den Nestorianern – gegründet wurde. Sie spielte für das Fortleben des Corpus Aristotelicum eine entscheidende Rolle. [...]

Die Schule bestand bis 489, als sie aufgelöst und ihre Gebäude zerstört wurden. Lehrer und Schüler gingen nach Nisibis, wo die Schule von Nisibis bis 830 fortbestand. [...]

Weitere wichtige Zentren des Lernens befanden sich in Gandisapora, Harran, Marw, Mosul und Antiochia. Diese Schulen stellten durch ihre geographische Lage die Verbindung zwischen der persischen (babylonischen, mesopotamischen), der indischen, der griechischen und der frühchristlichen Kultur dar – eine einmalige Konstellation. Das Syrische fungierte dabei als eine Art lingua franca.

http://othes.univie.ac.at/4725/1/Grabher-1277.pdf




DonMartin hat folgendes geschrieben:
Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:

Byzanz,
bis eben die Kreuzfahrer es eroberten (1204) und so sehr schwächten,
dass die Eroberung durch die Türken 1453 eher Glück, als Schrecken bedeuteten.

In Byzanz gab es eine hohe Schulbildung - zu der auch das Studium von 'nicht christlichen' Philosophen gehörte.

Ebend.
Ich finde es eine absurde Vorstellung, die antike heidnische Zivilisation wäre von dumpfen Christen verdaddelt worden, um dann von edlen islamischen Arabern wieder ausgebuddelt zu werden.

War aber so.

Schau dir die Science Timeline an. Vor 1200 finden sich kaum ein Eintrag zu Westeuropa.



DonMartin hat folgendes geschrieben:
Das alte (christliche) Byzanz hat die antike Zivilisation bewahrt, und von denen haben es die Araber, als sie grosse Teile des oströmischen Reiches plattgemacht haben.

Waren Ägypten und Syrien noch oströmisch, als sie von den Arabern erobert wurden?

#63: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 22.10.2016, 14:53
    —
Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Warum konnte dann ein Bischof der Pariser Artistenfakultät vorschreiben, was dort gelehrt werden sollte? Antwort: er war der Dekan.

Weitere Beispiele für die weltliche Macht der Kirche: Investiturstreit, Kirchenbann und Gang nach Canossa, später die Exkommunikation von Friedrich II. Bis hin zum Ablaßhandel. Darüber weißt du oder wißt ihr sicher mehr als ich.


Dass die Kirche sehr mächtig war bestreitet ja niemand, das wäre ja auch völlig lächerlich. Das ist aber etwas anderes als eine Theokratie oder "Priesterherrschaft", so etwas gab es nur im Kirchenstaat und auch der war abhängig von Wohlwollen und machtpolitischen Kalkülen weltlichen Herrscher. Zur Erinnerung: Die Argumentation war, dass die Macht der Priester durch die Reformation gebrochen worden wäre, daher die weltlichen Herrscher zueinander in Konkurrenz traten und dadurch den wissenschaftlichen Fortschritt begünstigten. Ganz so, als hätten zuvor Priester als Priester konkurrenzlos über den Kontinent geherrscht.

Reformation war für mich nur ein Schlagwort, das viele Veränderungen unter einen Nenner bringt. Als monokausale Erklärung war es nicht gemeint, schon allein weil Reformation selbst sehr vielfältig ist: Jan Hus hatten wir bereits, Luther, Calvin, Zwingli gab es auch noch sowie die Anglikanische Kirche.

Der Konflikt zwischen kirchlicher und weltlicher Macht dauerte mehrere Jahrhunderte.



Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Wahr ist, dass die Reformation mit einem Autoritätsverfall des Klerus einherging, Ursache und Wirkung liegen aber ja genau umgekehrt, als hier suggeriert. Die Reformation war weniger Ausgangspunkt als viel mehr notwendige Folge von Urbanisierung, Freihandel und kultureller Blüte, ...

Eine notwendige Folge von Urbanisierung, Freihandel und kultureller Blüte? Genau das gab es im arabischen Raum ein paar Jahrhunderte zuvor ebenso. Warum nicht einfach diese Merkmale nehmen und sie als Voraussetzung sehen für "liberale" Denkrichtungen?


Weil es zur Erklärung des in Reden stehenden Phänomens ja offensichtlich nicht ausreicht, wie der Vergleich von arabischer und europäischer (Geistes-)Geschichte zeigt.


smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
... die in erster Linie mal von den Handelszentren des grundkatholischen Italien ausgingen, also durchaus nicht zufällig in geographischer Nähe zum Zentrum des antiken Europas.

Eher: nicht zufällig in geographischer Nähe zur arabischen Welt.


Also zu Cordoba lagen die Franken näher.

Venedig als "italienisches Handelszentrum" war damals ein eigener Staat und stand in Konkurrenz mit anderen Handelsstätten wie Genua und Florenz.

Cordoba war bis 1236 arabisch.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Der Chinese Zhen-He besegelte die Westmeere und kam bis nach Ostafrika. Im zentralistischen China wurde allerdings beschieden: interessiert uns nicht.


Interessant wäre hier zu wissen, warum es die Chinesen nicht interessierte. Mangelndes Interesse am Seehandel wird es wohl kaum gewesen sein. Oben hattest du noch geschrieben Urbanisierung, Freihandel und kultureller Blüte sollten als Erklärung für das Entstehen progressiven Denkens ausreichen.

Dazu die Aussage des Kaisers Xuande:

Zitat:

    Einige entlegene Länder zahlen mir Tribut, was mit hohen Kosten und großen Schwierigkeiten verbunden ist, die nicht meinem Wunsch entsprechen. Man schicke ihnen die Botschaft, daß ihnen ihr Tribut erlassen wird, um hohe und unnötige Ausgaben auf beiden Seiten zu vermeiden.

[Die Expeditionen] verstießen gegen lange gehegte Konfuzianische Prinzipien. Sie waren nur möglich, weil sich Mings Eunuchen-Fraktion gegenüber den Schul-Bürokraten durchgesetzt hatte.



    Some far-off countries pay their tribute to me at much expense and through great difficulties, all of which are by no means my own wish. Messages should be forwarded to them to reduce their tribute so as to avoid high and unnecessary expenses on both sides.

They further violated longstanding Confucian principles. They were only made possible by (and therefore continued to represent) a triumph of the Ming's eunuch faction over the administration's scholar-bureaucrats. Upon Zheng He's death and his faction's fall from power, his successors sought to minimize him in official accounts, along with continuing attempts to destroy all records related to the Jianwen Emperor or the manhunt to find him.

https://en.wikipedia.org/wiki/Zheng_He

Ein andere Quelle benennt ebenfalls die Bürokratenfraktion:


Zitat:
4000 Jahre Wissenschaft
Patricia Fara - 2009

Anders als in Europa mit seinen autonomen Universitäten [wirklich?] förderte Chinas monolithisches Erziehungssystem die Stabilität. Die Regierung führte strenge nationale Examensprüfungen durch, um dafür zu sorgen, daß die Beamten nicht nur aus reichen Familien stammten, sondern auch intelligent und tüchtig waren. Diese Vorschriften waren effektiv,aber auch innovationsfeindlich, und die starren Lehrpläne blieben 700 Jahre lang unverändert. Vorgegebene Grundlagentexte und Kommentare sollten nicht kritisch rezipiert, sondern auswendig gelernt werden,sodass sich ein beschränktes, uniformes Weltbild etablierte, das geradezu zum Staatsdogma wurde. [...]

Das mächtige, zentralisierte Verwaltungssystem, fast das Gegenteil des kleinteiligen, heterogenen Lehenswesens in Europa erschwerte individuelle kommerzielle oder militärische Initiativen. In Westeuropa dagegen förderte das private Unternehmertum Erfindungen. So wussten Kaufleute Handfeuerwaffen zu schätzen, mit denen sie sich auf ihren Reisen verteidigen konnten, und sie waren bereit, für Verbesserungen gut zu bezahlen.

In China [mißbilligten die Staatsbeamten] individuelle Gewalt ebenso wie privaten Profit. Man denke nur an das Schicksal von Wang Ho, einem Unternehmer aus dem 12. Jahrhundert, der mit nichts begonnen hatte und eine Eisenhütte aufbaute, die 500 Menschen beschäftigte. Nachdem Wang Hound seine Arbeiter die Einmischungsversuche lokaler Verwalter gewaltsam abgewehrt hatten, wurde er hingerichtet. Die Behörden bestraften ihn für ein doppeltes Vergehen: unautorisierte Kämpfe und wirtschaftliche Eigeninitiative.

S. 57


Zwei unabhängige Quellen, die Zweifel daran aufkommen lassen, daß Freihandel in China eine große Rolle spielte.


Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Die Sintflut dürfte die massivste Fehlerkorrektur in der Erdgeschichte gewesen sein. Wann kam die Sintflut theologisch aus der Mode? Ich weiß es nicht, tippe aber auf nach 1800. Hutton und Lyell, wie oben erwähnt. Die Launen des Alten sind in der Bibel gut, errm, "dokumentiert". Und wenn die Sendung eines eingeborenen Sohnes kein Eingriff in die Weltgeschichte ist, dann weiß ich auch nicht.


Wie christliche Theologen und Philosophen nun biblische Mythen mit ihren theoretischen Konzepten in Einklang brachten, kann ich dir im Einzelnen auch nicht sagen. Ist aber bezüglich der philosophisch-theologischen Grundausrichtung auch nicht so schrecklich relevant.

Sehr relevant sogar.

Wenn sich Vernunft und Glaube in die Quere kommen, dann gilt entweder:

    a) Vernunft stärker als Glaube
    b) Glaube stärker als Vernunft


Die 219 Thesen von Paris sind ein gutes Beispiel für a)
Das Papsttum steht für b)


PS. Genaugenommen gibt es noch zwei andere Möglichkeiten: beides falsch und beides richtig.



Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:
Zumsel hat folgendes geschrieben:
Die Philosophie und die Neigung zum rationalen Denken ist im Christentum bereits in seiner Entstehung angelegt. Das Christentum, wie wir es kennen, ist ohne griechische Philosophie gar nicht denkbar.

Kannst du dafür ein oder zwei Beispiele geben? Ich weiß gerade nicht, was du meinst.


Gott als "Logos", Gott als das "Gute an sich", Gott als "oberste Idee", Gott als "reiner Geist", Gott als Verkörperung der intelligiblen Welt...

Derartiges soll der Kern der Lehren eines judäischen Zimmermannssohnes gewesen sein? Nee, das ist eine nachträgliche Überstülpung.

Griechische Philosophie war eher ein Fremdkörper:
...


Das mag schon sein. Aber ohne den "griechischen Fremdkörper" hätte die Lehre des nazarenischen Sektengurus nichts memorierens- und beschäftigungswertes für europäische Gelehrte gehabt und wäre heute bestenfalls eine Fußnote in der Geschichte.


Dann haben wir es also mit zwei Christentümern zu tun?

    Christentum I (nazarenisch) und
    Christentum II (Augustinisch, konzilisch)


Wenn das Christentum II den Griechen so viel verdankt, warum tat es sich so schwer mit Aristoteles, als seine Werke verfügbar wurden? Ein kleiner Abriß:

Zitat:
9. Jh. Beginn der westlichen Aristoteles-Rezeption bei Johannes Scotus Eriugena

1210 Dinant übersetzt die naturphilosophischen und metaphyischen Texte des Aristoteles
1210 Pariser Synode: 1. Aristotelesverbot.
1215 Wiederholung des Verbotes der naturphilosophischen Texte des Aristoteles

1175 – 1235 Michael Scotus, übersetzt Aristoteles und Averroes
1228 Vorlesung Michael Scotus’ über die Aristoteles-Kommentare des Averroes

1231 Aristoteles-Verbot durch Papst Gregor IX.
1241 Aristoteles-Verbot durch Wilhelm von Auvergne
1245 Aristoteles-Verbot durch Papst Innozenz IV.

1252 Legalisierung des Studiums der naturphilosophischen Schriften des Aristoteles

1270 Verurteilung von dreizehn Thesen durch Bischof Étienne Tempier
1277 Verurteilung von 219 Thesen durch Bischof Étienne Tempier

1495 Gesamtausgabe der aristotelischen Schriften in fünf Bänden

1619 Verbrennung des Aristotelikers Julius Caesar Vanini in Toulouse

http://othes.univie.ac.at/4725/1/Grabher-1277.pdf

#64: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: Religionskritik-WiesbadenWohnort: Wiesbaden BeitragVerfasst am: 23.10.2016, 02:19
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
DonMartin hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Es gab Orte, auf die die Romchristen keinen Zugriff hatten. Dort blieben die griechischen Schriften erhalten.

Und das soll genau wo und wann gewesen sein?

Grabher erwähnt:

Zitat:
Migration des Wissens: Alexandria, Byzanz, Edessa, Bagdad (529-1055)

In den intellektuellen Zentren Konstantinopel, Athen und Alexandria wurde die Beschäftigung mit Philosophie schlechthin mit dem Studium des Aristoteles gleichgesetzt. Für den Untergang der Schule von Athen, die 529 von Justinian geschlossen wurde, war ausschlaggebend gewesen, dass sie – im Gegensatz zur alexandrinischen Schule – keinen Kompromiss mit dem Christentum einging. [ Ausrufezeichen ]

Ein Zentrum der Aristoteles-Rezeption wurde ab dem 4. Jahrhundert die Schule von Edessa, die von syrischen Christen – den Nestorianern – gegründet wurde. Sie spielte für das Fortleben des Corpus Aristotelicum eine entscheidende Rolle. [...](...)


Smallie,
Du zitierst aus einer Diplomarbeit, deren eigentliches Thema
die Pariser Verurteilungen aus dem Jahr 1277 sind.

Dies ist keine Arbeit zur ppätantiken bzw. frühmittelalterlichen Rezeptionsgeschichte von Aristoteles.
Dementsprechend dünn sind auch die Seiten dazu,
und das von Dir wiedergegebene Zitat verweist in der Hauptsache auf das populär für den C.H. Beck Verlag geschriebene Werk über Aristoteles, von Prof. Otfried Höffe - und auch diese Arbeit hat eben nicht die Wirkungsgeschichte Aristoteles zum Thema - sondern widmet sich dieser in einem kurzen Kapitel zum Ende.

Auch ansonsten findet die Arbeit von Peter Grabher keine Beachtung in der 'Zunft', habe nichts dazu gefunden
- ist halt auch nur eine Diplomarbeit.

Insofern gilt Vorsicht für alles, was weiter entfernt ist, als die Zeit seiner Pariser Verurteilungen.

DonMartin hat folgendes geschrieben:
Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:

Byzanz,
bis eben die Kreuzfahrer es eroberten (1204) und so sehr schwächten,
dass die Eroberung durch die Türken 1453 eher Glück, als Schrecken bedeuteten.

In Byzanz gab es eine hohe Schulbildung - zu der auch das Studium von 'nicht christlichen' Philosophen gehörte.

Ebend.
Ich finde es eine absurde Vorstellung, die antike heidnische Zivilisation wäre von dumpfen Christen verdaddelt worden, um dann von edlen islamischen Arabern wieder ausgebuddelt zu werden.


smallie hat folgendes geschrieben:

War aber so.

Schau dir die Science Timeline an. Vor 1200 finden sich kaum ein Eintrag zu Westeuropa.


Schulterzucken

Es geht um Byzanz,
das heißt nicht um 'Westeuropa',
aber es geht auch um die Teile Europas, die von Byzanz beherrscht wurden,
bzw. auch zu dessen unmittelbaren kulturellen Einfluss gehören.
Also auch weite Teile Osteuropas sowie kleinere Gebiete Mitteleuropas.

In dem von Dir verlinkten Geschichtsskizzchen wird zum Beispiel Robert Grosseteste erwähnt - und seine Bedeutung für die Aristoteles Kommentierung,
aber keine Bezug zu Byzanz,
ziemlich arm, wie ich finde,
schließlich lassen sich doch gerade bei Ihm die Prägungen des guten Bildungssystems Byzanz aufzeigen,
siehe auch mein Zitat hier von Prof. Georgi Kapriev:
http://freigeisterhaus.de/viewtopic.php?p=2071751#2071751



andere antike Autoren konnte man natürlich auch in Byzanz lesen,
war alles da - bis eben die Lateiner Byzanz eroberten.

smallie hat folgendes geschrieben:
DonMartin hat folgendes geschrieben:
Das alte (christliche) Byzanz hat die antike Zivilisation bewahrt, und von denen haben es die Araber, als sie grosse Teile des oströmischen Reiches plattgemacht haben.

Waren Ägypten und Syrien noch oströmisch, als sie von den Arabern erobert wurden?


Die Nestorianer sind überwiegend 'übergelaufen' zu den neuen Herren,
denn diese sicherten ihnen wie auch anderen christlichen Gruppen und Denkschulen (wenn so sagen möchte) die Freiheit zu - wenn auch unter einer Sondersteuer.
Byzanz verhielt sich diesen gegenüber nicht gerade schlau - und so verlor Byzanz den Einfluss auf die Südgebiete,
andererseits gab es im Norden mit den 'Rus' und den Bulgaren und Pechenegen mehr Stress. Dahin verlagerte sich mehr und mehr das Interesse.
Dies ist aber hier nicht das Thema.


smallie hat folgendes geschrieben:

Wenn das Christentum II den Griechen so viel verdankt, warum tat es sich so schwer mit Aristoteles, als seine Werke verfügbar wurden? Ein kleiner Abriß:

Zitat:
9. Jh. Beginn der westlichen Aristoteles-Rezeption bei Johannes Scotus Eriugena

1210 Dinant übersetzt die naturphilosophischen und metaphyischen Texte des Aristoteles
1210 Pariser Synode: 1. Aristotelesverbot.
1215 Wiederholung des Verbotes der naturphilosophischen Texte des Aristoteles

1175 – 1235 Michael Scotus, übersetzt Aristoteles und Averroes
1228 Vorlesung Michael Scotus’ über die Aristoteles-Kommentare des Averroes

1231 Aristoteles-Verbot durch Papst Gregor IX.
1241 Aristoteles-Verbot durch Wilhelm von Auvergne
1245 Aristoteles-Verbot durch Papst Innozenz IV.

1252 Legalisierung des Studiums der naturphilosophischen Schriften des Aristoteles

1270 Verurteilung von dreizehn Thesen durch Bischof Étienne Tempier
1277 Verurteilung von 219 Thesen durch Bischof Étienne Tempier

1495 Gesamtausgabe der aristotelischen Schriften in fünf Bänden

1619 Verbrennung des Aristotelikers Julius Caesar Vanini in Toulouse

http://othes.univie.ac.at/4725/1/Grabher-1277.pdf


auch hier zitierst Du wieder Grabher,
Vanini wurde nicht verurteilt und verbrannt,
weil er die Philosophie Aristoteles vertrat,
sondern weil er im Verdacht stand, Atheist zu sein,
wie wohl seine Zuneigung zu jungen Männern auch ein paar Holzscheite dazu brachte.

Es handelt sich hier aber um einen 'Einzelfall',
keineswegs kann aus diesem eine europaweit praktizierte Jagd auf Anhänger von Aristoteles gefolgert werden.
Die weiter oben zitierten.

In der Rzeczpospolita hätte Vanini zu dieser Zeit problemlos unterrichten können,
der tatsächliche Einfluss der katholischen Kirche war doch recht gering,
also außerhalb der romanischen Sprachwelt.

In dem hier im Thread erwähnten Giordano Bruno beispielsweise,
diese hatte Asyl in einem kirchlichen Stift in Frankfurt - ehe er sich nach Italien locken lies, und so in die Fänge des Papstes geriet.

quote gerichtet. vrolijke

#65:  Autor: Marcellinus BeitragVerfasst am: 23.10.2016, 13:06
    —
Was diskutiert ihr hier eigentlich? Die eher realitätsorientierte antike, griechisch, römische Naturphilosophie ist mit dem Heidentum untergegangen, wobei die Christen sowohl im Westen als auch im Osten tatkräftig mitgeholfen haben. Man denke an das Verbot heidnische Lehre, das Schließen von Philosophenschulen besonders unter Justinian. Daß das nicht von heute auf morgen wirkte, lag an den im Verhältnis zu unseren heutigen Gesellschaften wenig zentralisierten Staatsstrukturen.

Das besonders in Konstantinopel einiges aus der Antike übrig blieb, war vor allen dem ambivalenten Verhältnis der griechischen Ost-"Römer" zu ihrer eigenen, heidnischen Vergangenheit geschuldet, die einerseits gerade wegen ihres Heidentums abgelehnt, andererseits wegen ihre unbezweifelbaren Macht und Größe immer noch bewundert wurde. So beschäftigte man sich dann mit einigen heidnischen Autoren, die man als harmlos empfand. Aber man rezipierte nicht mehr ihren kritischen Charakter, nicht mehr ihren Sachbezug, sondern lernte sie einfach nur auswendig, behandelte sie einfach wie einen Teil der religiösen Tradition.

Ähnlich ging das übrigens den muslimischen Arabern, bei denen es zumindest in deren fortschrittlichsten Zeiten Ansätze von Naturforschung gegeben hatte, die sich allerdings immer gegen das Mißtrauen und die Kontrolle der religiösen Autoritäten zu verteidigen hatten. Spätestens nach dem Untergang der Kulturen von Damaskus und Cordoba, setzte sich der religiöse Dogmatismus durch, dem die Bewahrung religiöser Traditionen wichtiger war als der sachorientierter Wissenfortschritt (siehe Verbot des Buchdrucks).

Die meisten Schriften, die in Ostrom überlebt haben, wurden übrigens nicht studiert, sondern einfach in den Klöstern zum Vorlesen bei den Mahlzeiten verwendet, ohne daß die Beteiligten auch nur ein Wort verstanden hätten. Es sollte das Gespräch unter den Brüdern verhindern und eine eigene Literatur in nennenswertem Umfang gab es nun mal nicht. So wurden die alten Schriften, soweit man sie noch besaß, einfach immer wieder abgeschrieben, und kamen so nach dem Untergang von Konstatinopel in den Westen, und wurden dort zur Grundlage der Renaissance.

#66:  Autor: Religionskritik-WiesbadenWohnort: Wiesbaden BeitragVerfasst am: 23.10.2016, 14:08
    —
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
(...)

Die meisten Schriften, die in Ostrom überlebt haben, wurden übrigens nicht studiert, sondern einfach in den Klöstern zum Vorlesen bei den Mahlzeiten verwendet, ohne daß die Beteiligten auch nur ein Wort verstanden hätten. Es sollte das Gespräch unter den Brüdern verhindern und eine eigene Literatur in nennenswertem Umfang gab es nun mal nicht. So wurden die alten Schriften, soweit man sie noch besaß, einfach immer wieder abgeschrieben, und kamen so nach dem Untergang von Konstatinopel in den Westen, und wurden dort zur Grundlage der Renaissance.


Und für diese 'Geschichte' hast Du sicherlich auch eine fundierte Quelle,
die Du uns nennen kannst.

#67:  Autor: Marcellinus BeitragVerfasst am: 23.10.2016, 16:00
    —
Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
(...)

Die meisten Schriften, die in Ostrom überlebt haben, wurden übrigens nicht studiert, sondern einfach in den Klöstern zum Vorlesen bei den Mahlzeiten verwendet, ohne daß die Beteiligten auch nur ein Wort verstanden hätten. Es sollte das Gespräch unter den Brüdern verhindern und eine eigene Literatur in nennenswertem Umfang gab es nun mal nicht. So wurden die alten Schriften, soweit man sie noch besaß, einfach immer wieder abgeschrieben, und kamen so nach dem Untergang von Konstatinopel in den Westen, und wurden dort zur Grundlage der Renaissance.


Und für diese 'Geschichte' hast Du sicherlich auch eine fundierte Quelle,
die Du uns nennen kannst.


Eine sehr anschauliche Schilderung findest du in Stephen Greenblatts "Die Wende. Wie die Renaissance begann."

#68:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 01.11.2016, 02:05
    —
Marcellinus hat folgendes geschrieben:
Was diskutiert ihr hier eigentlich?

Ok, gut, den Faden nicht verlieren. Ausgangspunkt war das Video von deGrasse-Tyson und die Tatsache, daß 400 Jahre kulturelle und wissenschaftliche Blüte letztlich im Sande verliefen. Warum?

Die bisher vertretenen Meinungen - hoffentlich nicht zu sehr zugespitzt:

    fwo: das liegt an bestimmten Eigenschaften, die dem Islam zu eigen sind. Ein rationaler Islam ist nicht der wahre Islam.

    Zumsel: dem Christentum wurde die Lust am rationalen Denken in die Wiege gelegt.

    smallie, Marcellinus: der Wandel ist durch historische Umstände begründet.


Der Untergang der arabischen Hochkultur ist meiner Ansicht nicht nicht mehr und nicht weniger bemerkenswert wie Tatsache, daß die Ägypter einst Pyramiden bauten, für den Assuan-Staudamm aber ausländische Unterstützung brauchten. Das Kommen und Gehen von Hochkulturen sehe ich als den üblichen Lauf der Dinge. Religion ist dabei nur ein Faktor unter vielen.

(Apropos Ägypten und Religion. Stimmt es, daß Katzen den Ägyptern als heilig galten? Und daß Agypten militärisch besiegt wurde, als seine Feinde Katzen auf ihre Schilde banden?)



Marcellinus hat folgendes geschrieben:
So wurden die alten Schriften, soweit man sie noch besaß, einfach immer wieder abgeschrieben, und kamen so nach dem Untergang von Konstatinopel in den Westen, und wurden dort zur Grundlage der Renaissance.

Das ist die übliche Darstellung. Ich denke eher, daß wir unser "Erbe" zum größeren Teil den Arabern verdanken. Der Kontakt mit der arabischen Kultur war die treibende Kraft hinter der Renaissance.

Dazu mehr im nächsten Beitrag.

#69: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: smallie BeitragVerfasst am: 01.11.2016, 02:21
    —
Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:
Smallie,
Du zitierst aus einer Diplomarbeit, deren eigentliches Thema
die Pariser Verurteilungen aus dem Jahr 1277 sind.

Ich gebe zu, daß das mein persönliches Steckenpferd-Thema ist, das ich schon lange mal reiten wollte. Pfeifen

In den Verurteilungen sind einige klare Gedanken formuliert, die bei uns erst mit der Aufklärung allgemein anerkannt wurden. (Meh. Falls überhaupt.) Dieser Ideentransfer aus Arabien war der Zünder für die Renaissance.


Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:
Auch ansonsten findet die Arbeit von Peter Grabher keine Beachtung in der 'Zunft', habe nichts dazu gefunden
- ist halt auch nur eine Diplomarbeit.

Nur? Hey, ich hab' schon Beiträge hier im Forum für gut gehalten, die waren noch nicht mal Diplomarbeiten. Auf den Arm nehmen

Außerdem gibt Grabher nur die Meinung der Zunft wieder. Bereits zitiert, hier noch einmal auf Deutsch:

Zitat:
Früher gab es in der Wissenschaftsgeschichte eine Standardsicht, die vermutlich zur Zeit der Aufklärung populär wurde, die aber viel der Geschichtsschreibung aus der Renaissance zu verdanken hat. Grob geht sie so:

Wissenschaft wurde von den alten Griechen erfunden. Nach dem Zusammenbruch der Zivilisation [...] wurde die Wissenschaft vom Islamischen Imperium gerettet und bewahrt (aber nicht verändert oder ergänzt), bevor sie schließlich in der Renaissance von den Europäern wieder aufgefunden wurde, die sich danach daran machten, die moderne Wissenschaft zu erschaffen. Dieses Stück Mythologie spiegelte die triumphale Geschichtsschreibung des kolonialen Europas wieder, das weite Teile der Welt beherrschte und ausbeutete.

https://thonyc.wordpress.com/2015/09/30/political-correctness-and-the-history-of-science/



Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:

DonMartin hat folgendes geschrieben:
Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:

Byzanz,
bis eben die Kreuzfahrer es eroberten (1204) und so sehr schwächten,
dass die Eroberung durch die Türken 1453 eher Glück, als Schrecken bedeuteten.

In Byzanz gab es eine hohe Schulbildung - zu der auch das Studium von 'nicht christlichen' Philosophen gehörte.

Ebend.
Ich finde es eine absurde Vorstellung, die antike heidnische Zivilisation wäre von dumpfen Christen verdaddelt worden, um dann von edlen islamischen Arabern wieder ausgebuddelt zu werden.


smallie hat folgendes geschrieben:

War aber so.

Schau dir die Science Timeline an. Vor 1200 finden sich kaum ein Eintrag zu Westeuropa.


Schulterzucken

Es geht um Byzanz,
das heißt nicht um 'Westeuropa', ...

Doch, es geht um Westeuropa. Das war die Ausgangsfrage, warum moderne Wissenschaft in Westeuropa entstand, nicht aber in Osteuropa, Arabien oder China.

Die Leute in Byzanz hatten 1000 Jahre lang Zeit, um aufbauend auf griechischen Quellen Philosophie und Wissenschaft weiter zu führen. Oder um Aristoteles kritisch auszulegen. Haben sie's getan?

Nein.

Da war nix. Deshalb spielt Byzanz nur eine Nebenrolle in der Wissenschaftsgeschichte.


Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:
andere antike Autoren konnte man natürlich auch in Byzanz lesen,
war alles da - bis eben die Lateiner Byzanz eroberten.

Eben nicht. Siehe unten den Text zum Almagest.



Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:
smallie hat folgendes geschrieben:

Wenn das Christentum II den Griechen so viel verdankt, warum tat es sich so schwer mit Aristoteles, als seine Werke verfügbar wurden? Ein kleiner Abriß:

Zitat:
9. Jh. Beginn der westlichen Aristoteles-Rezeption bei Johannes Scotus Eriugena

1210 Dinant übersetzt die naturphilosophischen und metaphyischen Texte des Aristoteles
1210 Pariser Synode: 1. Aristotelesverbot.
1215 Wiederholung des Verbotes der naturphilosophischen Texte des Aristoteles

1175 – 1235 Michael Scotus, übersetzt Aristoteles und Averroes
1228 Vorlesung Michael Scotus’ über die Aristoteles-Kommentare des Averroes

1231 Aristoteles-Verbot durch Papst Gregor IX.
1241 Aristoteles-Verbot durch Wilhelm von Auvergne
1245 Aristoteles-Verbot durch Papst Innozenz IV.

1252 Legalisierung des Studiums der naturphilosophischen Schriften des Aristoteles

1270 Verurteilung von dreizehn Thesen durch Bischof Étienne Tempier
1277 Verurteilung von 219 Thesen durch Bischof Étienne Tempier

1495 Gesamtausgabe der aristotelischen Schriften in fünf Bänden

1619 Verbrennung des Aristotelikers Julius Caesar Vanini in Toulouse

http://othes.univie.ac.at/4725/1/Grabher-1277.pdf


auch hier zitierst Du wieder Grabher,
Vanini wurde nicht verurteilt und verbrannt,
weil er die Philosophie Aristoteles vertrat,
sondern weil er im Verdacht stand, Atheist zu sein,

Aristoteles zu Ende gedacht führt genau zu so einer Haltung. Atheistisch, deistisch, pantheistisch - wie auch immer. Theistisch - das gibt Aristoteles nicht her.



Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:
...wie wohl seine Zuneigung zu jungen Männern auch ein paar Holzscheite dazu brachte.

In den verdammten Thesen findet sich auch dazu etwas:

smallie hat folgendes geschrieben:
Die Sünde gegen die Natur, also der Mißbrauch des Beischlafs, mag gegen die Natur der Art gehen, aber er geht nicht gegen die Natur des einzelnen.




Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:
Es handelt sich hier aber um einen 'Einzelfall',
keineswegs kann aus diesem eine europaweit praktizierte Jagd auf Anhänger von Aristoteles gefolgert werden.

Ja, stimmt. Stimmt für 1600-plus.

smallie hat folgendes geschrieben:
beachbernie hat folgendes geschrieben:
Und da gibt es schon 'ne Menge Beispiele, bei denen sich Wissenschaftler lieber foltern und umbringen liessen als ihre gesicherten Forschungsergebnisse vor einem Tribunal von Klerikern zu widerrufen.

Ne' Menge Beispiele? Auf die Liste bin ich gespannt. Mir fallen genau zwei Leute ein.

Giordano Bruno. Der war Mönch und Priester. Wissenschaftler im modernen Sinne war er nicht. Den zweiten Namen habe ich vergessen, aber seine ketzerische These konnte ich mir merken. Er behauptete nämlich, der Mensch stamme vom Affen ab, weil Affen schwarze Haut haben wie auch die Afrikaner. (Kennt den jemand?)




Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:
In der Rzeczpospolita hätte Vanini zu dieser Zeit problemlos unterrichten können,
der tatsächliche Einfluss der katholischen Kirche war doch recht gering,
also außerhalb der romanischen Sprachwelt.

Interessant.

Jetzt sind wir mitten im Thema. Wie kam es, daß in der Rzeczpospolita nicht romanisch gesprochen wurde und die katholische Kirche wenig Einfluß hatte?



PS: wie Ptolemäus Almagest in den Westen kam.
Zitat:
Ptolemy's comprehensive treatise of mathematical astronomy superseded most older texts of Greek astronomy. Some were more specialized and thus of less interest; others simply became outdated by the newer models. As a result, the older texts ceased to be copied and were gradually lost. Much of what we know about the work of astronomers like Hipparchus comes from references in the Syntaxis.

Ptolemy's Syntaxis became an authoritative work for many centuries.

The first translations into Arabic were made in the 9th century, with two separate efforts, one sponsored by the caliph Al-Ma'mun. Sahl ibn Bishr is thought to be the first Arabic translator. By this time, the Syntaxis was lost in Western Europe, or only dimly remembered. Henry Aristippus made the first Latin translation directly from a Greek copy, but it was not as influential as a later translation into Latin made by Gerard of Cremona from the Arabic. Gerard translated the Arabic text while working at the Toledo School of Translators, although he was unable to translate many technical terms such as the Arabic Abrachir for Hipparchus. In the 12th century a Spanish version was produced, which was later translated under the patronage of Alfonso X.

https://en.wikipedia.org/wiki/Almagest

#70:  Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 01.11.2016, 11:34
    —
@ smallie
Aber mit all dem belegst Du nicht wirklich, dass es hier um Dinge geht, die zentral mit dem Islam verknüpft werden können. Darauf warte ich noch.

#71:  Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 15.12.2016, 01:40
    —
Hier sind noch ähnliche Stellen, aber ich habe jetzt diese hier genommen.
smallie hat folgendes geschrieben:
....

fwo hat folgendes geschrieben:
Du bewunderst die anderen Blüten des Islam wie Averroes, ...

Genaugenommen sind es nur die Blüten der arabisch/islamischen Kultur. zwinkern

....

@ smallie

Hör mal in diesen Beitrag von Hamed A. Samad ab der 30. Minute. Er hat da eine ganz andere Ansicht.
https://www.youtube.com/watch?v=kb_zasVoTfs&spfreload=10

#72:  Autor: smallie BeitragVerfasst am: 15.12.2016, 18:56
    —
+ 1

Damit bin ich dir jetzt in vier Threads noch eine Antwort schuldig: im Schulthread, in Interessante Veröffentlichungen, in zeligs Thread und nun hier. zwinkern

#73:  Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 15.12.2016, 19:00
    —
smallie hat folgendes geschrieben:
+ 1

Damit bin ich dir jetzt in vier Threads noch eine Antwort schuldig: im Schulthread, in Interessante Veröffentlichungen, in zeligs Thread und nun hier. zwinkern

Lachen Nimm mich nicht ernster als ich selbst.

#74: Re: Wissenschaft/Philosophie und Islam geschichtlich Autor: fwoWohnort: im Speckgürtel BeitragVerfasst am: 12.06.2017, 14:56
    —
Chinasky hat folgendes geschrieben:
Hallo!
In diesem Video kommt Neil de Grasse Tyson ungefähr bei 43:00 auf Abū Hāmid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazālī zu sprechen. Er bringt ihn als so eine Art Analogie-Argument bezogen auf die heutige Situation in den USA, in denen er wohl eine Bedrohung der Wissenschaft/des intellektuellen Niveaus durch die Religion (bzw. den Kreationismus) ausmacht. Mit dem Thema, bzw. der Frage, warum der Islam, oder, besser: die islamische Welt gegen Ende des Mittelalters ihre wissenschaftliche Vorreiterrolle verlor, hab ich mich bislang nie beschäftigt, aber eigentlich finde ich sie interessant.

Nun meine Frage: Kennt einer von Euch eine kompakte und auch für Laien verständliche Übersicht über den Islam, bzw. die islamische Welt und ihr Verhältnis zur (Natur-) Wissenschaft, in welcher auch auf diese spezielle Frage (warum, bzw. wie die Führungsrolle irgendwann verloren ging) eingegangen wird? Schön wäre freilich eine frei im Web zugängliche Darstellung, aber gegebenenfalls werde ich mir auch mal wieder ein Buch zu Gemüte führen. Smilie

Die Frage, die ich mir immer mehr stelle, je mehr ich bei Inarah auch neuere Befunde zu diesem Thema lese, ob es diese Führungsrolle in dieser Form überhaupt je gegeben hat, oder ob etwa Avicenna so islamisch war wie Kant polnisch.

Das Märchen vom der andalusischen Toleranz

Wer hat den Koran geschrieben?

#75:  Autor: abbahallo BeitragVerfasst am: 12.06.2017, 15:23
    —
Die kulturelle Überlegenheit gegenüber den Kreuzfahrern hat es schon gegeben, die kulturelle Befruchtung durch die Rückkehrer mit ihrer Erfahrung ist nachweisbar. Man muß diese Überlegenheit allerdings nicht dem Islam andichten, sie hatten über einen längeren Zeitraum Gelegenheit die oströmische Antike zu beerben, als es den Vernichtern des Westreichs möglich war und hatten außerdem den Fernhandel über Indien, wobei auch so einiges kleben blieb. Eine Reflektion über Wissenschaft und Glaube gab es wohl im 13. Jahrhundert, die aber nur Episode blieb und im späteren osmanischen Reich folgenlos.

#76:  Autor: DonMartin BeitragVerfasst am: 12.06.2017, 15:39
    —
abbahallo hat folgendes geschrieben:
Die kulturelle Überlegenheit gegenüber den Kreuzfahrern hat es schon gegeben, ...

In diesem Zusammenhang frage ich mich, warum es trotz dieser angenommenen Überlegenheit 200 Jahre gedauert hat,
bis das angeblich zivilisiertere Morgenland die ungewaschenen Barbaren aus dem Abendland wieder losgeworden ist.

#77:  Autor: Marcellinus BeitragVerfasst am: 12.06.2017, 15:54
    —
DonMartin hat folgendes geschrieben:

In diesem Zusammenhang frage ich mich, warum es trotz dieser angenommenen Überlegenheit 200 Jahre gedauert hat,
bis das angeblich zivilisiertere Morgenland die ungewaschenen Barbaren aus dem Abendland wieder losgeworden ist.


Politische Uneinigkeit auf Seiten der Moslems und religiöser Fanatismus auf Seiten der Christen. Daß man damit eine Zeit lang erfolgreich sein kann, ist ja keine neue Erfahrung. Außerdem münzt sich kulturelle Überlegenheit nicht immer unmittelbar in militärische Erfolge um.

#78:  Autor: DonMartin BeitragVerfasst am: 12.06.2017, 16:14
    —
Marcellinus hat folgendes geschrieben:

Politische Uneinigkeit auf Seiten der Moslems und religiöser Fanatismus auf Seiten der Christen. Daß man damit eine Zeit lang erfolgreich sein kann, ist ja keine neue Erfahrung. Außerdem münzt sich kulturelle Überlegenheit nicht immer unmittelbar in militärische Erfolge um.

Also ich bezweifle mal, dass religiöser Fanatismus ausgereicht hat, die Kreuzfahrer in ihren paar Burgen davor zu bewahren,
von den umgebenden Moslems plattgemacht oder einfach ausgehungert zu werden.
Zumal der Nachschub aus dem Abendland eher prekaer war (die meisten Kreuzzuege erreichten meiner Erinnerung nach Palaestina gar nicht erst).
Mich beschleicht eher der Verdacht, dass Palaestina den Moslems vielleicht gar nicht so wichtig war.
Die Musik spielte doch eher in Bagdad, Damaskus oder Aegypten als in den paar tausend qkm Wuestenei am Mittelmeer.

#79:  Autor: abbahallo BeitragVerfasst am: 12.06.2017, 16:35
    —
So völlig egal war der Tempelberg den Muslimen nie, machtpolitisch gab Jerusalem zwar innenpolitisch nicht viel her, die Kreuzfahrer waren trotzdem nicht zu dulden, schon gar nicht, wenn sie sich da eine Basis einrichteten.
Nachweisen kann man den positiven Einfluß der zurückgekehrten Kreuzfahrer in Medizin und Heilkunde, in der Mathematik (auch wenn die Null aus Indien kam), im Benimm und der Hygiene und einigen Handwerkstechniken, die dann wieder der Astronomie aufhalfen. Außerdem kamen griechische Klassiker, die im Westen verloren waren, entweder über die Kreuzfahrer oder über Spanien wieder nach Europa.
Das Problem bei den Muslimen damals und auch heute besteht darin, dass sie nur in Ausnahmefällen einigermaßen geschlossen agieren.

#80:  Autor: NaastikaWohnort: an der Fütterungsstelle der Eichhörnchen BeitragVerfasst am: 12.06.2017, 17:03
    —
abbahallo hat folgendes geschrieben:

Das Problem bei den Muslimen damals und auch heute besteht darin, dass sie nur in Ausnahmefällen einigermaßen geschlossen agieren.


Und wesweg sollte das ein Problem sein?

#81: 2 Polen - drei Meinungen Autor: Religionskritik-WiesbadenWohnort: Wiesbaden BeitragVerfasst am: 12.06.2017, 17:18
    —
Naastika hat folgendes geschrieben:
abbahallo hat folgendes geschrieben:

Das Problem bei den Muslimen damals und auch heute besteht darin, dass sie nur in Ausnahmefällen einigermaßen geschlossen agieren.


Und wesweg sollte das ein Problem sein?


fragt die Polin, Lachen
Zitat:
Gdzie dwóch Polaków, tam trzy opinie.

Pfeifen

#82: Re: 2 Polen - drei Meinungen Autor: NaastikaWohnort: an der Fütterungsstelle der Eichhörnchen BeitragVerfasst am: 12.06.2017, 17:30
    —
Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:
Naastika hat folgendes geschrieben:
abbahallo hat folgendes geschrieben:

Das Problem bei den Muslimen damals und auch heute besteht darin, dass sie nur in Ausnahmefällen einigermaßen geschlossen agieren.


Und wesweg sollte das ein Problem sein?


fragt die Polin, Lachen
Zitat:
Gdzie dwóch Polaków, tam trzy opinie.

Pfeifen



Lässt sich ebenfalls von Juristen sagen (zwei Juristen, drei Meinungen).

Meine Frage war eher gewollt-destruktiv gemeint: Ist die fehlende Einigkeit der Muslime für den Rest der Welt nicht vom Vorteil?

#83: Re: 2 Polen - drei Meinungen Autor: Religionskritik-WiesbadenWohnort: Wiesbaden BeitragVerfasst am: 12.06.2017, 17:46
    —
Naastika hat folgendes geschrieben:
Religionskritik-Wiesbaden hat folgendes geschrieben:
Naastika hat folgendes geschrieben:
abbahallo hat folgendes geschrieben:

Das Problem bei den Muslimen damals und auch heute besteht darin, dass sie nur in Ausnahmefällen einigermaßen geschlossen agieren.


Und wesweg sollte das ein Problem sein?


fragt die Polin, Lachen
Zitat:
Gdzie dwóch Polaków, tam trzy opinie.

Pfeifen



Lässt sich ebenfalls von Juristen sagen (zwei Juristen, drei Meinungen).

Meine Frage war eher gewollt-destruktiv gemeint: Ist die fehlende Einigkeit der Muslime für den Rest der Welt nicht vom Vorteil?


schon verstanden, lag halt auf der Zunge.

Und jetzt ernst: Ja.

Das gilt aber für alle 'homogenen' Gruppen. Und beim Islam wie auch beim Christentum wissen wir ja - die sind in sich schon so heterogen -
das sie sich zum Glück durch innere Konflikte soweit schwächen,
das sie nur seltenst zu einer Bedrohung für Andersdenkende oder Andersseiende außerhalb ihrer unmittelbaren Einflusszone werden.

Ein arabischer Nationalismus und eine Einigungsbewegung unter den arabischen Völkern hätte wahrscheinlich weit fatalere Folgen für die Minderheiten in der Region -
insofern können wir froh,
und auch sie froh sein - das sie so uneins sind.

Gilt auch für die EU. Man stelle sich vor,
alle Europäer würden gleich denken und handeln - also ein europäischer Nationalismus würde entstehen - schön als Überwindung der bisherigen kleinen Nationalismen - aber sicherlich auch fatal im Umgang mit denen außerhalb Europas (oder der EU (Resteuropa, zwinkern )).



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