Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen |
Autor |
Nachricht |
Kramer postvisuell
Anmeldungsdatum: 01.08.2003 Beiträge: 30878
|
(#960361) Verfasst am: 22.03.2008, 03:32 Titel: "Wurzeln"- eine grundfalsche, aber beliebte Metapher |
|
|
Bei der Recherche zu einem Beitrag über Manfred Lütz bin ich vorhin mehrfach über die Metapher von "den eigenen Wurzeln" gestossen. Diese Metapher ist ja äusserst beliebt und wird in allen möglichen Zusammenhängen verwendet: "Man muss seine eigenen Wurzeln kennen", "Die Wurzeln des heutigen Europas liegen im Christentum", "Man muss sich erst mit den eigenen Wurzeln beschäftigen, um den Standpunkt anderer verstehen/kriitisieren/zurückweisen zu können" usw.
Das klingt so schön gelehrt, aber auch gleichzeitig bodenständig. Aber ist das - bezogen auf uns Menschen und unsere Kultur - nicht die schiefste aller möglichen Metaphern?
Das Erste, das mir zum Bild "Wurzel" einfällt, ist ein Baum, der fest verwurzelt an dem Punkt steht, an dem er steht und immer stehen wird. Hätte er ein Bewusstsein, würde er die Welt von diesem Punkt aus betrachten. Der Punkt, an dem er verwurzelt ist, wäre tatächlich und im metaphorischen Sinn sein Standpunkt - und es gäbe für ihn keine Möglichkeit, diesen Standpunkt zu ändern. Und für für all diejenigen, die ihm und seinem Erleben am nächsten stehen - seinen Artgenossen - würde das Gleiche gelten. Die Erfahrung des tatsächlich "Verwurzelten" wäre, die Welt von einem einzigen, unveränderlichen Standpunkt aus zu betrachten, der notwendigerweise den unveränderlichen Mittelpunkt jeglicher Erfahrung darstellt - darstellen muss. Und das soll eine passende Metapher für eine gutes Verhältnis des Menschen zu den Ursprüngen seiner Kultur sein?
Ausserdem ist es ja nicht so, dass ein Baum als kleiner Setzling auf die Welt kommt und sofort über ein riesiges Wurzelwerk verfügt. Die Wurzeln wachsen in den Boden, während der Baum in die Höhe wächst. Sie sind nicht Symbol seiner grossartigen Vergangenheit, sondern nur seine Methode, sich zu ernähren. Der Preis dieser etwas altmodischen Ernährungsweise ist, dass der Baum nicht mobil ist. Er kann nicht umziehen, wenn der Boden auf dem er steht, keine Nährstoffe mehr liefert oder austrocknet. Das mag für Bäume eine ausreichende Existenzgrundlage sein, aber als Metapher für unser Verhältnis zu unserer Kultur ist das doch mehr als nur eine Katastrophe. Da wird ein Prozess, der wesentlich von der Bewegung bestimmt ist, von der rein physikalischen ebenso wie der psychologischen, der vom Austausch von Ideen lebt, den auf dem Globus herumwandernde Lebenwesen in einer langen Geschichte des Herumwanderns entwickelt haben, auf das Bild einer starr in die Erde verwurzelten Pflanze reduziert.
_________________ Dieser Beitrag verwendet Cookies, um Dein Surferlebnis zu verbessern.
|
|
Nach oben |
|
 |
Agnost dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 12.11.2006 Beiträge: 5618
|
(#960469) Verfasst am: 22.03.2008, 10:45 Titel: |
|
|
Es ist ja interessant, das auch ein anderes Wort von Bedeutung im politischen Diskurs:
Radikal > Radikale > Radikalismus
mit dem Bild der Wurzel spielt.
Hier soll das Uebel an der Wurzel bekämpft werden.
@Kramer,
Es gibt "Wörter und Symbole" deren Gebrauch einem total gegen den Strich gehen, man geht dann hin und schreibt so kluge Texte wie du jetzt (und ich find ihn gut deinen Text), es gibt auch Zustimmung, sie wächst auch aber plötzlich reden sogar die besten Freunde, die dich sogar massiv unterstützten plötzlich wieder im "Oldspeak".
Gott was sind wir in den späten 70er und 80ern gegen die E-Musik/U-Musik Terminologie angerannt, haben bewiesen, wie doof sie ist.
Und was muss ich erleben: Der Typ, der mich damals überzeugt hat, den höre ich doch 5-6 Jahre später wieder von E- und U-Musik reden.
Und weisst du was: Er fand es selber doof, er habe einfach resigniert.
Ich glaube, wenn du nicht radikalst die Roots der Wurzeln ausreisst, werden die Wurzelgleichnisse nicht auszurotten sein.
Nun musst du dich fragen: Wie radikal will ich den Roots and Wurzeln?
Agnost
|
|
Nach oben |
|
 |
zelig Kultürlich
Anmeldungsdatum: 31.03.2004 Beiträge: 25405
|
(#960527) Verfasst am: 22.03.2008, 12:55 Titel: |
|
|
Mir gefällt die Wurzel-Metapher eigentlich ganz gut. Man muss sie nur richtig anbringen. Zwar ragen wir in den (keine Angst: irdischen) Himmel, sind aber dennoch verwurzelt. Das ist eine schöne Metapher für unser Dasein. Nebenbei gibt es Lebenswege, die Beispiele für die kulturelle Verwurzelung von Menschen darstellen. Man schaue sich nur mal den Lebensweg vieler Exil-Dichter an, wie sie unter ihrer (kulturellen) Entwurzelung leiden mussten, weil ihnen das sprachliche Umfeld weggenommen wurde. Von daher: Manchmal passt die Metapher schon.
_________________ Es gibt kein richtiges Leben im falschen.
|
|
Nach oben |
|
 |
Reza dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 10.09.2006 Beiträge: 4188
|
(#960541) Verfasst am: 22.03.2008, 13:30 Titel: Re: "Wurzeln"- eine grundfalsche, aber beliebte Metapher |
|
|
Kramer hat folgendes geschrieben: | auf das Bild einer starr in die Erde verwurzelten Pflanze reduziert. |
So starr muss man das nicht sehen.
Der Baum selber bewegt sich ja immerhin in der Vertikalen, je nachdem wird er auch voluminöser,
Die Wurzeln bewegen sich vertikal und horizontal, die Frage ist nur wie weit.
Flachwurzler können erstaunliche Flächen einnehmen, und Tiefwurzler gehen metertief in die Erde.
Baum und Baum ist auch nicht das Gleiche.
Der Baum selber verändert zwar seinen Standort über der Erde nicht, aber seinen Horizont/ Überblick verändert er eigentlich dauernd.
Was er sieht, das verändert sich auch, je nach dem, periodisch, langsam, schnell.
Er könnte sogar sehen, wie er sich selbst periodisch verändert, sofern Laubbaum, und Kumpels um sich rum.
Er könnte auch erkennen, dass er selber größer wird, selbst wenn er keine Kumpels der eigenen Art um sich hat.
Umziehen kann er nicht der Baum, aber seine "Kinder" kann er ganz schön weit rumkommen lassen, mit Hilfe ausgefeilter Mechanismen und anderen Mitbewohnern der Region.
Was der Baum aus alledem was er sehen/fühlen könnte, wenn er könnte, schließen würde, das wissen wir nicht, er sagt es uns nur indirekt.
Er mickert, er treibt wie wild, er kriegt Nottriebe............
So starr jedenfalls, wie du das beschreibst, muss man einen Baum nicht sehen.
|
|
Nach oben |
|
 |
I.R auf eigenen Wunsch deaktiviert
Anmeldungsdatum: 08.10.2006 Beiträge: 9142
|
(#960560) Verfasst am: 22.03.2008, 14:06 Titel: Re: "Wurzeln"- eine grundfalsche, aber beliebte Metapher |
|
|
Reza hat folgendes geschrieben: | Umziehen kann er nicht der Baum, aber seine "Kinder" kann er ganz schön weit rumkommen lassen, mit Hilfe ausgefeilter Mechanismen und anderen Mitbewohnern der Region. |
Unter "rumkommen lassen" würde ich aber etwas anderes verstehen als die schlichte Tatsache, dass das Samenkorn etwas weiter weg hingekackt wird. (um nur einen der ausgefeilten Mechanismen zu würdigen) Vom Moment der Keimung an, von dem Moment also, welcher aus dem Samen ein "Kind" werden lässt, wird dieses nicht mehr "herumkommen"
Ich finde Kramers Ausführungen sowohl treffend als auch gedanklich anregend. Gerade weil ich meinen Wohnort mehrfach gravierend gewechselt habe, bin ich mir des Wertes der Ortsveränderung im Gegensatz zur geistigen und körperlichen Verwurzelung, welche ich als tiefsitzende Provinzialität immer wieder zu bemerken nicht umhin komme, sehr angenehm bewusst.
|
|
Nach oben |
|
 |
Reza dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 10.09.2006 Beiträge: 4188
|
(#960580) Verfasst am: 22.03.2008, 14:33 Titel: Re: "Wurzeln"- eine grundfalsche, aber beliebte Metapher |
|
|
I.R hat folgendes geschrieben: |
Ich finde Kramers Ausführungen sowohl treffend als auch gedanklich anregend. Gerade weil ich meinen Wohnort mehrfach gravierend gewechselt habe, bin ich mir des Wertes der Ortsveränderung im Gegensatz zur geistigen und körperlichen Verwurzelung, welche ich als tiefsitzende Provinzialität immer wieder zu bemerken nicht umhin komme, sehr angenehm bewusst. |
Ich habe meinen Wohnort auch gravierend mehrfach gewechselt. Ich kann aber nicht allen, die am selben Ort geblieben sind eine "tiefsitzende Provinzialität" unterstellen.
Nur die Wohnorte zu wechseln, das muss überhaupt nichts bewirken, und nur dableiben auch nicht.
Da gehört da oder dort, dann schon etwas mehr dazu, die Sicht auf die Welt zu verändern.
Es gibt Leute, die nehmen sich nicht nur überall mit hin, das sowieso, sondern die bleiben auch die selben.
Z.B. Kokosnüsse kommen übers Meer aber wirklich sehr weit rum, und 5m weiter ausgekackt ist beileibe nicht die einzige Methode.
Davon abgesehen, ich habe nicht gesagt, dass man einen Baum nicht als starres System begreifen kann/darf, ich muss aber nicht?
|
|
Nach oben |
|
 |
I.R auf eigenen Wunsch deaktiviert
Anmeldungsdatum: 08.10.2006 Beiträge: 9142
|
(#960605) Verfasst am: 22.03.2008, 15:12 Titel: Re: "Wurzeln"- eine grundfalsche, aber beliebte Metapher |
|
|
Reza hat folgendes geschrieben: | I.R hat folgendes geschrieben: |
Ich finde Kramers Ausführungen sowohl treffend als auch gedanklich anregend. Gerade weil ich meinen Wohnort mehrfach gravierend gewechselt habe, bin ich mir des Wertes der Ortsveränderung im Gegensatz zur geistigen und körperlichen Verwurzelung, welche ich als tiefsitzende Provinzialität immer wieder zu bemerken nicht umhin komme, sehr angenehm bewusst. |
Ich habe meinen Wohnort auch gravierend mehrfach gewechselt. Ich kann aber nicht allen, die am selben Ort geblieben sind eine "tiefsitzende Provinzialität" unterstellen.
Nur die Wohnorte zu wechseln, das muss überhaupt nichts bewirken, und nur dableiben auch nicht. |
Weder schrieb ich von ALLEN noch habe ich eine allgültige Gesetzmässigkeit begründet. Nichtsdestotrotz ist Bodenständigkeit eine schlechte Voraussetzung, um Weltläufigkeit zu erlangen, ebensowenig wie sich ausserhalb der eigenen Provinz die eigene Provinzialität lange erfolgreich aufrechterhalten lässt.
Reza hat folgendes geschrieben: | Da gehört da oder dort, dann schon etwas mehr dazu, die Sicht auf die Welt zu verändern.
Es gibt Leute, die nehmen sich nicht nur überall mit hin, das sowieso, sondern die bleiben auch die selben. |
Sicher. Beides gibt es. Ist aber, wie oben beschrieben, eher die Ausnahme. Wer über's Meer segelt, glaubt eben nicht mehr daran, von der Erdenscheibe zu kippen.
Reza hat folgendes geschrieben: | Z.B. Kokosnüsse kommen übers Meer aber wirklich sehr weit rum, und 5m weiter ausgekackt ist beileibe nicht die einzige Methode. |
Richtig, Kokosnüsse. Kokospalmen, auch junge, frischgeschlüpfte, seltener. Eichen vielleicht eher, so als Schiffsplanken. Und Vögel kacken, im Gegensatz zum Menschen, nicht unbedingt immer 5m vom Ort der Nahrungsaufnahme entfernt.
Reza hat folgendes geschrieben: | Davon abgesehen, ich habe nicht gesagt, dass man einen Baum nicht als starres System begreifen kann/darf, ich muss aber nicht? |
Müssen müssen weder Du noch ich. Drüber reden dürfen wir doch aber beide dürfen, oder?
|
|
Nach oben |
|
 |
Peter H. dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 24.06.2007 Beiträge: 9751
|
(#960643) Verfasst am: 22.03.2008, 16:03 Titel: |
|
|
Der Begriff Wurzeln ist durchaus angebracht, nämlich dann, wenn es um die eigene Identität sowie damit zusammenhängend um das psychosoziale Verhalten, Denken, Empfinden geht.
|
|
Nach oben |
|
 |
Shadaik evolviert
Anmeldungsdatum: 17.07.2003 Beiträge: 26377
Wohnort: MG
|
(#960646) Verfasst am: 22.03.2008, 16:06 Titel: |
|
|
das lustige an den Wurzeln ist ja, dass die Leute, wenn sie davon reden immer etwas meinen, was definitiv nicht ihr eigener Hintergrund, also ihre eigenen Wurzeln sind.
Oder sollten Menschen sich selbst als so eine Art parasitischer Pilze verstehen, die auf fremden Wurzeln aufsitzen?
_________________ Fische schwimmen nur in zwei Situationen mit dem Strom: Auf der Flucht und im Tode
|
|
Nach oben |
|
 |
Reza dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 10.09.2006 Beiträge: 4188
|
(#960672) Verfasst am: 22.03.2008, 16:35 Titel: Re: "Wurzeln"- eine grundfalsche, aber beliebte Metapher |
|
|
I.R hat folgendes geschrieben: |
Weder schrieb ich von ALLEN noch habe ich eine allgültige Gesetzmässigkeit begründet. Nichtsdestotrotz ist Bodenständigkeit eine schlechte Voraussetzung, um Weltläufigkeit zu erlangen, ebensowenig wie sich ausserhalb der eigenen Provinz die eigene Provinzialität lange erfolgreich aufrechterhalten lässt. |
Du schreibst nicht von ALLEN, siehst es aber doch prinzipiell
Dem genau widerspreche ich.
Nur, dass der Mensch so prinzipiell gar nicht so weit wandernd ist, wie Kramer das sieht, als einzelner Mensch oder Clan nun auch nicht war , schon gar nicht in der Frühzeit.
Die Ausbreitung der Menschheit erfolgte eben hauptsächlich über Generationen, in räumlich relativ kleinen Intervallen, in größeren Mengen und Strecken erst viel später, und vermutlich nicht so häufig nur aus Spass an der Freude, sondern weil es eben sein musste, sich die Lebensbedingungen verschlechtert hatten, mehr Leute, Klimaveränderungen etc.
Also nicht Tourismus als Strategie, sondern wie auch immer geartetes Müssen.
Das ist ja auch heute noch so, die, die Reisen, kehren irgendwann "heim", Auswanderer gehen meistens nicht nur aus Lust an Neuem. Und können auch ganz und gar starr in alten Gewohnheiten bleiben (wollen), wenn sie es mehr als "Müssen" begreifen, denn als Chance auf "Neues", und dann hängt es ja auch sehr davon ab, wie es dann im Neuen ist, bzw. was man draus machen kann.
Ich behaupte also, es hängt wesentlich davon ab, inwieweit der Mensch schon bevor er wandert, wenigstens bereit ist, im Wandern etwas grundsätzlich Positives zu sehen.
I.R hat folgendes geschrieben: | Sicher. Beides gibt es. Ist aber, wie oben beschrieben, eher die Ausnahme. Wer über's Meer segelt, glaubt eben nicht mehr daran, von der Erdenscheibe zu kippen.. |
Einige haben bevor sie losgesegelt sind schon nicht dran geglaubt, sonst hätten sie gar nicht erst versucht, bestimmte Passagen zu finden.
I.R hat folgendes geschrieben: | Drüber reden dürfen wir doch aber beide dürfen, oder? |
Da wir doch beide so tolerant sind - aber sicher.
|
|
Nach oben |
|
 |
Agnost dauerhaft gesperrt
Anmeldungsdatum: 12.11.2006 Beiträge: 5618
|
(#960681) Verfasst am: 22.03.2008, 16:43 Titel: |
|
|
Nun in nomadischen und halbnomadischen Zeiten wurde der Stammesmittelpunkt relativ oft und schnell verschoben.
Siehe die Wanderung der "Westgoten".
Die männlichen Kinder der Schweizer, für die es keinen Hof zu erben gab, kamen als Söldner in ganz Europa rum und um.
Wurzeln schlagen zu können, war also ein Privileg der erbberechtigten Kinder.
Daher wollten ja die Radikaldemokraten, die Privilegien dieser "Patrizier" an der Wurzel ausreissen.
Agnost
|
|
Nach oben |
|
 |
|